Was fasziniert Sie am Beruf der Architektin?
Ich habe Innenarchitektur und Ausstellungsdesign studiert. Planzeichnen und Entwerfen von Räumen hat mich dabei nie so fasziniert wie das Wo und Wie. Ich verstehe nicht, warum die selbstverständlichsten Grundbedürfnisse, denen Bauten entsprechen sollten, von uns Architekt:innen oft so vernachlässigt werden. Deren Erfüllung müsste im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen. Diese Überzeugung leitet mich.
Sie leben seit 2011 in Peru. Was hat Sie dazu bewogen, sich dort niederzulassen?
Mit 25 bin ich als Studentin das erste Mal ins Ausland gereist, und habe in Barcelona in einem Architekturbüro ein Praktikum absolviert. Nach meinem Studienabschluss 2011, wollte ich mit der Architektur pausieren und bewarb mich beim italienischen Zivildienst für eine Stelle als Lehrerin an einer Schule in Peru, weil ich das Land kennenlernen wollte. Obwohl ich keine Erfahrung vorweisen konnte, wurde ich ausgewählt. Als ich dann an meinem Bestimmungsort in Huaycan, einem Vorort von Lima ankam, gab es die Schule, an der ich arbeiten sollte, gar nicht.
Und wie sind Sie mit dieser Situation umgegangen?
Die italienische Ordensschwester, die die Organisation Solidaridad y Esperanza Anna Margottini, der ich zugeteilt war, seit fast 30 Jahren leitete, meinte nur: „Du bist Architektin, wir haben ein Stück Land, es gibt eine Gemeinde, lass uns dort diese Schule bauen!“ Ein strikter Mechanismus von Planung, Ausführung und Nutzung wie in Europa existiert in Peru nicht. Häuser, Kindergärten, Schulen oder kommunale Bauten außerhalb der großen Agglomerationen werden meist in Eigeninitiative von den Einwohnern gemeinschaftlich in kooperativen, selbstverwalteten Prozessen errichtet, geleitet von den jeweiligen dringlichsten Notwendigkeiten. Das wird auch politisch akzeptiert. So war es auch dort für niemanden außergewöhnlich, dass ich einer Schule zugeteilt war, die noch gar nicht existierte. Mir blieb nichts anderes übrig, als ins kalte Wasser zu springen.
Und Sie sahen darin eine besondere Herausforderung und haben sich nicht entmutigen lassen.
Ich musste die Finanzen verwalten und zusätzliche Gelder sammeln, um den Bau überhaupt finanzieren zu können. Ständig verschwand etwa Baumaterial. Trotz aller Widrigkeiten und mit sehr begrenzten Mitteln bauten wir in fünf Monaten diese kleine Schule, die heute mehr als 40 Kinder aus den Außenbezirken von Lima besuchen. Auch einige Monate in der Schule zu arbeiten, war eine wunderbare Erfahrung. All das hat mein Leben verändert.
Ich wollte dieses Land mit seinem unglaublichen kulturellen Reichtum unbedingt besser kennenlernen, und blieb daher noch ein Jahr in einem Architekturbüro in Lima, in dem ich viel über die Arbeitsweise des Landes lernte. Ein Freund, der damals in Peru arbeitete, lud mich und drei Kollegen ein, im Rahmen eines Förderprogramms gemeinsam eine Schule im Regenwald des Amazonas zu errichten. Als einer von uns die Baustelle beaufsichtigen sollte, habe ich das gerne übernommen – und ich blieb sieben Jahre im Regenwald.
Wieso wurden es sieben Jahre?
Die indigenen Völker haben über Jahrhunderte so viel Diskriminierung erlebt, zuletzt auch Ungerechtigkeiten durch die lokale Politik, dass sie allen misstrauen. Dann tauchte ich dort auf – Weiß, Ausländerin und Frau. Zu Beginn hatte ich weder Telefon noch Internet, ich musste eine Stunde schwimmen, um meinen Eltern ein Lebenszeichen per Mail schicken zu können. Die Kinder bewarfen mich mit Steinen und Müll, sie berührten mich als wäre ich eine Außerirdische. Auf mich allein gestellt, waren die ersten drei Jahre hart. Erst als der Schulbau langsam Form annahm, begann man endlich, mich zu akzeptieren.
Wie haben Sie diese Herausforderungen ohne praktische Erfahrung gemeistert?
Im Architekturstudium habe ich gelernt, zu recherchieren, zu beobachten und zuzuhören. Als ich nach Peru kam, wusste ich nichts von lokalen Bauweisen und Gegebenheiten. Gebäude in der Peripherie der südamerikanischen Großstädte werden von den Bewohnern selbst errichtet, ohne Architekten, gemeinschaftlich für einen gemeinsamen Zweck. Die Menschen, die im Urwald oder in den ruralen Hochebenen leben, sind gewohnt selbst Hand anzulegen. Nicht nur das fertige Bauwerk, auch der Entstehungsprozess dieser Räume ist Ausdruck ihrer Identität. Ich habe mich einfach Schritt für Schritt auf diese für mich neue Situation und auf die Menschen eingelassen.
Sie beschlossen also zu bleiben und gründeten 2014 Ihr eigenes Büro Semillas.
Für mich gab es keinen Weg zurück. Semillas ist kein herkömmliches Architekturbüro. Als NGO haben wir ein kleines Team an ständigen Mitarbeiter:innen und werden etwa von Zivildienst-Initiativen des italienischen Staates, internationalen Organisationen oder zahlreichen Einzelpersonen wie zurzeit von rund 35 Architekt:innen weltweit temporär unterstützt. Aber ohne meine engagierten Mitarbeiter:innen und die Freiwilligen aus den Sozialprojekten wäre unsere Arbeit nicht umsetzbar. Semillas bedeutet „Samen“. Das steht für unsere Haltung, gemeinsam mit der indigenen Bevölkerung, eine veränderte soziale Realität anzustoßen.
2023 wurden Sie mit dem ersten Divia Award – einem Preis für Diversität in der Architektur – ausgezeichnet. Die Jury war beeindruckt von der Beständigkeit ihrer architektonischen Leistungen, die die besondere lokale Kultur Perus widerspiegeln. Hervorgehoben wurde Ihr Einsatz, in unterversorgten Gebieten Gebäude zu schaffen, die den dynamischen Bedürfnissen der im Regenwald lebenden Gemeinschaften folgen. Zu Recht wurden Ihr humanistischer Ansatz sowie Ihre mutige Haltung, mit der Sie in Ihrer Wahlheimat Bauwerke realisieren, gewürdigt. Finden Sie sich selbst in diesem Preis wieder?
Ja, durchaus. An dieser Stelle kommt auch meine persönliche Diversität zum Tragen: Ich bin Italienerin von Geburt, Peruanerin von Herzen. Hier habe ich die letzten 12 Jahre gelebt. Diverse Lebensweisen und Welten erleben zu dürfen, hat mein Herz geöffnet. Diversität heißt in Peru aber auch sozialer Missbrauch, Rassismus, Diskriminierung, Kolonialismus und Machtmissbrauch. Viele Kulturen sind immer noch unsichtbar und unbekannt. Ich freue mich, dass es einen Preis gibt, der diese Realitäten wahrnimmt und unser Engagement, mit dem wir in einem diversen Umfeld agieren und gegen Ungerechtigkeit ankämpfen, anerkennt. Dieser Preis gehört aber nicht mir allein, sondern Semillas und all jenen, die sich mit mir gemeinsam hier engagieren.
Sie haben sich einer diffizilen und komplexen Aufgabe verschrieben.
Unser Ziel ist es, einem Territorium, das ignoriert wird, zur Sichtbarkeit zu verhelfen. Mit Bürostandorten in Pangoa, Lima und San Ignacio, besteht Semillas aus einem fixen Frauenteam aus Architektinnen, die als Projektkoordinatorinnen an den drei Standorten tätig sind, unterstützt von jeweils einer weiteren Architektin. Am schwierigsten ist es, unsere Arbeit nachhaltig finanziell zu sichern und ein interdisziplinäres Team kontinuierlich sicherzustellen.
Welche Aufgaben möchte Semillas erfüllen?
Wir konzipieren Architektur nicht nur in Form von physischem Raum, sondern sehen sie als Symbol für Chancengleichheit. Schließlich geht es um die Rettung jahrtausendealten Wissens, um dessen Aufwertung und Weiterbestand. Es gilt den sozialen Lebensraum zu erhalten. In vielen Regionen sind Schulen die einzige öffentliche Infrastruktur für die Bevölkerung. Sie werden etwa als gemeinschaftliche Mensa genutzt oder für Veranstaltungen. Schulen müssen daher multifunktionale Bauten sein.
Sie bauen an entlegenen Orten des Regenwalds und engagieren sich für die Rechte benachteiligter Gruppen in der Bevölkerung.
Unterdrückte Gruppierungen kämpfen für ihre Meinungsfreiheit und ihre Grundrechte. Wenn wir eine bessere Gesellschaft wollen, brauchen wir Bürger, die Zugang zu Bildung, Gesundheit und öffentlicher Infrastruktur haben. Leider überlassen der Staat und die lokale Politik die indigene Bevölkerung sich selbst. Geburten werden im Dschungel oft nicht einmal registriert. So geschieht es, dass eine Schule für 20 Kinder errichtet wird, die plötzlich 120 Kinder besuchen. Dann wird real sichtbar, wie viele Kinder wirklich in manchen Regionen leben und manchmal sind sogar öffentliche Gelder die Folge. Semillas recherchiert die Umstände und Notwendigkeiten in der Region für Schulbauten, macht Statistiken, Konzepte, eine grobe Projektplanung – danach suchen wir eine Finanzierung.
Wie bestimmt diese diffizile Situation Ihre Arbeitsweise?
Peru ist ein multikulturelles und diverses Land. Es gibt drei Regionen, die Küste, die Berge und den Regenwald und 48 native Sprachen, sowie unterschiedliche indigene Völker mit eigenen Bräuchen und Denkweisen. Die Diversität dieses Landes hat großes Potenzial, führt aber gleichzeitig zu Problemen. Noch heute sind die Wunden der Kolonialzeiten spürbar. Die Regierung versucht das Land politisch zu einen, vergisst dabei aber die Berücksichtigung der eigenen Identitäten, was sich letztlich etwa in der Architektur durch unreflektierte Übernahme westlicher Stilformen zeigt. Es ist wichtig, sich mit dem Ort und der Lebensweise der Menschen vertraut zu machen, bevor man zu bauen beginnt. Semillas arbeitet mit einem partizipativen Ansatz, der auf Dialog basiert.
Noch immer dominieren also wirtschaftlicher Gewinn und Ausbeutung?
Die Hegemonie der Macht hat das historische Erbe jahrtausendealter, wissensreicher Urvölker vernichtet und tiefe Wunden sichtbar gemacht. Heute zahlen wir für die Folgen. Das Amazonasgebiet ist die Lunge der Welt und bedeckt 61 Prozent der Fläche Perus. Die Problematik der globalen Ressourcenknappheit betrifft uns alle. Wir Architekt:innen haben eine soziale und ethische Verantwortung. So versucht Semillas auch den Einsatz von lokalen und nachhaltigen, ökologischen, nachwachsenden Baumaterialien – wie Holz oder Bambus – zu fördern. Auch wenn etwa im Bildungsbau in Peru der Einsatz von Holz verboten ist, gibt es einen kurzen unscheinbaren Zusatz im Gesetzestext in Form einer Ausnahme, für dessen Nutzung in ländlichen Gebieten. Das machen wir uns zunutze, um mit Holz bauen zu können und machen diesen Baustoff publik.
Waren Sie bei all diesen Schwierigkeiten, nie entmutigt und wollten nach Italien zurück?
Die ersten Jahre waren sehr schwierig, auch weil das Land nicht gerade eines der sichersten ist. Aber es ist das schönste Land der Erde. Und aus Semillas schöpfe ich all meine Kraft. Wir wollen eine ökologische qualitativ hochwertige, partizipative und kooperative Architektur schaffen, im Respekt mit der Umwelt – mit pädagogischer, architektonisch erzieherischer Kraft. Diese Herausforderung sehe ich als meine Mission – Grund genug, hier zu bleiben und weiterzumachen.
Wie würden Sie Ihre Mission, deren Erfüllung Sie sich in Peru zur Aufgabe gemacht haben, beschreiben?
Semillas setzt sich im Bereich der öffentlichen Projekte für die Menschenrechte ein, vor allem für den Zugang zur Bildung. Bildung bedeutet Freiheit und ist die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Daher ist die Errichtung von Bildungsbauten so wichtig. Der italienische Pädagoge, Journalist und Kinderbuchautor Gianni Rodari (1920-1980) hat das etwa in seinem theoretischen Werk „Grammatik der Phantasie“ gut auf den Punkt gebracht: „Alle Gebrauchsmöglichkeiten des Wortes allen zugänglich zu machen – das erscheint mir ein gutes Motto mit gutem demokratischem Klang. Nicht, damit alle Künstler werden, sondern damit niemand Sklave sei.“ Wir sehen in der Architektur von Bildungsbauten aus ethischer Sicht eine Möglichkeit, die Integration voranzutreiben.
Wir sind überzeugt von der Kraft der Architektur als kooperativer Prozess. Dieses Land und seine reiche Diversität haben unsere Arbeit beflügelt. Seit 2014 haben wir 12 Schulen geplant und errichtet, zwei Studentenheime und zwei kommunale Gebäude. Irgendwie suchen wir wohl alle unsere Erfüllung im Leben, gegen alle Widerstände. In Peru habe ich die meine gefunden.