25/03/2025

Einst galt die Metaphysik als „Königin der Wissenschaften“ – eine verborgene Welt hinter dem sinnlich Wahrnehmbaren, in der alles nach einem Plan verläuft und uns gewissermaßen einer Verantwortlichkeit für unser Leben entbindet. Wir sind ohnehin machtlos gegen die göttliche Vorhersehung. Heute verbirgt sich das metaphysische Bedürfnis hinter Verschwörungstheorien und Allmachtsfantasien autokratischer Regime.

25/03/2025

Modern Times, 2025

©: Severin Hirsch

Die Welt bewegt sich immer noch. Das Rad der Zeit dreht sich schneller, gierig nagt der Zahn der Zeit das Alte von ihrer Oberfläche. Ein Zahnrad setzt ein nächstes in Bewegung, immer weiter, immer fort, und so weiter und so fort, immer weiter fort, und ehe wir uns versehen, ist es zu spät, keiner hat eine Ahnung, wie wir die Maschine einbremsen oder wieder zum Stillstand bringen können. Das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Das nennen wir Fortschritt. Das ist die Tatsache, der Sachverhalt. Das ist der Tatverhalt. Die Welt ist kein Spielplatz, auf dem wir uns ohne Konsequenzen austoben und leichtfertig Fehler machen können. Wir haben die Bausteine in der Hand und mögen sie auch sorgfältig platzieren. Das Leben ist kein Ringelspiel, das uns immer an denselben Orten und Punkten vorbeiführt und in das wir ein- und aussteigen können, wann und wie auch immer wir wollen. Es gibt niemanden, der uns vor dem großen Schwindel erretten wird, und das Jüngste Gericht ist äußerst fraglich und unbefriedigend.

Hartnäckigen Gerüchten zufolge hat der Peripatetiker Andronikos von Rhodos (der Peripatos – die Wandelhalle – war eine aristotelische Schule, in der der Legende nach im Umherwandeln Philosophie betrieben wurde) im ersten vorchristlichen Jahrhundert die Philosophie seines Meisters in der Bibliothek so angeordnet, dass die Werke nach denen der Physik den Namen „Metaphysik“ (meta = nach, hinter) erhalten haben. Die Metaphysik, die sich hinter den Dingen, den Phänomenen der Natur, den Sinnesdaten befindet, war also zunächst vermeintlich nicht mehr als eine bibliographische Ortsangabe, die Lehren der Metaphysik also kein Wissensgebiet, das sich hierarchisch über der Physik befindet, sondern einfach nur danebensteht. Die Rolle der Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit nahm sie zwar in gewisser Weise von Anfang an ein, als tröstliche Disziplin hinter der Endlichkeit und Unzulänglichkeit, der Erbärmlichkeit des menschlichen Daseins, doch erst über das Christentum im anfänglichen Mittelalter erhielt sie den erhabenen Stellenwert, der sie von Thomas von Aquin in den Rang der „Königin der Wissenschaften“ aufsteigen ließ – selbstverständlich um Gottes Allmacht über alle erfahrbaren Phänomene und verborgenen Geheimnisse zu untermauern und ihm die alleinige Rolle des Demiurgen, des Schöpfers und Lenkers, des Beschützers und Bewahrers, des uneingeschränkten Architekten der Welt zu überlassen. Die Schimäre der Sinnlichkeit, die Scheinwelt der Dinge, die Tatsachen und Sachverhalte der sinnlichen Erfahrung sind Ablenkungen, Täuschungen, die uns die Sicht auf die wirkliche, auf die wirkende Wirklichkeit verstellen – auch eine Art von Realitäts- und Weltflucht.

Nietzsche verbreitete vielleicht etwas voreilig das Ende der Metaphysik. Vom ausgehenden 19. Jahrhundert an gibt es die Bestrebung, die Metaphysik zu zerschlagen und mit dem zu hantieren und darauf aufzubauen, was uns unser Bewusstsein und die Erfahrungen liefern – die naturwissenschaftliche, analytische Wende. Aus dieser Euphorie heraus, der Metaphysik ein Ende zu bereiten, schrieb auch Ludwig Wittgenstein seinen viel beachteten Tractatus logico-philosophicus, der folgendermaßen beginnt: „1 Die Welt ist alles, was der Fall ist. 1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge. 1.11 Die Welt ist durch die Tatsachen bestimmt und dadurch, daß es alle sind. 1.12 Denn, die Gesamtheit der Tatsachen bestimmt, was der Fall ist und auch, was alles nicht der Fall ist. 1.13 Die Tatsachen im logischen Raum sind die Welt. 1.2 Die Welt zerfällt in Tatsachen. […] 2 Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten. 2.01 Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen. 2.011 Es ist dem Ding wesentlich, der Bestandteil eines Sachverhaltes sein zu können.“ (Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Band 1. Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main, 1997. S.11.) Es geht nunmehr darum, eine Welt aus dem Gegebenen, aus Zusammenhängen und Kontexten zu konstruieren und daraus abzuleiten, nicht vom Verborgenen auszugehen und daraus Einzeldinge und logische Subjekte zu deduzieren. Die postmoderne Semiotik geht schließlich noch einen Schritt weiter – für sie existiert die erfahrbare Welt nur mehr aus Bewusstsein und aus Zeichen, aus Sendenden und Empfangenden, aus gleichwertigen, sich immer stärkerer differenzierenden Zeichensystemen, Signifikantenketten, deren Signifikate, deren Bedeutungen, deren Informationen sie erst durch die Zusammenhänge generieren, bevor sie selbst wieder zu Signifikanten werden. Eine flüchtige, aber greifbare Welt für Sinn, für Bedeutung, ein ständiger Informationsfluss, in der es dennoch Platz für Missverständnisse und Fehldeutungen gibt, da sich (Zeichen) sendendes und empfangendes Bewusstsein voneinander unterscheiden. Die Bedeutung einer Botschaft, einer Information ist das Produkt der Zeichen in ihrem Zusammenhang, ihrem Verweissystem, ihr Kontext sind nur weitere Zeichen, womit die Zeichenebene letztendlich nie verlassen wird. Alles ist abhängig von der Interpretation.

Die aktuellen globalen Tatsachen und Sachverhalte, die Zeichen, die in die Welt gesetzt werden, sind eigentlich unmissverständlich und der Interpretationsspielraum relativ gering. Dennoch ist die Gesellschaft gespalten, nicht in Besitzende und Besitzlose, nicht in Wissende und Unwissende, Mächtige und Ohnmächtige, nicht in den berühmten ein Prozent und die restlichen 99, sondern in diejenigen, die sich vehement wehren (oder gerade damit beginnen) und diejenigen, die sich bewusst für jene Seite entscheiden, die Zwietracht bis zum Waffeneinsatz streut und keine zweite Meinung duldet. Viele von uns wollen scheinbar nicht wählen, nicht aus Parteien, nicht aus Meinungen, nicht aus Informationen. Gegenteiliges, Oppositionen zum Totschweigen bringen oder töten. Vielfältigkeit bringt nur Verwirrung. Das Bedürfnis nach Metaphysik, nach dem verborgenen Sinn hinter allem lässt die allmächtigen monotheistischen Götter und die Verschwörungstheorien (auch ein metaphysisches Ersatzprogramm) wiederauferstehen. Solange wir unserem eigenen Leben nicht selbst irgendeine Bedeutung im Diesseits geben und uns für unsere Handlungen rechtfertigen müssen. In den USA, in Serbien und der Türkei gehen stellvertretend für ausnahmslos alle Hunderttausende Menschen auf die Straßen, um gegen die Korruption, gegen autokratische Regime und für die Einhaltung der Verfassung zu protestieren. Auch Pflastersteine sind Bausteine. Milorad Dodik verstößt gegen das Daytonabkommen in Bosnien Herzegowina und widersetzt sich dem Haftbefehl, indem er Gesetze erlässt, die die Entscheidungen des obersten Gerichts und des Hohen Repräsentanten aberkennen. In der Steiermark wird das unabhängige Kulturkuratorium nach zweimonatigem Einsatz abgesetzt und durch parteipolitische Besetzungen abgelöst. Auch hierzulande macht sich der Unmut bemerkbar. Wer sagt, in Österreich sei doch alles nicht schlimm, braucht nur in Richtung Ungarn zu schauen, als es mit Orban begann. Putin deutet an, über Friedensgespräche mit Territorialgewinnen einzulenken, um dann möglicherweise freie Ressourcen für andere mögliche Kriegsschauplätze zu gewinnen, Trump legt sich mit Kanada und Grönland an, weil er auf deren Ressourcen Zugriff braucht und die EU bespricht Sonderfinanzierungspläne trotz Budgetdefizite für die Aufrüstung, um einer möglichen Abkehr der USA als militärische Bündnispartnerin zuvorzukommen, während Israel den Gazastreifen radikal säubert. Nebenbei berät die halbe Welt, wie sie trotz Überteuerungen und Verschuldungen das Vertrauen der Menschheit in ihre Kaufkraft, in diese Welt und eine vielversprechende Zukunft stärken könne, um den endgültigen Wirtschaftskollaps abzuwenden. Geschichtsbeflissenen kommt diese ganze Geschichte bestimmt bekannt vor. Wir brauchen ein Wirtschaftswunder!

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