04/02/2025

Die Kolumne der beiden Autoren erscheint ein Mal im Monat auf GAT.

04/02/2025

Gerhard Flora, Harald Trapp, Collage, Screenshot aus Google Maps: Bilder © 2025 Google, Landsat/ Copernicus, Data SIO, NOAA, U. S. Navy, NGA, GEBCO, Bilder © Airbus, CNES/Airbus, Geoimage Austria, Maxar Technologies, Kartendaten © 2025 Google.

„Wir waren uns bisher nicht sicher: Was ist der Auslöser für eine Wien-Reise?“ Um den Menschen „ins limbische System“[1] zu blicken, setzte der Geschäftsführer des Wien Tourismus, Norbert Kettner, schon vor Jahren auf die Hirnforschung. Neuromarketer entwickelten eine maßgeschneiderte Werbekampagne für die ausgeforschten Kernzielgruppen, die „Offenen“, die „Performer“, „Hedonisten“ und „Harmoniser“. Slogans wie „In Wien leben. Auch wenn man woanders wohnt.“ oder „Wien Jetzt. Für Immer“ wurden in dutzende Sprachen übersetzt und seit 2016 zu Lockrufen der österreichischen Hauptstadt auf dem globalen Städtemarkt. Mit Erfolg. Im Schnitt wuchsen die Nächtigungszahlen bis zum Ausbruch der Pandemie um jährlich knapp eine dreiviertel Million. Man war zufrieden und ist es heute umso mehr, da der Einbruch infolge der Pandemie nicht bloß überwunden ist, sondern gar wieder ein neuer Rekord aufgestellt wurde. Und während Kettner Ende 2024 in der Presse das „beste touristische Jahr aller Zeiten“[2] erwartete, konnte man zur allgemeinen Beruhigung in einer Ausstellung im Wiener Architekturzentrum lesen, dass Wien „von den negativen Auswirkungen des sogenannten Übertourismus weitestgehend verschont geblieben“[3] sei. Übertourismus – das Reizwort jedes Touristikunternehmens ist ein Problem der Anderen, so scheint es.

Acht Millionen Touristenankünfte bei knapp zwei Millionen Einwohner*innen; das ist „europaweit im Mittelfeld“,[4] bestätigte einer der Ausstellungstexte. Klar muss aber auch sein, dass die Aussagekraft derartiger Zahlenspiele beschränkt ist. Sie verzerren in erster Linie den Blick auf tatsächliche, klar benennbare Problemfelder. Zum Beispiel die knapp zweieinhalb Quadratkilometer der Inneren Stadt (entspricht rund 0,5% des gesamten Wiener Stadtgebiets). Über sechs Millionen Menschen besuchen mittlerweile jährlich den Stephansdom.[5] Das allein entspricht im Tagesschnitt der Bewohnerzahl des gesamten ersten Bezirks.

Da Zahlen aber kaum qualitative Rückschlüsse zulassen, gilt in der kritischen Tourismusforschung der Zufriedenheitsindex der Bewohner*innen als weiterer Indikator. „Neun von zehn Wiener*innen sehen die [touristische] Lage in der Hauptstadt positiv“[6] heißt es von offizieller Seite. Und tatsächlich. Blickt man auf die zahlreichen europäischen Innenstädte, in denen sich über die letzten Jahre Protestgesellschaften herausgebildet haben, kann in der Wiener Innenstadt davon keine Rede sein. Nach dem Rekordjahr 2024 ist vielleicht manchen schon ein wenig mulmig zumute, aber auch hier wissen WienTourismus und die Tageszeitung Der Standard die Gemüter zu besänftigen: „Man müsse selbst zu Zeiten ärgster Verstopfung […] nur in eine Seitengasse ausweichen.“ Die Menschen würden eben ein „bisl raunzen“, heißt es da augenzwinkernd.

Es ist erstaunlich mit welcher Unbeschwertheit hier eine problematische sozialräumliche Entwicklung verharmlost wird. Denn wie überall in Europa, steht auch in Wien die Innenstadt unter dem Druck einer gesichtslosen Verwertung. Die Einwohnerzahl des ersten Bezirks hat sich seit den 1950er Jahren halbiert, Handwerksbetriebe verschwinden, kleinere Handels- und Reparatur-Geschäfte wandern ab, ebenso die öffentliche Verwaltung. Verzögert werden diese Verdrängungsprozesse im Falle Wiens derzeit noch dank alter Mietverträge oder durch Eigentum der Betreiber. In den sogenannten A-Lagen der Haupteinkaufsstraßen übernehmen internationale Ketten, Souvenirshops, Billigläden, in den Erdgeschossen der angrenzenden Straßen und Gassen die Systemgastronomie.

Es ist wichtig und richtig, dass die Stadtplanung sich vermehrt auf die Stärkung der Flächen- und Außenbezirke konzentriert (siehe STEP 2025), ebenso, dass man auch versucht den Tourismus dort hinzulenken. Gleichzeitig aber wird die eigentliche Mitte der Stadt den Begehrnissen des touristischen Kurzzeitpublikums überlassen. Begehrnisse, so wissen wir, können nicht gestillt, sondern nur gesteigert werden. Allein heuer entstehen wieder neue Hotels, unter anderem am Fleischmarkt, in der Annagasse, der Riemergasse, am Bauernmarkt und bei der Dominikanerbastei. Die Bedürfnisse der Stadtbevölkerung hingegen, deren Befriedigung sich in einem breiten Spektrum des alltäglichen Gebrauchs ausdrückt, werden aus der Inneren Stadt verdrängt. Zentralität, für Henri Lefebvre eines der wichtigsten „Rechte auf Stadt“, wird durch die Aushöhlung der Stadtmitte obsolet. Das zeigt sich nicht zuletzt auch auf der kulturellen Ebene, die in der Innenstadt zusehends stagniert.

Lange ist es her, dass sich eine ganze Künstler*innen- Generation im Stohkoffer unter der American Bar formiert hat, dass die Wiener Aktionisten halbnackt oder auf allen Vieren über die Kärntner-Straße gekrochen sind, dass Jazzer, Hippies, Punks, Schauspieler*innen und Musiker*innen in der Inneren Stadt eigene Geschäfte, Plattenlabels und Lokale gegründet haben. Zahlreiche Wiener ArchitektInnen haben ihre ersten kleinen Auftragsarbeiten dort umsetzen können. Der Wert einer Innenstadt bemisst sich eben gerade nicht daran, die Kultur vergangener Generationen nur zu konservieren und zu bewirtschaften.

Woher aber kommt der Drang, gerade in diese vom eigentlichen Leben entleerten Innenstädte zu reisen? Besucht werden die materiellen Überreste einer Lebenswelt, zu der die meisten sich immer noch hingezogen fühlen, zu der sie aber in ihrer eigenen Stadt meist nichts mehr beitragen. Das Geschäftsmodell Urlaub bietet die Möglichkeit, sich anderswo als Städter zu fühlen und dort „die besten Tage des Jahres“ zu verbringen. In der fremden Innenstadt wird nach digitaler Anweisung dem gefrönt, was man im eigenen überlaufenen Zentrum nicht mehr macht: Einkaufen oder Museums-, Theater- und Restaurantbesuch. Das alles möglichst in verwinkelten Gassen und zwischen alten Häusern, die allerdings nur mehr leere Hüllen des gesellschaftlichen Treibens sind, das sie schuf.

Wie vieles in spätmodernen Zeiten, so ist auch dieses Verhalten nicht nur paradox, sondern dabei, sich selbst zu eliminieren – und die Innenstädte gleich mit. Man könnte es die negative Dialektik der Stadt nennen. Der heutige Nomadismus wird häufig auf die Wanderungsbewegungen von Wirtschaftsmigrant*innen und Asylsuchenden reduziert. Dabei ist er wesentliche Grundlage des marktliberalen Kapitalismus. Als Umzugsverhalten, das der Arbeit folgt, als Geschäftsreiseverkehr und eben wesentlich als Tourismus. Letzterer wiederum braucht die Kulissenwelt der historischen Zentren für seine Inszenierung eines besseren Lebens. So stehen denn tagtäglich lange Reihen von Tourist*innen auch aus Amsterdam, Berlin, Barcelona, Paris oder Venedig im ersten Bezirk Schlange, während dieser seine Funktion als kulturelles und gesellschaftspolitisches Zentrum der Stadt zunehmend zu verlieren droht.

Und es scheint als hätten sich die Wiener*innen schon ein Stück weit damit abgefunden. Vielleicht liegt es an der nüchternen Erkenntnis, dass die Zentren das Opfer sind, das Stadtgesellschaften sich in Zeiten der sozialen Beschleunigung gegenseitig bringen müssen. Norbert Kettner jedenfalls hat für das ausgerufene „Strauß-Jahr 2025“ große Pläne. Um die Tourismus-Zahlen weiter nach oben zu treiben, zielt Wien heuer auf den „größten je von uns bearbeiteten Markt“. Gemeint ist damit das Weltall.[7]


 

_______Quellen

[1] „Wien geht `durch das W´: Neue Markenkampagne der Metropole“, in: Der Standard, 19. Oktober 2016.

[2] „Tourismus-Chef Kettner erwartet `bestes touristisches Jahr aller Zeiten´ in Wien“, in: Die Presse, 21.11.2024.

[3] AzW (Hrsg.), Über Tourismus, Zürich: Park Books, 2024, S. 50.

[4] AzW (Hrsg.), Über Tourismus, Zürich: Park Books, 2024, S. 50.

[5] Eigenangabe der Diözese Wien: https://www.stephanskirche.at/faq.php (aufgerufen 03.02.2025). Selbstverständlich wird hierbei nicht zwischen Einheimischen und Touristen unterschieden.

[6] Wiens Tourismus in Zahlen, Geschäftsbericht Wien Tourismus, https://b2b.wien.info/de/wientourismus/waswirtun/geschaeftsberichte/geschaeftsbericht-2022/wiens-tourismus-in-zahlen-451520 (abgerufen 03.02.2025).

[7] Mirijam Marits, „Nach Rekord Touristenjahr 2024: Jetzt will Wien im Weltall werben“, in: Die Presse, 22.01.2025, https://www.diepresse.com/19281837/nach-rekord-touristenjahr-2024-jetzt….

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