Angesichts der äußeren Umstände – des politischen Totalschadens, des Alltagstresses und der sengenden Hitze – kann es schon einmal passieren, dass man einen Ausfall hat, die Weltflucht antritt, das Hirn aussetzt, die Sinne schwinden, Termine verschwitzt werden. Kann passieren, sollte aber nicht. Deshalb erscheint diese Kolumne verspätet, der Schaden sollte sich dennoch in Grenzen halten, bedenken wir die Schäden, die derzeit auf der Welt angerichtet werden – einer Welt, der man entfliehen will, deren Möglichkeiten hinsichtlich unkontrollierter, tobender Herrschaften und Kriegswirren beschränkt sind. Doch die Möglichkeiten zur Flucht, zum Wegsehen, zum Weggehen bestehen für uns nicht. Also bleiben wir in der einzig möglichen aller Welten und können nur hoffen, dass die Möglichkeit einer Zustandsbesserung für uns offen bleibt.
Traurig, tragisch ist es, wenn wir mit Gottfried Wilhelm Leibniz bedenken, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, zu wenig Widerstand geleistet haben, um die Möglichkeiten auszuschöpfen, zu wenig Zähne (im Original 52) gezeigt haben, um grundsätzlich positive Ansätze aufrechtzuerhalten und auszubauen. „[G]äbe es nicht die beste (optimum) aller möglichen Welten, dann hätte Gott überhaupt keine erschaffen. […] Man muß sie insgesamt für eine Welt rechnen, oder, wie man will, für ein Universum. Erfüllte man jede Zeit und jeden Ort; es bleibt dennoch wahr, daß man sie auf unendlich viele Arten hätte erfüllen können und daß es unendlich viel mögliche Welten gibt, von denen Gott mit Notwendigkeit die beste erwählt hat, da er nichts ohne höchste Vernunft tut.“ (Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee. Hamburg 1968. S. 100.) In dieser einen Welt, die der Fall ist, braucht es schon eine gehörige Portion Gottvertrauen, einen unumstößlichen Glauben an Gott und daran, dass er für uns die beste Welt geschaffen hat. Wer – wie ich – an keinen Gott als Schöpfer und Demiurgen glaubt, sondern daran, dass wir uns die Welt, so wie sie ist, nach unseren (nicht ausgeschöpften oder versäumten) Möglichkeiten erschaffen haben und (mit)gestalten und uns in dieser einen Welt auch einen Gott erschufen, um uns selbst der gesamten Bürde der Verantwortung zu entbinden. Das Eine als Prinzip des Ursprungs stellt die Spitze der Pyramide dar, deren Fundament wir – als das Andere – bilden. Daraus könnten wir folgern, dass die Spitze der Pyramide so stark ist wie ihre Basis. Spitzfindigkeiten. Das gilt dann sowohl für Gott wie auch für die beste aller möglichen Welten. „Die Gemächer liefen in eine Pyramide aus: sie wurden immer schöner, je näher man ihrer Spitze kam und stellten immer schönere Welten dar. Endlich kam man in das oberste, die Pyramide abschließende Gemach, und dies war das schönste von allen; denn die Pyramide hatte einen Anfang, doch ihr Ende sah man nicht, sie hatte eine Spitze, aber keine Basis; sie verlief sich im Unendlichen. Dies kommt daher […], weil es unter einer Unendlichkeit möglicher Welten eine beste von allen gibt […]; aber es gibt keine, unterhalb derer sich nicht noch minder vollkommene befänden: aus diesem Grunde nimmt die Pyramide nach unten ins Unendliche stetig ab.“ (Ebda. S. 416.) Das Unendliche, Ununterscheidbare, Unsichtbare sind wir, auf denen sich das eine Prozent ihre prunkvollen Gemächer und Welten aufbaut.
Die Pyramiden (von Gizeh) sind Weltwunder, die einzig erhaltenen aus der Antike, sie sind Zeichen, Demonstrationen von Macht und Monumente des Todes. Sie stehen für den Tod, für die Anwesenheit einer Abwesenheit (der Macht). Sie sind mehr als nur Bauwerke, Grabmäler, sie sind Symbole, Metaphern für Hierarchien, für Macht- und Ordnungsstrukturen. Sie stehen für ein Ende – wie auch für den Anfang, den Neubeginn, den Ursprung. Als Aleph, Alpha, als A, das sich in Form der Pyramide in den Ursprung der Menschheitsgeschichte einschreibt und die Reflexion, das Denken, die Sprache als Schrift, das Todesbewusstsein, den Anfang und das Ende, den „Ursprung“ der Differenzen, das Überschreiten einer Grenze markiert. Als solches verbirgt, beherbergt es sich still und heimlich in unserem Bewusstsein, in unseren Denkstrukturen und repräsentiert, vergegenwärtigt auf diese Art und Weise die Macht- und Ordnungsstrukturen. Das System wird (durch unseren Geist und Körper) permanent wiederbelebt. Es nistet sich als Äußerliches, als Fremdes parasitär in unserem Bewusstsein ein wie die fremde Seele, die im Inneren der Pyramide aufbewahrt wird. In Derridas Philosophie der différance schreibt sich das „a“ in den Ursprung der Differenzen (différences) ein, als sprachlich nicht unterscheidbarer, nicht vernehmbarer, unerhörter orthographischer Eingriff. „Er läßt sich nicht vernehmen, und wir werden sehen, worin er gleichfalls die Ebene des Verstandes übersteigt. Durch eine stumme Markierung, durch ein schweigendes Denkmal, ich werde sogar sagen, durch eine Pyramide, macht er sich bemerkbar, womit ich nicht nur an die Gestalt des Buchstabens denke, als Majuskel gedruckt […]. Das a der différance ist also nicht vernehmbar, es bleibt stumm, verschwiegen und diskret wie ein Grabmal: oikesis. Kennzeichnen wir damit im Voraus jenen Ort, Familiensitz und Grabstätte des Eigenen […]. Ein Grabmal, das sich nicht einmal zum Ertönen bringen läßt.“ (Jacques Derrida, Die différance. In: Ders., Die différance. Ausgewählte Texte. S. 110-149. S. 111f.)
Das „A“, die Pyramide, die Machtstrukturen wollen sich erhalten und dafür benötigen sie uns, da sie von sich aus nicht (über)lebensfähig sind. Michel Foucault bezeichnet diesen Prozess der Aneignung, des gewaltsamen Sich-Einschreibens der Disziplinar-, der Ordnungsmacht als Internalisierung, die den Menschen als Subjekt (subicere bedeutet unterwerfen, unterordnen) den Machtstrukturen unterwirft. Wir sind nicht die Herrschenden über uns selbst. Das hat auch Freud mit der Einführung des „Über-Ichs“, das unter anderem die Kontrolle der Triebe steuert, etabliert. Eros und Thanatos, Lebens- und Todestrieb sind die grundlegenden, gegensätzlichen Triebe im Menschen. Lebenserhaltung und Vermehrung stehen Selbst- und Fremdzerstörung, die Auflösung und Rückkehr ins Unbelebte gegenüber. Der Aggressions- oder Destruktionstrieb ist einerseits ein nach außen (oder innen) gerichteter Todestrieb, da er die Auslöschung eines Objekts (auch im Fall, dass man sich selbst zu einem solchen macht) zum Ziel hat; andererseits ist er auch lebenserhaltend, wenn es um das eigene Überleben geht, sei es durch äußere Bedrohung oder durch Tötung von Lebewesen zwecks Nahrungsbeschaffung. Für Freud ist die Instanz des Über-Ichs, die auch für die Sublimation des Aggressionstriebes, der für das biologische Überleben der Menschheit beinahe über die gesamte Menschheitsgeschichte lebenswichtig war und unvermeidbarer Teil der menschlichen Natur ist, mitverantwortlich für Kriege. Erst durch Zivilisationen wurde die Unterdrückung des Aggressionstriebes zu einem essenziellen Bestandteil des Zusammenlebens – eine Art Unterwerfung unter das Subjekt. Auch der Krieg ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Freuds These lautet in etwa so: Durch übermäßige Unterdrückung des Aggressionstriebes kann sich die aufgestaute Aggression in kollektiven Formen wie Kriegen (oder Aufständen, Revolutionen) entladen. Er argumentiert, dass die Zivilisation zwar versucht, die Aggressionen zu kontrollieren, aber bei Misserfolgen oder extremen sozialen Spannungen diese Energie in destruktiven Handlungen wie Kriegen explodieren kann, verstärkt durch kollektive Prozesse wie Machtstreben, nationale Rivalitäten oder die Projektion von Feindbildern. Werden wir gesteuert und kontrolliert und die Expertise von Fachgremien beurteilt, ob es in einer Zivilisation dann zu kollektiven Aggressionsentladungen kommen muss, oder übersieht Freud dabei, dass es sich bei den meisten (oder allen) Kriegen um die Machtinteressen einiger weniger handelt, deren Aggressionstrieb unkontrollierbar geworden ist, die Menschen in den Tod schicken, um ihren Platz an der Sonne zu festigen, da sie auf der Spitze der Pyramide stehen und über ihnen keine weitere Instanz mehr zu stehen vermag, die die Aussicht aus ihren prächtigen Gemächern auf die (ihre) beste aller möglichen Welten trüben könnte?