27/05/2025

Irgendwo zwischen Gegensätzen wie Mann/Frau, Souverän/Volk, sinnlich/intelligibel, vergänglich/ewig gibt es einen Zwischenraum, eine Zäsur, eine Öffnung, die uns taumelnd, schwindlig, schwindelnd in einen tiefen Abgrund, aus dem das Chaos, das Unbestimmte heraustritt, in uns selbst blicken lässt: das dritte Geschlecht.

27/05/2025

Severin Hirsch, welcome to blood and honey, 2025

©: Severin Hirsch

„Im Raum des, wie es heißt, natürlichen, spontanen und lebendigen Gedächtnisses soll das Ursprüngliche besser aufbewahrt werden können. Die Kindheit schriebe sich dauerhafter in diese Wachsschicht ein als die dazwischen liegenden Zeiten. […] Unauslöschlich wäre der ursprüngliche Eindruck, sobald er sich einmal in die jungfräuliche Wachsschicht eingegraben hat. […] In Wahrheit wird jeder narrative – ob fabulös, fiktiv, legendär oder mythisch ist für den Augenblick nicht weiter von Belang – Inhalt seinerseits zum Beinhaltenden einer weiteren Erzählung. Jede Erzählung ist folglich das Behältnis einer weiteren. Es gibt nichts als Behältnisse narrativer Behältnisse.“ (Jacques Derrida, Chōra. Wien 1990, S. 49f.)

1. Wir sollten einander wieder vermehrt schöne Geschichten erzählen, die Welt schönschreiben, schönreden, uns nicht den Raum, die Zeit nehmen lassen, uns nicht aus dem Leben zurückdrängen lassen. Alles, was wir sagen, veräußern, verräumlichen, öffentlich machen, kommt in irgendeiner Form auch wieder zurück – der Mythos der ewigen Wiederkehr, die ewige Wiederkehr als Mythos. Was uns der logos, das Wort Gottes, das Gesetz des Vaters, die göttliche Vernunft gelehrt hat, ist eine andere Geschichte – eine Geschichte mit Anfang und Ende, Abstraktionen und Zeitformen, die vom Ursprung, vom Urbild, von Identität, von Abstammung handelt, eine Geschichte ohne Widersprüche basierend auf dem Ausschluss, auf Oppositionen, dem Entweder-Oder. Zugleich brachte er uns auch die polis, die Städte, die Schrift, die festgeschriebenen Gesetze, die Herrschaft und Knechtschaft, die Metallurgie, die Kriege, die Wissenschaften, das Ende der unschuldigen Kindheit.

Jede Narration wird vom Narrativ der jeweiligen Zeit bestimmt, wird in den Narrativ eingebettet, im besten Fall erweitert sie Perspektiven, den Raum der Erzählung, der Geschichte. Ebenso sehr ist jede Imperation Teil eines vorherrschenden Imperativs. Gottes Wort war schöpferisch, erfinderisch, hat Strukturen und Besitz geschaffen. Genauso gut hätte es auch leer sein können, unbesetztes Neuland, ein unbekannter Ort, ein nacktes Zeichen, das die Menschen erst mit Bedeutung, mit Sinnhaftigkeit hätte erfüllen, besetzen, erobern müssen. Wort und Ort haben viel gemein. Aber das ist eine andere Geschichte.

2. Es gibt einen Ort, den niemand je betreten wird, einen Platz, den niemand jemals einnehmen wird, eine Stelle, die niemals jemand besetzen wird. Chōra nennt Platon im Dialog Timaios diesen Zwischenraum, den Raum zwischen dem Demiurgen und den Ideen, den er als die „Amme allen Werdens“, die „Mutter“, das „Behältnis“, den „Abdruckträger“ bezeichnet. Chōra ist die Grundbedingung für das Entstehen des Kosmos, der kosmologischen Elemente, des Lebens, sie geht dem Werden und dem Sein voraus. Hinsichtlich dieser zwei Seinsmodi – dem sinnlich-vergänglichen Werden und dem unbewegt-intelligiblen Sein – ist chōra ein triton genos, ein drittes Geschlecht oder eine dritte Gattung. Chōra ist sowohl ein Entweder-Oder wie ein Sowohl-als-Auch, in ihr sind Widersprüche und Gegensätze (noch) als Einheit angelegt. Erst durch die Aufnahme, den Abdruck des Seins, der Ideen setzt sie sich als Werden in Bewegung – Materie, der Kosmos, das Universum, das Leben entstehen. „Doch wenn chōra ein Behältnis ist, wenn sie allen Geschichten, ontologischen oder mythischen, die man erzählen kann und die das zum Sujet haben, was sie aufnimmt, und sogar das, dem sie ähnlich ist, aber was tatsächlich in ihr Platz nimmt, einen Ort gibt, so wird chōra selbst, sofern man das so sagen kann, für keine Erzählung zum Gegenstand […]. Ohne ein wahrer logos zu sein, ist die Rede über chōra nicht einmal mehr ein wahrscheinlicher Mythos, eine Geschichte, von der man einen Bericht wiedergibt und in der eine weitere Geschichte ihrerseits Platz nehmen wird.“ (ebda. S. 50.)

Auch wenn es den Eindruck macht, dass chōra durch die Zuschreibungen im Timaios als Amme oder als Mutter und ihre Eigenschaften als Behältnis, als Aufnehmende weiblichen sexuellen Geschlechts sei, ist dieser irreführend, da sie dem Denken im Allgemeinen und insbesondere dem Denken in Gegensätzlichkeiten, dem logos ja vorausgeht. „Als dritte Gattung/drittes Geschlecht […] gehört sie keinem Oppositionspaar an, zum Beispiel dem, den das intelligible Urbild mit dem sinnlichen Werden bildet und welches eher einem Paar Vater/Sohn ähnlich ist. Bei dem die ,Mutter’ abseits stände. Und so wie dies nur eine Figur, ein Schema ist – also eine von jenen Bestimmungen, welche chōra aufnimmt –, so ist diese hier genauso wenig eine Mutter wie eine Amme und nicht einmal mehr eine Frau. Dieses triton genos ist kein genos und zuvorderst, weil es ein einzigartiges Individuum ist.“ (ebda. S. 60.) Eine Singularität, ein schwarzes Loch, vielleicht ein Quantenfeld, ganz sicher aber etwas, das unser (klassisches, traditionelles) Denken übersteigt.

3. Im Griechenland der Antike wurde das bäuerliche Ackerland, das landwirtschaftlich bebaute Umland um die poleis, die Stadtstaaten als chōra bezeichnet. In gewisser Weise auch als Mutter, als materia, die die Versorgung der Stadt gewährleistet. Versinnbildlicht kann in diesem Zusammenhang der Gegensatz chōra/polis als der Gegensatz von Werden und Sein, von Mythos und Logos gesehen werden – im Außerhalb die Ausgeschlossenen, die im ständig wiederkehrenden Wechsel der Jahreszeiten leben, während im Innerhalb Politik und Ökonomie für die Ewigkeit betrieben werden – dem Leben und Sterben außerhalb wird die Idee, die Arbeit an einem ewigen und unveränderlichen Bild entgegengesetzt. Stásis, der Stillstand und Standpunkt als Ideal einer vom logos heraufbeschwörten Abbildung der kosmischen, göttlichen Ideen eines unbewegten Seins wurde alsbald auch zum Begriff für Bürgerkrieg. Die polis selbst war differenziert, teilte das Leben in bios und zōē, in Teilhabende am politischen Leben und Teilhabende am physischen Leben – oder anders gesagt: in Bürgertum und die restliche Stadtbevölkerung oder génos und éthnos, Geschlecht und Volk.

Im Bürgerkrieg der polis kämpft, wie es der Name sagt, das Bürgertum gegen die Herrschaft. Dabei kommt es zu einer Durchmischung der getrennten Bereiche des Politischen und des Ökonomischen: in den oíkos, den Familien(be)sitz, die Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft drang das Politische ein, trennte, wühlte auf und das Wirtschaftliche griff in die Politik ein. Das einfache Volk, das bloße Leben, die Kämpfenden und politisch Ausgeschlossenen waren jedenfalls kein Teil der Kriegsziele. In der polis war die Vermischung von Politik und Ökonomie, von Gemeinwesen und Haus, Öffentlichem und Privaten ein Ausnahmezustand innerhalb der stásis, des Bürgerkriegs. Nachdem jeder oíkos seine Interessen durchgesetzt oder bewahrt hatte, kehrte wieder Ruhe, Stillstand, die andere Form der stásis in die polis ein. Es ging auch nicht sosehr um eine hermeneutische Erneuerung der göttlichen, kosmischen Ordnung, sondern eben um eigene Interessen. Das (statische) Bild ihrer selbst wird erst durch die Beziehung zu anderen Städten, Stadtstaaten, Staaten auf die Probe gestellt. „Die Möglichkeit des Krieges veranlasst das graphische Bild – die Beschreibung –, (aus) der idealen Stadt herauszugehen; nicht noch in das lebendige und bewegliche Wirkliche, sondern in ein besseres Bild, ein lebendiges Bild dieses lebendigen und beweglichen Wirklichen, gerade indem sie ein inneres Funktionieren zeigt, wenn es auf die Probe gestellt wird: der Krieg. In allen Sinnen dieses Wortes ist dieser eine Exposition der Stadt.“ (ebda. S. 52.) Es herrscht der Krieg der Ideen, der Ideale, der Ideologien und Bilder. Das Bild ist der Tod. Der Tod ist ein Bild.

4. Auf dem Titelblatt der 1651 erschienenen Erstausgabe des Leviathan von Thomas Hobbes befindet sich ein Kupferstich, der als das berühmteste Bild in der Geschichte der modernen politischen Philosophie gilt. Er zeigt einen König, dessen Oberkörper aus den vielen Körpern und Gesichtern des Volkes besteht, die ihn alle ansehen, während er über das Land regiert. Der politische Körper des Souveräns bleibt intakt, bleibt stabil, auch wenn das Volk als solches nach dessen Inthronisierung zu einer aufgelösten Masse wird. „Das Paradox populus-rex besteht aus einem Prozess, der von einer Menge ausgeht und zu einer Menge zurückkehrt: Aber die multitudo dissoluta, in die sich das Volk auflöst, kann nicht mit der disunited multitude zusammenfallen und den Anspruch erheben, einen neuen Souverän zu bestimmen. Der Kreislauf ungeeinte Menge-Volk/König-aufgelöste Menge ist an einer Stelle unterbrochen, und der Versuch, zum Ursprungszustand zurückzukehren, fällt mit dem Bürgerkrieg zusammen.“ (Giorgio Agamben, Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma. Frankfurt am Main 2016. S. 61.) Das Volk ist also nur im Augenblick der Krönung des Souveräns das Volk, der politische Körper, der ihm zum Aufstieg verholfen hat. Die ungeeinte Menge wird zu seinem Volk, zu dessen politischem Vertreter er auserkoren wurde, bis er sich seiner Souveränität sicher ist, die Insignien weltlicher und geistlicher, geistiger Macht fest in Händen hält und hoch über der aufgelösten Menge thront. Die Menge, das sind die homines sacri, die „heiligen Menschen“, das bloße, schutzlose, nackte Leben, deren Stimmen unerlässlich sind, doch deren Rufe unerhört bleiben. Der Bürgerkrieg ist nicht ihrer, sie sind éthnos, nicht génos, sie haben keine Herkunft, keinen oíkos, kein Geschlecht.

5. Das nackte Leben ist nacktes Zeichen, es hat keine Bedeutung, keine Sinnhaftigkeit. Ein Behältnis, das erst gefüllt werden muss, eine Wachsschicht ohne Abdruck. Ein Signifikant, der erst durch Verknüpfungen und Verkettungen mit anderen Signifikanten Bedeutung erhalten kann. Ein Signifikant in Ketten. Das Denken in Gegensätzen, das Aufzeigen von Widersprüchen, die Struktur der Opposition erleichtert vielen ein wenig und einigen wenigen vieles. Chōra, das triton genos, das dritte Geschlecht, der Zwischenraum, die Mutter allen Werdens, die Amme ist der Ort, dem keine Bestimmung zukommt. Vielleicht ist das Unbestimmte, das Widersprüchliche für uns deshalb so beängstigend, weil wir es selbst in uns tragen, weil wir nicht sehen wollen, das andere mit der Bestimmung des Unbestimmten leben können, weil wir sehen, dass das Leben Widersprüche in sich birgt und zwischen den Gegensätzen ein verborgener tiefer Graben, ein chásma liegt, aus dem chōra, triton genos hämisch herauslacht. Das ist das Ende der Geschichte (so wie wir sie bisher kannten und erlernten). Die Geschichte wird umgeschrieben werden müssen.

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