Herausgegeben von Helene Baur und Joachim Baur ist im Herbst vergangenen Jahres der ALMANACH erschienen, im Untertitel WERKSTADT GRAZ VON A–Z benannt. Aufgrund des Umfangs der nicht chronologischen, sondern thematisch orientierten Darstellung, des Titels wegen (ALMANACH und A-Z), bleibt vorerst zu vermuten, es handelt sich um die Dokumentation sämtlicher Projekte respektive Kunstwerke, die seit Gründung im Jahr 1987 bis dato entstanden sind. Die Vermutung zu verifizieren, erforderte geschätzte 365 Tagwerke, die gegenüber 688 Seiten und 2,069 kg hier nicht zu leisten sind.
Der Grazer Kunsthistoriker Werner Fenz (1944 – 2016) beschreibt die Werkstadt Graz (i. d. F. WG) zur Zeit ihrer Gründung durch die SchmuckkünstlerInnen Joachim Baur, Brigitte Haubenhofer-Salicites, Wolfgang Rahs, Eva Schmeiser-Cadia und Werner Schmeiser in ihrer Kunst als zunächst „orientiert … am sozialen Körper Mensch. Den Schmuck am Körper und in der Gesellschaft zu entwickeln, war ihr erstes Ziel. In der Zwischenzeit hat sich die ‘Werkstadt Graz’ zu einem interdisziplinären Produktions- und Veranstaltungsort weiterentwickelt“. Seither – und während ihrer nun 38-jährigen Geschichte – erweiterte man die auch international agierende „Expeditionsgruppe“ (Joachim Baur) durch eine Unzahl künstlerischer und wissenschaftlicher Interventionen, wie sie in den nun vorliegenden Band eingeflossen sind. Auszugsweises Namedropping über die Jahre Beteiligter: Timm Ulrichs, Gottfried Bechthold, Peter Weibel, Pipilotti Rist, Gerfried Stocker, Oksana Zabuzhko, Damijan Kracina, Ingeborg Strobl, Rainer Ganahl, Bazon Brock, Franz West et al.
Ohne weitere Umschweife also irgendwo aufgeschlagen und in die geschätzten 137 Beiträge gelangt: Ab Seite 194 wird Alexander Laners Plattenspieler beschrieben. Der Münchener Künstler hatte mit der Konstruktion seiner Maschine 2005 begonnen, um sie 2008 in der Galerie der WG (Sporgasse Graz) zu präsentieren. Diese ironische Kritik an Lifestyle und Übermotorisierung basiert auf dem Sechs-Zylinder-Motor eines S-Klasse-Mercedes, durch den ein Plattenteller angetrieben wird. Der Motor läuft auf Standgas, mittels Getriebe aus Motorradketten wird die Drehzahl an der Schallplatte auf 33 U/min justiert. Über Verstärker und Lautsprecher ist Chopins 2. Klavierkonzert in f-Moll op. 21 von 1829/30 zu hören. Aus der Verbindung mit Motor- und Getriebegeräuschen entsteht eine der Maschine überlassene Klangkomposition bei einem Benzinverbrauch von zwei bis drei Litern pro Langspielplatte.
Etliche andere Maschinen(-Kunstwerke) sind im ALMANACH nach Produktion durch die WG verzeichnet. Der Absurdität und zweifelhaften Zweckmäßigkeit halber noch ein Beispiel. Aus Tirol reiste im Juni 2007 David Moises mit seinem Rocket Cart an. Zu Testfahrten bretterte der Künstler mit Pulsstrahltriebwerken hinter Propangasflasche auf dem Grazer Glockenspielplatz einher, um darauf mit einer Performance während der ORF-Sendung Willkommen Österreich zum Thema „Orientierungshilfe mit der Angst im Alltag“ Hilfe zu leisten.
Aktionen, die auf Missstände in der Gesellschaft hinweisen, Kunst, die sich kaum bestimmten Genres zuordnen lässt, waren von Anbeginn immer wieder aufgenommenes Thema. Dem 2011 ventilierten Bettelverbot in Graz (gerade wieder aktuell) entgegneten 1000 Teilnehmer nach Ernst M. Binders (1953 – 2017) Aufruf mit KNIEEN GEGEN DAS BETTELVERBOT in der Grazer Innenstadt (S. 34). Eine Programmreihe der WG lief im Jahr 2010 unter dem Titel BROTLOSE KUNST als Versuch, zwischen Bettlern und Künstlern (Josef Schützenhöfer, Ladislav Kalocai) zu vermitteln beziehungsweise den gesellschaftlichen Status der Künstler jenem der Bettler zu vergleichen. Franz West mit seiner SCHNORRE und Peter Gerwin Hoffmann mit seinem Computerprogramm INTERNETBETTLER sind im Buch thematisch gereiht, allein, in Ermangelung eines Registers, sie sind im Augenblick meines Schreibens nicht aufzufinden. Damit aber soll kein formaler Mangel am ALMANACH moniert sein. Das Lesen in diesem Ziegel gleicht eben einem „Lustmarsch durchs Theoriegelände“ wie Bazon Brock eine auch in Graz gehaltenen Vortragsreihe nannte.
Professor Brock ist mit einigen Essays im Buch vertreten und Brock war auch zugegen auf der BASIS TUNNEL & ORIENTIERUNGSFAHRT 2005. Der Grazer Muhammad Abu Bakr Müller hatte ein Konzeptkunstwerk verfasst, nach dem in gerader Linie zwischen Graz und Slowenj Gradec – damit unter dem Ziziberg – ein Tunnel binnen 5658 Jahren gegraben werde, worin „Menschen einander begegnen und Lasttiere umdrehen können“. Ein Tunnel der Begegnung somit, mit dem die „Illusion der multikulturellen Identität Europas zu zerfallen“ beginnt, „von der wir so weit entfernt sind wie die Eingänge des basis.tunnel durch Arbeitszeit“ (Müller in seiner Konzeptschrift).
Schließlich mündet diese Geschichte der Werkstadt Graz in jene der MARATHONMEDAILLE von 2000 bis 2009. Allen Teilnehmern an den Graz-Marathons wurden kleine, goldfarbige CDs überreicht, die digitale Kunstwerke beinhalteten.
Undsoweiterundungezähltesmehr.
Mit Z soll nun kein Ende des Bestehens der Werkstadt Graz vermutet sein. Wenn auch die Zentrale in der Grazer Sporgasse vor einigen Jahren aufgelassen wurde, ist Meister Joachim – nach Telefonaten zu erfahren – guter Dinge und arbeitet an einem neuen Buch zum ZOLLAMT in Bad Radkersburg (www.zollamt.tv) und der Kunst ohne Grenzen.
Joachim Baur bittet um Korrekturen
Per E-Mail bittet mich Joachim Baur um einige Korrekturen am Text zum Almanach. Demnach hat die Werkstadt Graz die MARATHONMEDAILLE schon im Jahr 2000 gestaltet und dann jährlich bis 2009. Auch die erwähnte "Zentrale" in der Sporgasse ist nicht aufgelassen, existiert vielmehr weiterhin in der Sporgasse 16 in Graz.
Folgend hier Joachim Baurs Darstellung zur Genese der Werkstadt Graz:
die zentrale der werkstadt graz befindet sich seit 1979 immer noch im »stammhaus« sporgasse 16 / 8010 graz (atelier baur und ab 1986 im hinterhof ebenerdig).
dort befinden sich auch bis dato die galerie grazy, graz kunst und die büroräume der werkstadt graz!
durch meine krebserkrankung konnte ich über 2 jahre nur sehr wenig in graz sein. renata baumgartner, alexandra herzog, anna bliemegger und soweit es die zeit erlaubte auch helene baur haben sich immer sehr gewissenhaft um die ausstellungsprojekte gekümmert. die zentrale existiert!
die WERKSTADT GRAZ wurde 1979 im atelier baur in der sporgasse 16 begründet!
damals habe ich mit anonymen stadtinterventionen (schaufensteraktionen, bodenbeschriftungen mit messingtafeln, vergoldungen im öffentlichen stadtraum und sogenannten »passanten-happenings« begonnen den atelierort als stadtort zu begreifen und zu erweitern. daher kommt auch die namensgebung: werkstatt/werkstadt! otmar krenn, alois krenn, angela flois, diana wilfling, fedo ertl, gustav troger, harald facchinelli, peter köck, peter tertinegg, u.v.m. waren immer wieder ateliergäste und haben mich auch ermutigt die werkstadt graz um den ebenerdig liegenden raum im hinterhof zu erweitern. die schriften von werner fenz wurden damals schon von mir kritisiert und werner hat im gespräch versprochen dies zu berichtigen bzw. eine fußnote anzufügen! leider ist dies nie passiert!
auf den seiten 020, 107, 238, 388, 436 gewährt das buch einblick in diese gründungsphase und den damit in verbindung stehenden transformationen!
die im beitrag genannten »akteurs« hatten – gemessen an der gesamtfülle und ernsthaftigkeit der projekte einen »kurzen bühnenauftritt im mikrodrama« (übrigens: von wolfgang bauer in graz erdacht und erfunden!). die mäßig erfolgreiche leistung führte aus heutiger sicht »gottseidank«! – zum baldigen bühnenabgang! mit doris hasenschwandtner, andreas platzer und renata baumgartner konnte die WERKSTADT GRAZ zu einem wesentlichen gedanken der gründung zurückfinden: »schaffung eines zwischenmenschlichen bedeutungsraums – für eine entwicklungsfähige, autonome und avancierte kunst«!