10/10/2017

Wolkenschaufler _ 03

Kunst auf der Flucht

Die Kolumne Wolkenschaufler von Wenzel Mraček erscheint jeden 2. Dienstag im Monat auf GAT.

10/10/2017

Freiflughalle, Hong Kong

©: Zita Oberwalder

Kunst auf der Flucht

Die Architekten William van Alen und Harold Craig Severance lernten einander 1914 in New York kennen und wurden bald ziemlich beste Freunde. Die beiden gingen eine Firmenpartnerschaft ein und als William heiratete, war natürlich Harold sein Trauzeuge.
NY City erwies sich in der Dämmerung des Börsenkrachs seltsamerweise als Bauplatz erster Güte und die Firma der beiden florierte – bis es 1924 zum Bruch kam. William beanspruchte das Renommee der Entwürfe für sich allein, während Harold es leid war, die geworbenen Kunden mit seinem Partner zu teilen – und vorbei war es mit der Freundschaft. Was in den Jahren darauf als Skyscraper Race in die Geschichte eingehen sollte, begann 1928, als Harold den Auftrag für das Bank of Manhattan Trust Building an Land zog und nahezu gleichzeitig William den Zuschlag für das Chrysler Building erhielt.
Der Automann Walter Chrysler hatte vor, das höchste Gebäude der Welt zu bauen und das versuchte auch die Bank of Manhattan. Bei Fertigstellung dachte Harold Craig Severance, das Rennen sei gewonnen. Das Gebäude der Bank of Manhatten war 283 Meter hoch und, bei der Eröffnung am 28. Mai 1930, um zwei Fuß höher als das Chrysler Building.
Heimlich aber hatte William van Alen seinen Trumpf schon in einem Heizungsschacht des Chrysler Buildings vorbereitet. Nur eineinhalb Stunden nach der Eröffnung des bis zu diesem Moment höchsten Gebäudes der Welt, saß eine 38 Meter hohe Stahlspitze auf dem Chrysler Building, das so auf 319 Meter gewachsen war. Der Turm der Bank of Manhattan ist heute übrigens bekannt als 40 Wall Street beziehungsweise The Trump Building.

Diese haarsträubende Geschichte ist nur eine von mehr als dreißig Episoden im Repertoire des im Libanon geborenen und in New York City lebenden Künstlers Walid Raad, die er unter dem Titel Kicking the Dead im diesjährigen steirischen herbst erstmals erzählte.
Seine Story erläuternd durch projizierte Fotos und Videos, steht Walid Raad im Halbdunkel eines Saales im Palais Attems und verknüpft die eben beschriebene plausibel mit Erzählungen um seine Lehrtätigkeit an der New Yorker Cooper School of Art, eine der raren privaten Einrichtungen in den USA, die bis vor wenigen Jahren für Studierende noch kostenlos zugänglich war. Dann wurde ein neuer Vorstand eingesetzt und plötzlich wurden horrende Studiengebühren verlangt. Studenten, erzählt Rad, besetzten daraufhin über drei Monate ein Vorstandsbüro und kopierten alle Festplatten, die zu finden waren. Es stellte sich heraus, dass die Cooper School mit etlichen maßgebenden Immobilienfirmen assoziiert war, weshalb sie in der Folge auch beinahe am Finanzcrash 2008 zerbrach. Nach Raads Vortrag, der einem erzählten Roman in bester amerikanischer Novel-Tradition gleicht, scheint alles mit allem verbunden zu sein: Über Nebenstränge der Handlung – während der er etwa einen Vietnam-Veteran im belgischen Ypern getroffen haben will – führt sein Weg nach Paris, wo Spezialisten mit der Renovierung alter iranischer Teppiche beschäftigt sind. Die Teppiche, hieß es zunächst, hätten ihre „Stimme“ verloren. Nach einigen Kalamitäten verdeutlicht sich ein Missverständnis – nicht ihre „Stimme“, vielmehr ihren „Grip“ haben die Teppiche im Lauf der Zeit eingebüßt.

Im November dieses Jahres eröffnet der Louvre eine Dependance in Abu Dhabi. Walid Raad zeigt Auszüge aus dem kaum überschaubaren Vertragswerk zwischen Paris und dem Emirat. „Wenn der Boden zu heiß wird“, sagt man in der Finanzwirtschaft, „musst du das Metier wechseln“. Also Kunst für Petrodollars. Teile eines Konvoluts von Leihgaben, die von Paris nach Abu Dhabi versendet wurden, hätten aus unergründlicher Ursache „ihr Gesicht vertauscht“. Merkwürdige Objekte, an denen das Original zwar noch erkennbar sei, wären in den Transportkisten angekommen. Und Raad unterbricht seinen Vortrag und führt das Publikum in einen Nebenraum, in dem diese Mutationen nun tatsächlich ausgestellt sind.

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Der Künstler-Autor schildert dem inzwischen schon völlig verblüfften Publikum daraufhin, wie eine Kunstsammlung des Romanciers Erich Maria Remarque in den Besitz eines Scheichs gelangte, dessen beauftragte Kuratorin erfahren muss, dass es sich um eine Art „untoter“ Kunstwerke von Picasso, van Gogh, Degas etc. handelt, die nicht so recht an ihrem Ort bleiben wollen. Und es wird sich weisen, ob Jean Nouvel der Mann sein wird, diese Werke im von ihm geplanten Bau des Louvre in Abu Dhabi zu bannen.

Wird (die) Kunst, könnte man nun überlegen, flüchtig, wenn sie zum geschichtslosen Objekt der Finanzspekulation wird?

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