Die Parabel von der Demokratie
„Für die menschliche Sprache ist es charakteristisch, daß sie sich gegen die Rangordnung durchsetzt […]. Das Widerwort war vielleicht wichtiger als das Wort. […] Nimmt man aber […] an, daß die Funktion aller Kommunikation weniger die Information als vielmehr die Manipulation ist, dann liegt auch in jedem kommunikativen Akt potentiell die Auflösung strikter Rangverhältnisse.“ (Volker Heeschen, Humanethologische Aspekte der Sprachevolution. In: Joachim Gessinger/Wolfert von Rahden, Theorien vom Ursprung der Sprache. Berlin 1988. Bd. 2. S. 209.)
Die Geschichte der Menschheit beginnt paradoxerweise mit dem Übertreten eines Verbots. Wir haben eine Grenze überschritten, von der wir bis dahin nichts wussten, wir haben ein Paradies verloren, um Bewusstsein zu erlangen, wir haben auf die Schlange gehört. Das ist die Freiheit. Das Überschreiten der Grenze war der bewusste Vorgang, der Fortschritt, sich einem Verbot, sich seiner eigenen Natur zu widersetzen. Im Übergang zum Erkennen, zur Reflexion wird das Wort ein Richtendes, ein Urteil. Es wird moralisch. Es wird Kultur. Um ein Verbot zu überschreiten, um dem Gesetz zu widersprechen, bedarf es jedoch bereits der Konventionen, der kulturellen Vereinbarungen. Es liegt in der Natur des Menschen (d.h. Kultur), nein zu sagen, sich auch gegen Vereinbarungen auszusprechen, sich der Natur zu widersetzen. Darin liegt die Erkenntnis im Zeichen. Das Überschreiten dieser Grenze ist die Entkoppelung aus der Natur. Im Anfang war (zugleich) das Widerwort. Und das Widerwort war beim Menschen und der Mensch war das Widerwort.
Seit im Frühjahr 1848 ein revolutionärer Schauer über Europa hereinbrach, der die Macht des Volkes stärken und den Feudalismus überwinden sollte, ist viel Blut im Namen der Demokratie und einer egalitären Gesellschaft geflossen. Es ist erst gut einhundert Jahre her, seit wir (die Männer früher als die Frauen) wählen oder straffrei im Besitz von revolutionärer Literatur sein durften und die besitzende Klasse (der Adel) sich nicht in Wahlentscheidungen einkaufen konnte. 100 Jahre nach der Märzrevolution und der Überwindung von Faschismus und Nationalsozialismus konnte die Demokratie endlich Blüten treiben und die Bevölkerung bekam Anteil an den Früchten ihrer Arbeit. Auch das Krankenversicherungssystem und das Arbeitsamt sind vor- bzw. zwischenkriegszeitliche Errungenschaften, die im Zuge des Wohlfahrtsstaats in der Nachkriegszeit ausgebaut wurden. Neben der Gleichberechtigung(sfrage), dem freien Zugang zu Bildung und der öffentlichen Meinung (der Presse- und Meinungsfreiheit) sind dies wohl die großen Errungenschaften des demokratischen Systems. Bis in die 80-er Jahre des vorigen Jahrhunderts konnten sich so auch die Klassen der Arbeitenden einen gewissen Wohlstand aufbauen und in den Genuss von Besitz gelangen, zumal die (Um-)Verteilung des nationalen Wohlstands ein Anliegen des Staates war. So konnte sich eine breite Bildungs- und Mittelschicht etablieren, die durch ihre Kaufkraft zum zentralen Motor für die Wirtschaft wurde. „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut“ wie es die WKO bezeichnenderweise formuliert – und aus einer argumentativ zu überzeugenden potenziellen Wählerschaft wird eine durch Manipulation der individuellen Bedürfnisse zu steuernde Konsumschar. Denn – so weiter – „Sichere Arbeitsplätze kommen von erfolgreichen Unternehmen.“ Aber was heißt es, ein erfolgreiches Unternehmen zu sein?
Ein am globalen Markt erfolgreiches Unternehmen zeichnet sich durch permanente Effizienzsteigerung und Gewinnoptimierung aus, die durch die bestmögliche Ressourcennutzung und möglichst geringe Lohnkosten sowie Gewinn- und Unternehmenssteuern erzielt werden. Dabei steht hinter jedem erfolgreichen Unternehmen eine starke Lobby, die – wenn notwendig unter Androhung eines Produktionsortwechsels – Einfluss auf Regierung und Gesetzeslage zu nehmen vermag. Zudem steht ihm eine profunde Meinungs-, Marktforschungs- und Marketingmaschinerie zur Seite, die über die Konsumbedürfnisse und das Kaufverhalten der Menschen informiert. Der Einfluss in den Bereich der Medien dient schließlich der Steuerung und Manipulation von Bedürfnissen, wobei diese Einflussnahme nicht ausschließlich auf Werbung beruht, sie betrifft auch die Manipulation und Unterdrückung von Informationen. An genau diesem Punkt zeichnet sich das Dilemma der Demokratie und der Politik ab. Nachdem der die Weltwirtschaftspolitik bestimmende Keynesianismus, in dem die Nachfrage die Produktion von Gütern und Dienstleistungen – und somit die Beschäftigung – steuert (und nicht umgekehrt) und der Staat wirtschaftliche Schwankungen abfedert, in den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts abflaute, zog sich der Staat schrittweise als wirtschaftliches Regulativ zurück und die Wirtschaft schaffte ihre eigenen Regeln, nach denen der Staat sich zu richten hatte. Spätestens nach dem Börsensturz 2008 hätte der Staat als Institution zum Schutz der gesellschaftlichen Bedürfnisse sich auf das Regieren, auf das Festsetzen von Regeln und wirtschaftlichen Reglementierungen zurückbesinnen müssen, anstatt nur zu reagieren, Banken zu stützen, die zuerst die Krise verursachten und danach durch die staatlichen Finanzspritzen Staatsanleihen vergeben und infolgedessen Renditen an ihre Aktionäre ausschütten konnten. Doch allem Anschein nach haben sich Staaten und Regierende bereits zu tief in die wirtschaftlichen Machenschaften verstrickt und ihr Verständnis vom Staat ist das eines erfolgreichen Unternehmens, das auf Gewinnoptimierung für CEOs und Investoren basiert. Die Trennlinie zwischen Staat und wirtschaftlichen Interessen wurde aufgehoben.
Der britische Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch bezeichnet diesen Zustand als Postdemokratie und beschreibt den demokratischen Entwicklungsprozess anhand der geometrischen Figur der Parabel, wobei der Scheitelpunkt die Blüte der Demokratie von den 50-er bis in die 80-er Jahre des 20. Jahrhunderts darstellt, an dem unabhängige Medien interessierte Bürger und Bürgerinnen qualitativ und inhaltlich anspruchsvoll über politische Vorgänge informierten und staatliche Institutionen sich noch am Gemeinwohl orientierten. Heute befinden wir uns am absteigenden Parabelast, was keine Rückentwicklung in feudalistische Strukturen, sondern eine (zeitliche) Weiterentwicklung und Transformation solcher Strukturen bedeutet. Diese Entwicklung wird durch die Verquickung von wirtschaftlichen und politischen Belangen, den vermehrten Einfluss wirtschaftlicher Eliten auf politische Entscheidungen, die Auslagerung öffentlicher Sektoren und Dienstleistungen in die Privatwirtschaft, den Rückgang der Mittelschicht, die inhaltsleere Werbetext- und Schlagzeilenpolitik der Medien, die apathische Interesselosigkeit der Wählerschaft an der politischen Meinungsbildung, die zu massenmedientauglichen, PR-gesteuerten und NLP-manipulierten Spektakeln verkommenen Wahlkämpfe und nicht zuletzt durch die parteipolitische Personifizierung sichtbar. „Der Verfall der politischen Kommunikation hat noch eine weitere Form angenommen: die wachsende Personalisierung der Politik und der Wahlen. Ausschließlich auf einzelne Persönlichkeiten fokussierte Kampagnen waren gewöhnlich ein Kennzeichen von Diktaturen und von Wahlen in Gesellschaften mit schwach entwickelten Parteien- und Diskussionssystemen. […][D]aß sie heute hartnäckig zurückkehren, ist ein weiterer Aspekt des parabelförmigen Verlaufs. Werbung für die angeblichen charismatischen Qualitäten eines Parteiführers sowie Foto- und Filmmaterial, das sie oder ihn in bestimmten Posen zeigt, treten zunehmend an die Stelle von Debatten über Probleme und Interessenskonflikte.“ (Colin Crouch, Postdemokratie. Frankfurt am Main 2008. S. 38f.)
Wir haben eine Grenze überschritten. Wir haben das Paradies verlassen, um Erkenntnis zu erlangen und dabei vergessen, dass und wo der Weg weiterführt. Wir haben aufgehört zu kämpfen, mitzugestalten und zu widersprechen. Wir haben die Sprache verloren. Die Schlange posiert eitel am Baum und wir schauen zu. Der pandemische Zustand ist zum Ausdruck einer langwierigen politischen Apathie geworden. „Diejenigen, die im Staat an den Hebeln sitzen, sind panisch, weil sie nicht nur wissen, dass sie keine Kontrolle über die Situation haben, sondern auch, dass wir – ihre Untergebenen – darum wissen. Die Impotenz der Macht ist nun sichtbar geworden.“ (Slavoj Žižek, Pandemie! Covid-19 erschüttert die Welt. Wien 2021. S. 97.) Und diese Impotenz betrifft zugleich uns, das Volk, das das Zepter der Macht selbst in der Hand hat.
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ant_wort
bei gelegenheiten wie dieser erinnere ich gern daran, dass jean-luc godard sprache mit einem messer verglich, das sich die form zum schneiden selbst gibt.
In eine ähnliche Kerbe
In eine ähnliche Kerbe schlägt heute die NZZ am Morgen: "Experten machen Politik, statt zu beraten – so geht das nicht», sagt der Historiker Caspar Hirschi in der jüngsten Ausgabe von «NZZ Standpunkte». Im Gespräch mit dem NZZ-Chefredaktor Eric Gujer erklärt Hirschi, welche Fehler die Wissenschaft in der Corona-Pandemie gemacht hat, weshalb die Politik wehrlos auf die nächste Krise wartet [...]".
Dazu aber: Ich kann das Wort "kämpfen" als Mittel politischer Auseinandersetzung schon nicht mehr hören. Da sitzen Leute im Sessel und "kämpfen", was mich sehr an Andreas Schieder erinnert. Er kämpfte für die durchschnittlichen Lohnempfänger in Österreich, die nach nicht von ihm stammenden Angaben EUR 1500 im Monat verdienten (Brutto? Netto?). Der Kämpfer Schieder verfügte etwa über das Zehnfache/Monat und was tat er? Er kämpfte. Wofür sagte er sogar, immer wieder, sagte es der Schieder.
Das nur als Einwand zur Sprache des Kämpfens.
Ansosnten teile ich ihre Meinung mehrfach.
Etwas Fragliches ist der Ausschnitt aus Ihrem Text: "... treten zunehmend an die Stelle von Debatten".
So viele und tägliche Debatten wie in den letzten Monaten hatten wir meiner Meinung nach nie zuvor in Österreich. Wovon zeugen sie? Sie zeugen von Hilflosigkeit, sowohl von Experten als auch von Politikern, wie Herr Hirschi schreibt. Man fragt sich, wer von Experten, Politikern und Journalisten wen an der Leine führt
Konsens löst sich auf und vorurteilslose Suche nach dem, was Sache ist, legt frühlingstrunken eine Rast ein im Schatten einer Erle.
Bernhard Hafner