Wenn alles mit allem verbunden ist, verflochten, dann müssten ein Anfang oder ein Ende jeweils der Entscheidung eines Subjekts nach Sichtweise, Haltung oder Blickpunkt obliegen. Insofern – einer vermuteten, nachgemuteten Denkweise Leo Kreisel-Strausz‘ folgend – sollte die hier angestellte Darstellung keinen Anfang haben. Ganz wie in der Rückschau auf Leos künstlerisches und Kunst vermittelndes Werk mir der Eindruck entstand, es habe nicht begonnen, er habe nicht damit begonnen, seine Kunstwerke zu entwickeln respektive sie einer Öffentlichkeit anzumuten.
Leo hat seine Arbeiten nicht signiert und selten datiert. Er hat sich über die Zeit an mehreren Orten immer wieder Ateliers, Arbeitsräume eingerichtet, in denen die „Werkkrümel“ als „Gedanken und Zeug. In den Raum gestreut.“ – wie er seine Ausstellung 2021 im Wiener MAG3 genannt und bezeichnet hatte – wie im Verborgenen entstanden. Es scheint, als sollten Arbeiten entstehen, die auf keinen Autor verweisen, vielmehr von einer nicht personifizierten Existenz handeln, aus philosophischer, soziologischer, Machtverhältnisse diskutierender etc. Einstellung, die quasi jede/r, die/der sich mit Fragen um gesellschaftliche Belange auseinandersetzt, in dieser Art zustande bringen könnte. Rebusartige Objekte wie M = 202 cm = Das Maß der Dinge (ein zur Form eines M aufgeklappter Zollstab) wurden in der MAG3-Ausstellung nachgerade lapidar unter die Rubrik „Alle Arbeiten von früher“ gereiht. Sprachspiele um stereotype Phrasen, die gleichwohl gängiges Verständnis einer nach Ordnung und Prosperität orientierten Gesellschaft bezeichnen, erscheinen umgesetzt ins Objekt als Nagel in der Wand, auf dessen Kopf ein Hammer fixiert ist. Obwohl statische Konstellation, ist sie benannt als Eine Bewegung, während die bekannte Phrase im Untertitel ins Absurde geführt erscheint: Nägel mit Hämmern machen. Wie in vielen anderen Werken ist auch hier an Metaphorik beziehungsweise Bedeutungen im umgangssprachlichen Gebrauch von „Hämmern“ und „Köpfen“ zu denken.
Materialität und Technik werden nach Inhalten der Werke gerichtet. Ebenfalls „von früher“ stammen Beispiele wie Ein Atemhauch auf Fotopapier. Der lichtempfindliche Bildträger wird in seiner Struktur zwar durch den auch belichtenden Nebeneffekt des Atemhauchs verändert. Als erweiterte Fotografie aber wird die Spur, der körperliche Einfluss auf den Bildträger, manifestiert. Beziehungsweise muss Kunst & Kapital wohl als von Ironie bestimmtes Konzeptwerk zur Kunst als Kapitalanlage interpretiert werden, wenn in der Präsentation nicht das Kunstwerk, sondern ein Verweis darauf zu sehen ist. Die Fotografie einer Intervention – eine Leinwand auf Keilrahmen wurde „eingemauert“, verspachtelt und übermalt – lässt nur Spuren erkennen, versehen mit der Erläuterung: „Sie können dieses Kunstwerk erwerben, müssen aber das dazugehörige Haus kaufen.“
Jüngere Installationen dagegen erweisen sich hinsichtlich Interpretationen als weitgehend offen, sind aber als (Ent-)Äußerungen des Künstlers gegenüber politischen beziehungsweise gesellschaftlichen Belangen zu begreifen. Mediterranean Salt (2021) wird von Kreisel-Strausz demnach „nur“ mit einer Installationsanleitung versehen, in der Form: „Ein LKW-Schlauch (Durchmesser ca. 2,5 m) wird unter der Decke (= die vorgestellte Wasserlinie) montiert. Eine fragile Bambusleiter führt auf den ‘Meeresgrund’ des white cube […]“. Ein etikettierter Beutel enthält Meersalz und trägt die Aufschrift „Mediterranean Sea Salt – May contain traces of human DNA“. Das Salz wird als „Ware“ ausgewiesen, möglicherweise durchsetzt von Spuren eines in Kauf genommenen Kollateralschadens. Als Trennwand/Transparent bezeichnet – gleichermaßen offensichtlich wie undurchschaubar – ist der 2021 ventilierte und so redundante Slogan (ein keltisches Wort, das Schlachtruf bedeutet) der Wutbürger „Wir sind das Volk“. Auf transparentem Papier ist der Schriftzug verso und recto an derselben Position affichiert, zu sehen damit und zugleich unlesbar.[1]
Mit Heinz Joachim Schubert entwarf Leo Kreisl-Strausz 2018/19 Plakate für die Reihe Slogans I und II. Die „Versuch[e] einer Transmediation des Politsprech“ sind Reaktionen auf politische Ereignisse, fragwürdige Aussagen und Handlungen von ProtagonistInnen, deren „wahrer“ Gehalt in – eben plakativer – künstlerischer Form publiziert wurden. Plakate waren auch Teil in Leos MAG3-Ausstellung. „Inspiration“, erläutert Leo im Beiheft, waren die „scharfsinnig-offenlegenden Kommentare“ der Philosophin Isolde Charim (in der Wochenzeitung Falter), die etwa vor Fotografien um Bootsflüchtlinge im Mittelmeer Aufschriften tragen wie „Menschsein reicht nicht fürs Leben“.
Mit Ursula Strauß und Christian Bachler gründete Leo (damals noch Kreisel) 1988 RHIZOM als gemeinnützigen Verein mit „Basislager in Graz“. Das (zunächst) Künstler:innen-Kollektiv mit infolge etlichen Assoziierten widmet sich seither einem weiten Feld der „Kontext-Kunst, die transdisziplinär, partizipativ und permeabel ist“.
Als quasi Leitfaden für diese Einrichtung muss Leos Auseinandersetzung vor allem mit Deleuze‘ und Guattaris Schrift Rhizom (Berlin 1977) betrachtet werden. In Vorbereitung dieser Darstellung zeigte mir Heinz Schubert Leos völlig zerlesenes und in der Bindung gebrochenes Exemplar aus dem Merve Verlag. Darin mehrere Stellen mit Marker hervorgehoben, wie:
„[Die Karte] trägt zur Konnexion der Felder bei, zur Freisetzung der organlosen Körper, zu ihrer maximalen Ausbreitung auf einem Konsistenzplan. Sie macht gemeinsame Sache mit dem Rhizom. […] sie kann sich Montagen aller Art anpassen; sie kann von einem Individuum, einer Gruppe oder gesellschaftlichen Formation angelegt werden. Man kann sie auf Mauern zeichnen, als Kunstwerk begreifen, als politische Aktion oder als Meditation konstruieren. Vielleicht ist es eines der wichtigsten Merkmale des Rhizoms, viele Eingänge zu haben […]“ (S. 21)
Was wie ein Metatext zu Leos künstlerischen Werken klingen mag, entspricht in gleicher Weise den Konstellationen des Vereins RHIZOM, wenn dessen Anliegen als „Ziel“ beschrieben sind, „die eigenen kulturellen Begrifflichkeiten durchlässiger zu gestalten, anderes wahrzunehmen, neue Anknüpfungspunkte zu finden und zu verbinden, was so noch nicht verbunden wurde. Die in die Wahrnehmung gerückten Inhalte werden bearbeitet, transformiert, übersetzt, durch den ‘Kunstraum’ bewegt, um sich wieder in der Gesellschaft aufzufalten“.
Aufgefaltet in der Gesellschaft – und in einer Zeit, als „Kunst im öffentlichen Raum“ in der Steiermark längst nicht institutionalisiert war – wurden bald Projekte wie etwa mural 1989 initiiert. Vernetzung, Außenraum und politische Agitation an der Fassade des damaligen Augartenkinos waren Parameter für Wandmalereien in Referenz an die Revolution gegen das Somoza-Regime. Als Gast von RHIZOM entwarf der nicaraguanische Künstler Leonel Cerrato Jiron die Arbeit, die bis zum Abbruch des Gebäudes im Jahr 2009 bestehen sollte, und setzte sie mit Studierenden der Ortweinschule um. Neben etlichen Projekten um Künstleraustausch zwischen RHIZOM/Graz und Südkorea, Moskau, Mexico City, Sarajevo und weiteren Orten wurden in den 1990ern auch Konzeptausstellungen mit anderen, hier ansässigen Kollektiven arrangiert, wie der Gruppe 77. Thematisiert wurden die Wahrnehmungen unterschiedlicher Räume via Medien wie Polaroid, Video oder Mail-Art. Verbunden mit Publikationen entwickelte RHIZOM Projekte wie Real City (under construction), in dem ein virtueller „Stadt-Körper“ aus Elementen eines internationalen Netzwerks entstand – wiederum angeregt aus Kreisel-Strausz‘ permanenter Lektüre von Deleuze und Guattari. Wie eine Paraphrase auf das Rhizom der Autoren – und ihnen gewidmet – mutet der 2005 erschienene Band Through The Texture an, in dem literarische und wissenschaftliche Essays mehrerer Autor:innen die Gegenwart (in der Gegenwart) des Rhizoms und RHIZOMs verhandeln.
Wir sind viele, die Zahl der Projekte, mehrheitlich angestoßen von Leo Kreisel-Strausz, ist bis 2023 Legion und sie können auf RHIZOMs Website abgerufen werden. RHIZOM wird weiterhin Texturen und Netze zur Kunst flechten.
Der Titel der rezenten Ausstellung im Forum Stadtpark – von hier aus – geht zurück auf ein gleichnamiges Konzept (desde aquí), umgesetzt 2011 im öffentlichen Raum (Augarten) und als Publikation. Nach Leos eigener Beschreibung beginnt seine immer wieder geführte Auseinandersetzung mit Nicaragua im Jahr 1988, als er das Land mit einer Arbeitsbrigade besuchte. Über etliche Zwischenstationen (u. a. das 2009 zerstörte mural am Augartenkino) kam es zur Zusammenarbeit mit KünstlerInnen und Familien von Plantagenarbeitern in Nicaragua, die in Managua 2004 gegen den sie schädigenden Einsatz von Giften beim Anbau von Bananen protestierten. Dass die Produkte, Bananen, international gehandelt, ex- und importiert werden, bedingt auch die österreichische Relevanz. „Existieren wir vielleicht bereits nur mehr in unseren Verbindungen und unsere territoriale Zugehörigkeit wird obsolet?“, stellt Leo Kreisel-Strausz zur Disposition und schließt mit einem Zitat des französischen Kunstkritikers Nicolas Bourriaud:
„Der Radikant präsentiert sich als ein Denken der Übersetzung: die prekäre Verwurzelung beinhaltet die Kontaktaufnahme mit einem Gastland, einem unbekannten Territorium. Jeder Kontaktpunkt auf der radikanten Linie stellt somit die Bemühung um eine Übersetzung dar.“ (Radikant. Berlin 2009)
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[1] Was, nach meiner Wahrnehmung, den Sprechchören in dieser Zeit niemand entgegnete, müsste wohl auch in Leos Sinn gewesen sein, hätte jemand doch mit schlichtem „No na!“ reagiert. In der Masse scheint die Verantwortlichkeit des/der Einzelnen aufgehoben zu sein. Wenn nichts Schlimmeres, dann schreit man eben mit in dem Gefühl, persönlich eigentlich nichts gesagt zu haben. In der Masse aufzugehen gleicht dem (unwirklichen) Phänomen, sein Individuum zeitweilig aufzugeben. Hinterher kann damit behauptet werden, man sei ja nicht dabei gewesen – nach der gebräuchlichen Form, „I sog’s glei, i wor des nit!“
Rufen die Vielen am einen Tag „Wir sind das Volk!“, hat sich inzwischen oft erwiesen, dass die Einzelnen anderntags behaupten, „Ich war nicht dabei!“. Solcher Einwurf folgt jetzt nicht meinem Lesen Elias Canettis und Hannah Arendts vor langer Zeit, sondern der so reduzierten und unprätentiösen Anlage von Leos Kunstwerk, das Überlegungen dieser Art wie „verpackt“ transportiert, allegorisch und metonymisch.