29/04/2025

Die Sprache ist ein Medium, das uns Freiheit und eine gewisse Unabhängigkeit – zumindest gegenüber der Außenwelt – gibt. Sie sollte uns die Freiheit geben, uns über dem eigenen Denken Fremdes, Befremdliches, sogar Widersprechendes zu reflektieren und dadurch Zugehörigkeit und Verständnis zu schaffen. Doch es scheint so, als wäre das Zuhören dem Gehorsam gewichen und der Raum für ein Miteinander der Hörigkeit. So werden wir zu Mündern, die Autoritäten nachahmen und denen das Ohr als Sinn der Verinnerlichung abhandenkommt. 

29/04/2025

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©: Severin Hirsch

„Der Schall des Blökens, von einer menschlichen Seele als Kennzeichen des Schafs wahrgenommen, ward, kraft dieser Besinnung, Name des Schafs, und wenn ihn nie seine Zunge zu stammeln versucht hätte. Er erkannte das Schaf am Blöken: es war gefaßtes Zeichen, bei welchem sich die Seele an eine Idee deutlich besann – was ist das anders als Wort? Und was ist die ganze menschliche Sprache als eine Sammlung solcher Worte? Käme er also auch nie in den Fall, einem andern Geschöpf diese Idee zu geben, und also dieses Merkmal der Besinnung ihm mit den Lippen vorblöken zu wollen oder zu können, seine Seele hat gleichsam in ihrem Inwendigen geblökt, da sie diesen Schall zum Erinnerungszeichen wählte, und wiedergeblökt, da sie ihn erkannte – die Sprache ist erfunden!“ (Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Stuttgart 1966. S. 33f.)

Seit beinahe 2500 Jahren, als Platon den Dialog Kratylos verfasste, beschäftigen sich Philosophie und in weiterer Folge andere Wissenschaften mit der Frage, wie der Mensch zur Sprache kam. Besagter Dialog, der als Vorreiter der Sprachwissenschaften und modernen Zeichentheorien (Semiotik) angesehen wird, bezieht sich – vereinfacht zusammengefasst – auf die Debatte zwischen naturalistischem und konventionalistischem Standpunkt oder, anders formuliert, auf die Frage, ob die Sprache an sich ein „natürliches“ Abbild der Welt oder ein auf Konvention, gemeinschaftlicher Übereinkunft basierendes Konstrukt ist. Letztendlich ist es gleichzeitig die Frage nach der Beschaffenheit der Wirklichkeit: Hat die Sprache ihren Ursprung in der Natur, in den Strukturen, in der biologischen Determinierung, in der Evolution des Zentralnervensystems bei bilateralen Lebewesen, im Weltschöpfungsplan, in Gott als dessen „Geschenk“ und ist Bezeichnung, Beschreibung einer äußeren Realität oder ist die Realität eine Konstruktion, eine Gliederung und Einteilung, die auf dem Vehikel der Sprache beruht? Sehen wir die Welt so, wie sie wirklich ist, oder sehen wir die Welt so, weil wir den Phänomenen, den Einzeldingen selbst Namen, Bezeichnungen und Bedeutungen geben? Zur Beruhigung soll gesagt sein, dass diese (erkenntnistheoretische) Problemstellung bis heute und trotz der technologisch-wissenschaftlichen Quantensprünge noch zu keiner eindeutigen und einheitlichen Lösung gebracht wurde.

Es gibt jedoch unbestreitbare Fakten in der Sprachforschung und Sprachentwicklung in Bezug zur Außenwelt, die sprachevolutionär am Beginn der Sprache stehen: Onomatopoesie und Mimesis, beides Formen der Nachahmung. Onomatopoetika, an sich schon ausdrucksstark im Klang, sind (übersetzt) Lautmalereien, Bezeichnungen also, die Laute aus der Außenwelt, der Natur phonetisch im Sprachgebrauch nachahmen, wie beispielsweise klirren, schnappen, brummen, grollen oder blöken, aber auch kleinkindliche Nachahmungen von Tier- oder Motorengeräuschen, die auch Erwachsene noch gerne für Um- und Beschreibungen benutzen, wenn sie einer Sprache nicht (ganz) mächtig sind. Die Mimesis bezeichnet die Nachahmung im Allgemeinen, als Verhalten, als Lerntechnik und spielt in der allgemeinen wie der individuellen Entwicklung des Menschen eine wichtige Rolle – auch beim Spracherwerb, bei dem sich vom anfänglichen Nachahmen von Sprache in Form unkoordinierter Laute über das Erlernen einzelner Wörter durch Nachsprechen und weiters die adäquate Verwendung des Erlernten bis in einer langen Phase der Sprachentwicklung schließlich der korrekte und bewusste Gebrauch der Sprache inklusive grammatikalischer Einbettung erfolgt. Dennoch können korrekter Sprachgebrauch und inhaltliches Verständnis durchaus im Widerspruch zueinander stehen. Für Zweiteres ist eine weitere intellektuelle (Meta-)Ebene vonnöten, die der Reflexion, der Sinnerfassung, der Bedeutung, der Besonnenheit und Besinnung – ebenso sehr wie jene des Hörens, des Zuhörens, der Hörigkeit und Zugehörigkeit. Das Hören wird zum Sinn des Miteinanders und für das Weltverständnis als übertragbare, zeichenhafte Vermittlung über das Bewusstsein. „Das Dasein hört, weil es versteht. Als verstehendes In-der-Welt-sein mit den Anderen ist es dem Mitdasein und ihm selbst ‚hörig‘ und in dieser Hörigkeit zugehörig. Das Aufeinanderhören, in dem sich das Mitsein ausbildet, hat die möglichen Weisen des Folgens, des Mitgehens, und die privaten Modi des Nicht-Hörens, des Widersetzens, des Trotzens, der Abkehr.“ (Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen 1986. S. 163.)

Bei Herder hebt sich das Vernehmen des Blökens des Schafs über alle anderen sinnlichen Wiedererkennungsmerkmale hinweg und wird so zum Zeichen des Schafes schlechthin. „Dies Blöken, das ihr [der Seele, Anm.] am stärksten Eindruck macht, das sich von allen andern Eigenschaften des Beschauens und Betastens losriß, hervorsprang, am tiefsten eindrang, bleibt ihr. Das Schaf kommt wieder. Weiß, sanft, wollicht – sie sieht, tastet, besinnet sich, sucht Merkmal – es blökt, und nun erkennet sies wieder. ,Ha! Du bist das Blökende!’ fühlt sie innerlich, sie hat es menschlich erkannt, da sies deutlich, das ist mit einem Merkmal, erkennet und nennet.“ (Herder, S.33.) Der Herr, der gute Hirte, erkennt seine Herde durch sein Gehör und ihre Zugehörigkeit durch Hörigkeit ihrerseits. Die Zusammengehörigkeit von Sprache und Hören hinsichtlich der Zugehörigkeit zu einer Gruppe hat vor allem in der Sprach-, Akzent- und Dialektunterscheidung – vermutlich über alle Epochen der Sprachgeschichte hinweg – eine immense Gewichtigkeit und, wie auch der Gehorsam als politisches Instrument, eine große Rolle gespielt. „Aus der Tatsache des Fremdsprachenakzents hat die Anthropologin Jane Hill geschlossen, dass die Sprache in den Jahrhunderttausenden der menschlichen Evolution einen wichtigen Beitrag dazu geleistet habe, den Zusammenhalt der Gruppen zu gewährleisten, der eine Überlebensnotwendigkeit gewesen sein muss. Akzentfrei sprechen die Menschen bis heute in der Regel nur jene Sprachen oder Sprache, die sie in der Kindheit gelernt haben. […] Die Sprache verrät den Fremden. […] Der Akzent macht es so gut wie unmöglich, dass sich einer anderweitig unauffällig eingliedern kann. Also sorgt die Sprache dafür, dass die Gruppe zusammenhalten muss.“ (Dieter E. Zimmer, So kommt der Mensch zur Sprache. Über Spracherwerb, Sprachentstehung, Sprache & Denken. München 2008. S. 266.)

Sprachevolutionär gesehen ist das Idiom Identifikation (mit) einer Gruppe, Zugehörigkeit wie auch Hörigkeit, Gehorsam gegenüber vorherrschenden Ideologien. Die Skepsis, der Vorbehalt, die Nicht-Identifikation aufgrund des Fremden, fremder Sprachen, Akzente, Dialekte ist so gesehen nichts Neues. Neu hingegen ist, dass wir Sprache(n) anscheinend nur mehr bis zu einer primitiven Entwicklungsstufe erlernen, weil ein Teil der Sprachkompetenz – das Hören, das Zuhören, das Verständnis eines Standpunktes – zugunsten der Hörigkeit und des Gehorsams verloren geht. Anstatt Zugehörigkeit zu erschaffen, wird die Zunge ohne das Ohr taub, die fremde Stimme, der andere Standpunkt tabu. Wir bauen die Welt durch Sprache auf. Einschluss oder Ausschluss, Einfluss oder Ausfluss. Wir können reden, was und wie viel wir wollen, wenn niemand mehr das Gehör schenkt, das Geschenk des Zuhörens weitergibt, wird auch die Zugehörigkeit zum Scheinkonstrukt. Wir lernen Sprache, indem wir anfänglich brabbeln und sabbern und laut schreien, bis wir bewusst Laute formen und brummen und bellen und muhen und mähen, um dann mühsam wiederkäuend Worte zu erlernen. Wir ahmen die Muttersprache nach und (ver)beugen uns (vor) dem Gesetz des Vater(lande)s. Wir ahmen Autoritäten nach, sprechen, wie sie sprechen, und sagen, was sie sagen. Wir repetieren gebetsmühlenartig autoritäre Meinungen und Standpunkte wie Mantras, ohne jemals zugehört und verstanden zu haben, was die Bedeutung des Inhalts ist. Wir verinnerlichen durch Repetition, durch Rituale, durch Auswendiglernen. Die Gruppe findet ihre Zugehörigkeit in denselben übernommenen Vorurteilen und Ideologien, Abweichendes vom Gehörten und Angeeigneten bleibt fremd und unerhört, selbst wenn es in derselben Sprache, demselben Idiom formuliert wird. Das Fremde verliert seine Bedeutung als Gegenüber, als Außerhalb, als Form des Dialoges. Die Sprache verliert ihre Bedeutung als Medium, das Zugehörigkeit schafft, das durch neue soziale Anforderungen neue Konventionen hervorbringt. Wir leben in morbiden, antiquierten Konstrukten, in wiedererstarkten Hierarchien, autoritären Strukturen und verbarrikadieren uns hinter einer Meinung, die wir wie brave Schafe nachblöken und uns auf diese Weise zu erkennen geben. „Ha! Du bist das Blökende!“, rufen uns die falschen Hirten auf falscher Fährte zu sich, scharen uns in Herden um sich und machen uns zu Opferlämmern, zu Lammfaschierten, zu Hackbraten. Der Herr wird’s danken, vergelt’s Gott!    

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