„Die verschiedenen Erzeugnisse der geistigen Kultur, die Sprache, die wissenschaftliche Erkenntnis, der Mythos, die Kunst, die Religion werden so, bei all ihrer inneren Verschiedenheit, zu Gliedern eines einzigen großen Problemzusammenhangs, – zu mannigfachen Ansätzen, die alle auf das eine Ziel bezogen sind, die passive Welt der bloßen E i n d r ü c k e, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen A u s d r u c k s umzubilden.“ (Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache. Darmstadt 1985. S. 12).
In der Kunst wie in allen anderen Formen der geistigen Produktion – in den „symbolischen Formen“ (Cassirer) – spiegelt sich immer ein Verhältnis zur Außenwelt, ein relationales Denken und Handeln, ein Sich-in-Beziehung-Setzen, zu sich selbst, zur Außenwelt, zu gesellschaftlichen Normen und Formen, eine Selbstsicht, eine Weltsicht, eine Weltanschauung. Da aber die Kunst weniger formalen Kriterien und Zwängen unterliegt als andere symbolische Formen wie beispielsweise Sprache, Wissenschaft, Architektur oder Handwerk, hat sie einen höheren Freiheitsgrad und geringeren Ideologiegehalt, um sich zu veräußern, auszudrücken, sich in die Welt einzuschreiben.
Ich vertrete die Ansicht, dass sich alle symbolischen Formen in der Menschheitsgeschichte gleichzeitig entwickelten und differenzierten, es keine Vorherrschaft an Ausdrucksmöglichkeiten vor anderen gibt, maximal Motoren und Beschleuniger. Die Sprache, die Schrift, die Spiritualität, die Kunst waren von Anfang an Eckpfeiler der Menschheit, des Menschseins selbst und die Entwicklung symbolischer Formen war eng an jene der Motorik der Hand und der Möglichkeiten der Handwerks-/Werkzeugsproduktion gebunden. Aus einem Ganzen Teile, Werkzeuge zu erschaffen setzt die Möglichkeit der Vorstellung voraus und legt auch die Analogie nahe, aus der Gesamtheit der virtuellen Fähigkeiten symbolische Formen als Werkzeuge zur gesellschaftlichen Optimierung zu entwickeln – die Verbesserung und Differenzierung von Werkzeugen, Techniken, Technologien, Waffen und die Ausschöpfung des Materials zur Produktion geht einher mit der Differenzierung und Komplexitätszunahme symbolischer Formen. Einatmen und Ausatmen. Das Begreifen von Material und der Begriff als intellektuelle Anschauung haben die ausdrückliche Form, die Ausformulierung derselben geistigen Entfaltung – der Entfaltung eines Raums, vom Heideggerschen „In-der-Welt-Sein“ über die Umwelt, Innen- und Außenwelt hin zum ausdifferenzierten Welt-Raum heutiger moderner Techno-Gesellschaften mit allen virtuellen, spirituellen, geistigen oder wissenschaftlichen Räumen. Der Kunst-Raum, die Kunst waren immer ein essentieller Baustein für gesellschaftliche Weiterentwicklung, ein Raum des Staunens, der Magie, der Utopien und Visionen, ein Raum für Gemeinschaft und Zusammenhalt. Die Forschenden der Chauvet-Höhle (der „Höhle der vergessenen Träume“ im gleichnamigen Werner-Herzog-Film) staunten nicht schlecht, als sich die achtbeinigen – teilweise ausgestorbenen – Tiere der 30000 Jahre alten Höhlenmalereien im flackernden Fackellicht plötzlich wie in einem animierten Film zu bewegen begannen. Die Höhle war ein Ort zum Schutz und Erhalt der Gemeinschaft, im physischen wie im spirituellen Sinne, in Zeiten der Not, der Bedrohung, der Krisen wurde sie auch zu einem Raum für Geschichten, für Mythen, für Spiritualität, für Kunst, um existenzbedrohende Bedingungen wie Hungersnöte oder extreme Kälte gemeinsam zu überstehen.
Ein ähnlich bedrohlicher Zustand herrschte auch in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch neben der Zerstörung von Eigenheimen und den Hungersnöten herrschten auch Hoffnung und die Vision, das Land gemeinsam wieder aufzubauen und in eine gemeinsame Zukunft zu schauen. In der ersten provisorischen Staatsregierung der Zweiten Republik unter Karl Renner stand auch ein Mitglied des Zentralkomitees der KPÖ, Ernst Fischer, als Minister für Volksaufklärung, Unterricht, Erziehung und Kultusangelegenheiten. Fischer, der 1934 über Prag in die Sowjetunion flüchtete und in Moskau mit dem Stalinismus und der KPÖ in Kontakt kam, hat in Graz Philosophie, Germanistik und Geschichte studiert, für die sozialdemokratische Zeitung „Arbeiterwille“ wie auch Lyrik, Theaterstücke und Erzählungen geschrieben, ehe er 1927 nach Wien ging, wo er als Redakteur für die „Arbeiter-Zeitung“ tätig war – ein linksintellektueller Humanist und Philanthrop, der er zeitlebens blieb, auch als er sich 1968 nach den Ereignissen des „Prager Frühlings“ vom „Panzerkommunismus“ und Totalitarismus distanzierte und 1969 aus der KPÖ ausgeschlossen wurde. Sein Engagement und Hauptaugenmerk galt neben der Kunst der Stärkung der Gemeinschaft als „offene Gesellschaft“, wie er in einer Rede 1945 in fast postmodernem Habitus demonstrierte, „dass wir keine Angst zu haben brauchen, möglichst viel Fremdes, viel anderes in uns aufzunehmen. Nur wer sich in Wirklichkeit schwach fühlt, hat Angst vor dem Einfluß der Welt. Wer sich stark fühlt, macht die Arme auf und läßt die Welt an sich heran, weil er weiß, es wird ihn nicht hinwegschwemmen, sondern es wird ihn reicher machen.“ (www.wienerzeitung.at/h/der-traumer-vom-land-ohne-vorurteile, abgerufen am 21.11.2024)
Das Fremde, das Andere, das Andersartige, für das wir unsere Arme öffnen: Menschen, Kulturen, Kunst – nichts Materielles, nur Ideelles, das uns bereichert und zu Reichtum führt. Arme und Reiche, reichet euch die Arme. Für Fischer ist die Kunst auch ein „Werkzeug“ mit gesellschaftlicher Funktion, ein Ausdrucksmittel historischer Bedingungen und sozialer Kämpfe, das durch Kritik an gegebenen Verhältnissen zukünftige Veränderungen und einen politischen Dialog herbeiführen und soziale Utopien realisieren kann. Soziale Verhältnisse und Kunst bedingen einander, sie sind eng miteinander verknüpft und stehen in keinerlei Konkurrenz zueinander, sofern sich die Kunst nicht von kommerziellen Interessen vereinnahmen lässt. Die Förderung von Kunst und die Bekämpfung von Armut sind nichts Gegensätzliches, Widerstreitendes, sondern die zwei Seiten einer Medaille, die sowohl das Wohl der Einzelnen wie auch das Wohl der Allgemeinheit zum Ziel hat. In diesem Sinne dürfen sich die Förderung von Kunst (wie auch von Bildung) und die Bekämpfung von Armut und sozialen Ungleichheiten nicht im Wege stehen. Auch wenn oder gerade weil eben materielle, finanzielle Ressourcen knapp sind, müssen wir Reflexionsräume aufrechterhalten, die uns den Weg in eine gerechtere Zukunft weisen und uns nicht an die Notlage im Hier und Jetzt binden. Der Mensch braucht Hoffnung auf eine bessere Zukunft, in der Eiszeit, in Zeiten des Kalten Krieges, in der kalten Jahreszeit, in der jeweiligen Gegenwart. Dessen sollte sich auch die (visionslose) Politik bewusst sein, wenn über Haushaltsbudgets, Einsparungen, Kürzungen und Streichungen ob der scheinbar aussichtslosen Situation aufgrund von Pandemien, Kriegen oder Überteuerungen nachgedacht wird. Finger weg von der Kunst und der Bildung! Seid nicht schwach, schwächt uns nicht! Das sind unsere gesellschaftlichen Eckpfeiler. Das ist unsere Zukunft. Das ist unsere Geschichte.