28/10/2025

Leben bedeutet ständiges Lernen und Weiterentwicklung. Sollte es eigentlich, doch irgendwie stecken wir fest. Den Punkt zu überschreiten, an dem wir Erlerntes mit den eigenen geistigen und pragmatischen Fähigkeiten erweitern, bedeutet jedoch harte Arbeit und permanente Selbstreflexion, Dekonstruktion der Denkstrukturen und gegebenenfalls auch therapeutische Maßnahmen, um die eigenen Handlungsmuster zu durchbrechen und sich aus den Klauen der Vergangenheit zu befreien.

28/10/2025

the beginning of poetry, 2025 
©: Severin Hirsch 

Wir lernen ja bekanntlich durch Nachahmung, durch mimetisches Verhalten, vom Brabbeln bis zur Sprache, vom Gedanken zum komplexen Denken, von Mimik über Gesten bis hin zu Fertigkeiten und sozialen Kompetenzen. Dabei schaffen wir uns Vorbilder, von denen wir uns das Verhalten abschauen, zuerst die Eltern und/oder Erziehungsberechtigten, dann Verwandten, Erzieher:innen, Lehrer:innen, Professor:innen, Autoritäten, fachliche Meister:innen, Virtuos:innen. Die Lernfähigkeit ist dabei so aufgebaut, dass wir uns anfangs die Grundelemente und deren korrekte Anwendung durch Mimesis und Iteration, also Wiederholung des Erlernten, aneignen, um diese Basis in weiterer Folge durch die Aneignung eigenen Wissens und eigener Erfahrungen zu erweitern. Das nennt sich dann Kompetenz im Umgang mit spezifischen Komplexitäten – die Aneignung von Wissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten durch den Gebrauch und die Einbeziehung selbst angeeigneter Inhalte auszuformulieren, zu rekombinieren und dadurch auch zu individualisieren. Das Erlernen von Regeln und Elementen ist die Grundvoraussetzung für jegliche Weiterentwicklung – aber auch erst ein Ausgangspunkt.

Nehmen wir die Sprache als Beispiel: Als Kleinkinder lernen wir, Worte – oft in Bezug zu einem Gegenstand – durch ständiges Wiederholen auszusprechen und als Bezeichnung für einen Gegenstand zu benutzen. Später erlernen wir dann die Benennung oder Beschreibung komplexerer Sachverhalte und die dazugehörige grammatikalische Struktur. Irgendwann besitzen wir einen umfangreichen lexikalischen Wortschatz und die notwendigen grammatikalischen Kenntnisse. Wir beherrschen und verstehen dadurch eine beschreibende Sprache, ähnlich der Sprache, die der junge Ludwig Wittgenstein in seinem berühmten, vielzitierten und oft auch missverstandenem Werk Tractatus logico-philosophicus (für eine logische Klassifizierung) im Sinn hatte. Für ein tieferes Verständnis des Anderen, des Fremden, des Unbeschreibbaren wie etwa der Metaphysik oder Lyrik reicht diese Ebene der Sprache nicht aus. Hierzu müssen wir sie erweitern auf eine unendliche Verweisebene, mögliche (Wort-) Bedeutungen ausloten, Bedeutungsebenen kontextualisieren, uns in Ketten der Signifikanten und Signifikationen legen lassen. Zudem ist die Sprache wie ein oszillierender Organismus, eine permeable Membran, die sich ständig den Einflüssen der Zeit und des Außerhalb aussetzt. Wer also Sprache bewahren will, sollte sich besser ins Archiv begeben. Waren es früher noch Anglizismen, die unsere „heilige“ Sprachtradition gefährdeten, sind es heute die nicht enden wollende Debatten über das Gendern. Vielleicht finden wir ja noch eine vielseitig befriedigende Lösung im Deutschen, immerhin haben wir es auch geschafft, uns politisch korrekte Ausdrucksweisen für eine Vielzahl fremder Völker und Nationen, aber auch körperlich oder psychisch beeinträchtigter Menschen anzueignen. Auch das ist eine Form von (geistiger) Entwicklung. Wir erlernen unsere Muttersprache, aber es kann nicht dabei bleiben, unseren Müttern, unseren Eltern nachzusprechen. Wir bekommen Werkzeuge zur Verfügung gestellt, die wir lernen müssen, in unserem eigenen Sinn, als Eigensinn, zu benutzen. Das verlangt das Leben: die Anpassung an die Gegebenheiten, die Entwicklung mit der Zeit. Darwin lässt schön grüßen. Aber auch er kämpft in vielen Teilen der Welt nach wie vor um Anerkennung. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Durch die Nachahmung erlernen wir Fähigkeiten und Fertigkeiten, die unser Überleben gewährleisten sollen, neben Kommunikationsformen wie Sprache, Mimik, Gestik oder Sozialverhalten eben auch andere Ausdrucksformen wie Handwerk, Kunst, Technik/Technologie, Wissenschaften, Politik oder ähnliches. Dabei nehmen wir aber nicht nur (Über-) Lebensnotwendiges in uns auf, sondern auch Verhaltensweisen und/oder Einstellungen, die uns am Leben hindern, wie (inadäquate) Stressbewältigungsstrategien, Lebensroutinen oder gar Familientraumata. Die Traumaforschung geht mittlerweile schon so weit, dass sie vermutet, dass Traumata nicht nur über Verhaltensmustern und Handlungen weitergegeben werden, sondern sich in die Genetik einschreiben und so weitervererbt werden könnten. Traumata durchfurchen uns wie Gräben die Geografie von Kontinenten oder Verkehrsachsen die Architektur einer Stadt. Um aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu gelangen, bedarf es daher einer gründlichen Dekonstruktion des Selbst. Wenn wir uns von den vorherigen Generationen emanzipieren wollen, wenn wir uns eigenständig weiterentwickeln wollen, müssen wir uns von den Altlasten befreien. Das heißt dann: Therapie für alle. Andernfalls werden wir sonst nur das Leben unserer Ahnen unter Einbeziehung der technologisch-wissenschaftlich-medizinischen Fortschritte weiterführen. Bei einem körperlichen Schockzustand kommt es zu einer Zentralisation des Kreislaufes, bei der das Blut nur mehr zu den lebenswichtigen Organen wie Gehirn, Herz und Lunge geleitet wird, um die Überlebenschancen zu erhöhen. In gesellschaftlichen Schockzuständen – in etwa solchen, in denen wir uns momentan und in weltweit unterschiedlichen Nuancen und Heftigkeiten befinden – reduzieren wir ebenfalls den Lebens-, Denk- und Wissenshorizont und gehen in ein Notfallprogramm über: wir bedienen uns tradierter Verhaltensmuster und (Über-) Lebensroutinen und schalten dabei unseren Kopf aus. Doch wenn das eigenständige Denken versagt und wir in Muster fallen, ist die Chance hoch, dass wir aus dem Vollen ganzer vorangegangener Generationen schöpfen. Das heißt dann auch, dass wir uns so wie sie verhalten – und aus dem Verhalten ist auch die Entwicklung einer Spezies abzulesen. Bleibt die Frage, ob wir beim Nachahmen bleiben oder uns doch als eigenständige Menschen, als eigenständige Generationen weiterentwickeln können.

Was auch immer wir lernen, es wird erst zu Wissen, wenn wir es uns durch Zugabe des Eigenen erarbeiten, durch Zugabe des Anderen/Fremden, anderer Meinungen erweitern und es auch in Extremsituationen aufrechterhalten und bewahren können. Ansonsten bleiben wir Nachahmende, die nachgeahmtes Leben nachahmen, die in der Gegenwart die Fehler, Verfehlungen, Vorurteile und Verurteilungen der Vergangenheit nachahmen.

„Somit hat der Nachahmer von dem nachgeahmten Gegenstand weder ein sachkundiges Wissen noch eine richtige Vorstellung, was Schönheit und Häßlichkeit anbelangt […]. Aber dennoch wird er weiter nachahmen, ohne über Tauglichkeit und Untauglichkeit jedes einzelnen Dinges Bescheid zu wissen. Vielmehr wird er offenbar das nachahmen, was der breiten und unwissenden Menge als schön erscheint. […] Selbst wertlos, vereint sich die nachahmende Kunst mit Wertlosem und zeugt Wertloses.“ (Platon, Der Staat. Stuttgart 1994. S. 441ff.)

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