14/10/2025

Wenzel Mraček berichtet in der Nummer 98 seiner Kolumne von seinen Erlebnissen auf verschiedenen Ausgaben des Festivals steirischer herbst.

14/10/2025

La Fura dels Baus, Noun (Screenshot Mraček, bearbeitet https://lafura.com/obras/noun)

La Fura dels Baus, Ankündigung Steirischer Herbst 1991 (Screenshot Mraček)

Bekenntnis: Vom gerade zu Ende gegangenen Festival steirischer herbst habe ich – mangels Anteilnahme – keine (= leere Menge, ∅) Veranstaltung wahrgenommen, bemerkt etc. Ich habe keine (∅) Besprechungen, Rezensionen etc. verfasst, mit niemandem (∅) über die laufenden Ereignisse diskutiert, kaum (= größer als, <∅) über Metaebenen oder Umstände des Festivals geredet. Es erging mir stattdessen wie dem Erzähler in Eckhard Henscheids Roman Die Vollidioten[1] (1973 und dringende Leseempfehlung), das heißt, „daß ich […] etwas viel Besseres zu tun gehabt hätte (ich bemühe mich im Augenblick darum, viel Geld zu kriegen) […]“[2]. Naturgemäß ist mir das aber wieder einmal nicht so recht gelungen, obschon < ∅.

Gewissermaßen plagt mich jetzt mein Gewissen. Ich könnte maßgebliche Projekte, Ausstellungen, Performanzen (vor denen ich besonderen Respekt habe, will heißen, ich fürchte mich; man steht und schaut, das bedeutet, man rezipiert, dann fragt man sich hmpf? und applaudiert, weil’s auch die anderen tun – nicht jede/r ist Abramović) etc. versäumt und meiner kunsthistorisch orientierten Analyse und Erinnerung vorenthalten haben.

Deshalb folgend die sehr persönliche Geschichte um einige historische Herbstereignisse, derer ich mich, weil ich sie erlebt habe, besinnen kann – wenngleich die Erinnerung immer trügt[3]. Allein, so war’s.

Da war die Zeit, Herbstzeit, als wir eigentlich noch zu jung waren, einfach ins Forum Stadtpark zu gehen, um etwa eine Autorenlesung zu erleben. Vor dem Umbau, so meine Erinnerung, hatte das Forum auch architektonisch etwas Tempelartiges an sich. Bei Eintritt Schwellenangst. Da standen dann immer renommierte Künstler und Schriftsteller (Männer, vor Frauen fürchteten wir uns weniger), die uns Kindliche (kindisch wurden wir erst nach Erreichen der dafür erforderlichen Reife) abfällig musterten und, so war’s, „wous wuit’s ihr do“ anstelle einer Begrüßung bemerkten. Zu Autorenlesungen gingen wir, weil wir einmal Schriftsteller werden wollten, wie jene es waren, respektive wollte Kollege Peti Barpianist werden – „wie Herr Albin im Theatercafé“ –, was man ja auch durch den Besuch von Kulturveranstaltungen lernen kann. Wie sich erwies, ist aber alles Wollen und Planen einer Karriere zwecklos, weil es ja doch immer anders kommt, und heute ist Peti Stadtplaner in Kärnten. Die Umgangsformen im Kulturbetrieb waren damals rauer. Watsch’n lagen in der Luft und aus Erzählungen meiner älteren Freunde weiß ich, dass man solche allenthalben auch empfangen und gegeben hatte.[4] „Umsetzung“ heißt das in der Kunstterminologie.

Nie alleine, mindestens zu zweit gingen wir damals zu Kulturveranstaltungen. Kollege Peti hielt mir bei allem nun Folgenden stets den Rücken frei, beziehungsweise fühlte sich der eine sicher im Beisein des anderen.

Bevor wir also zu den erlebten Herbstereignissen kommen, bedarf es zur Erläuterung der damals herrschenden Gestimmtheiten eines weiteren Einwurfs, nachdem auch ich die Erzählweisen des Tristram Shandy, Gentleman gut gelernt habe (nur nicht gleich zur Sache kommen, die Erzählung verlangt eine Vorerzählung, die eine Vorerzählung verlangt). Wir waren dabei, als Wolfgang Bauer 1989 im Forum Stadtpark sein neues Drama Das Lächeln des Brian de Palma zu Gehör brachte, von ihm selbst gelesen. Weil in jener Veranstaltungsreihe junge mit arrivierten Autor*innen auftraten, las vor Bauer noch Günter Eichberger aus seinem, glaube ich, ersten Roman, Der Wolkenpfleger. Wir saßen auf Bierbänken und während Eichberger konzentriert vortrug, hörten wir das Geräusch von Schritten und einem Gehstock sich aus dem Nebenraum, von hinten[5], dem Publikum nähern. 97 oder 100 Menschen hatten sich von Eichberger ab- und sich umgewandt. Da stand Herwig von Kreutzbruck mit Bart, knöchellangem Kaschmirmantel und in Richtung Eichberger erhobenem Stock und er sprach: „Du klana W******“, sagte er wirklich, „bevor du bei uns liest, lern‘ z’erst amoi schreib’n!“ – Allgemeine Erschütterung ob der Unflätigkeit und von Kreutzbruck ging wieder ab.

Dann Bauer: Vor uns, auf den Bierbänken, saß eine illustre Runde Herren, die immer wieder jeweils einen Schluck aus dem einen (1) mitgebrachten Doppelliter nahmen. Die Flasche ging nicht reihum, weil die Herren ja nebeneinander, auf derselben Bank, Platz genommen hatten. Vielmehr ging das Gebinde von links nach rechts und vice versa. In Bauers Text wurde oftmals Los Angeles genannt und dann rief einer der Herren etwa: „Woher kennst du unsere Stadt?“ undsoweiter. Vor diesen schon etwas belustigten Kommentatoren aber saß eine Dame in schwarzem, auf dem Rücken geknöpften Kleid, dazu Käppi mit schwarzem Halbschleier.[6] Bauer las eine Regieanweisung seines Stücks, „in der Ecke steht eine Schtatü … eine Schtat…, eine Ssstatue“, unterbrach und bat, „i brauch‘ an Tschick“[7], der ihm auch sofort aus der ersten Reihe gereicht wurde. Diverse Rauchverbote standen damals nicht in Aussicht. Währenddessen aber begann einer der besagten Herren besagter Dame die Rückenverknöpfung ihres Kleides zu lösen, leise, heimlich, mit einem Lächeln, wie man es von Statuen des Amenophis kennt, auf das Bauer in seinem Stück ja über Eck referenziert. Nach vielleicht drei geöffneten Knöpfen wurde die Dame der Manipulation gewahr, stand auf, drehte sich um und legte dem Herren Eine (sic.) auf, dass der und seine Kumpane samt ihrer Sitzbank nach hinten umkippten, den Doppelliter mit sich rissen und in einer grande miseria zu liegen kamen.

So hat es sich an nur einem (1em) bezaubernden Nachmittag begeben und ich will mit der Erzählung solch abscheulicher Ereignisse nur darlegen, wie ich in meinen jüngeren Jahren gesellschaftlichen Umgang im Kulturbetrieb erfahren, gleichwohl erlernt habe. Heute ist das ja glücklicherweise anders. Man verbeugt sich voreinander, sagt Onschontee und spricht von bezaubernden Nachmittagen mit der Kunst.

So ein bezaubernder – tatsächlich war es ein Nachmittag des Jahres 1987 – führt uns endlich wirklich in ein Geschehen, das Teil des steirischen herbst unter dem Motto Animal Art (Intendant Peter Vujica) war. In gegenwärtiger Wahrnehmung erscheint der Untertitel kryptisch: Das Tier als Kunstträger und Kunstmittel muss zur Vermittlung des Folgenden aber nicht näher erläutert werden. Weil das Grazer Literaturhaus damals noch Kulturhaus war, fand ein Literatursymposion im Forum Stadtpark statt. Wieder muss ich etwas vorausschicken, das sich erst Jahre später begeben sollte. Als nämlich 1996 Wolfgang Bauer nach der Uraufführung seines Dramas Die Menschenfabrik vom ORF gefragt wurde, wie dieses dem herbst-Thema Remix – Kultur der Differenz einzuordnen sei, antwortete er pragmatisch: „Des Thema wor immer schon wurscht!“

Dies galt auch schon 1987, als im Litsymp Über die Vergeltung Oswald Wiener beispielsweise vom Wesen der Turing-Maschine referierte (Wiener sagte immer „Töring-Maschin“) oder Adolf Holl Religionstheoretisches – aber das war ja themenadäquat. Der verhinderte Barpianist und ich saßen also im Forum als da ein anderer las. Seither erinnere ich mich immer wieder an den „großen Weglaufetag“, wusste aber bis vor kurzem den Namen des Autors nicht mehr. Der las davon, dass eines Tages alle Menschen aus deutschen Städten wegliefen. Von beispielsweise Hamburg aus liefen sie nach Soltau mit der Absicht, die Menschen dort zu überzeugen, mit ihnen weiter zu laufen nach Hannover. In Soltau aber bemerkten die Hamburger, dass die Soltauer schon alle weg waren – und sie liefen weiter, undsoweiter. Es war „der große Weglaufetag“ und der Text war so absurd witzig, dass der Autor selbst vor Lachen zeitweilig nicht mehr lesen konnte. Vor Lachen hatten der Barpianist und ich Tränen in den Augen wie auch der Autor, der sich schnäuzte, während man sich im Auditorium schnäuzte und vor Lachen kaum noch Luft holen konnte. Meine wie immer akribischen Recherchen ergaben vor wenigen Tagen, dass der lachende Schriftsteller Reinhard Lettau (1929 - 1996) aus Deutschland war. Seine Erzählung handelte davon, dass die Menschen (zwei Jahre vor der noch nicht absehbaren deutschen Wende) nach Thüringen liefen, und sich dort zunächst auf eine Wiese legten, weil sie hier „ein Land gründen“[8] wollten.

Man verfällt beim Schreiben ja oft in eine Art Rage und übersieht den Punkt, an dem ein Text gewissermaßen ausufert. Dessentwegen wird für diesmal abgebrochen und das Stück Teil I genannt. „If the good Lord should be willing and I sure hope, he is willing!“ (hat Conny Tex Hat seinerzeit immer zur Sendung „Das Lied der Prärie“ auf Ö3 gesagt) folgt am 11. November Teil II auf diesem Sender. Und I sure hope, dass ich dann endlich auch auf meine Erlebnisse während verschiedener Ausgaben des Festivals steirischer herbst zu sprechen komme.


 


[1] Eckhard Henscheid: Die Vollidoten. Ein historischer Roman aus dem Jahr 1972. Frankfurt a. M. 1978. Anm.: Seinen Tristram Shandy hatte Henscheid offenbar sehr gut gelernt.

[2] Ebda., S. 9.

[3] Relevante Daten stammen freilich aus Netzarchiven.

[4] So gerne würde ich eine Geschichte schreiben über handgreifliche Diskussionen, die seinerzeit ausgetragen wurden. Protagonisten (Männer) des Kulturgeschehens interpretierten die platonische Dialektik neu und nach der Form: These, Antithese, Faustwatsch’n. Der Schriftsteller Mathias Grilj hat mir diesbezüglich einige sehr schöne Begebenheiten erzählt. Aber ich wage es nicht, darüber zu schreiben, weil ich Namen nennen müsste. Um aber einen Eindruck solcher literarischen Erzählung zu vermitteln, ein Beispiel nur, bei dem es bei der Möglichkeit blieb - ein renommierter Autor aus Vorarlberg reagierte während seiner Lesung im Zorn auf ungehaltenen Einwurf aus dem Publikum mit einem spontanen Dialektgedicht:

Was willsch ha?

A Watscha wilsch?

Kansch ha a Watscha!

[5] Der fachspezifische Terminus a tergo ist hier und folgend nicht angebracht. Denken Sie bitte gar nicht daran.

[6] Das wiederum ist so wahr wie ich gerade an einer autofiktionalen Geschichte schreibe. Also erlebte Wirklichkeit aus dem Jahr 1989.

[7] Siehe ebda.

[8] Reinhard Lettau: Zur Frage der Himmelsrichtungen. München, Wien 1988, S. 291.

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