Soziologische Notizen zum Wohnen in der Stadt
An der Kurtine, dem Wall, welche den Pfauengarten zum Grazer Stadtpark hin abgrenzt, hängt seit einigen Wochen ein Transparent mit der Aufschrift
Wessen Recht auf Stadt?
Dies nimmt Bezug auf die im Abschluss stehende Bebauung des Pfauengartens, der letzten großen unbebauten Fläche innerhalb der Grazer Stadtkrone. Drei Baukörper mit einer Nettonutzfläche von 10.000 Quadratmetern werden hochgezogen, 80 bis 90 Wohnungen sollen geschaffen werden. Das Transparent stellt nicht die Rechtmäßigkeit der Bebauung in Frage, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage, welche Interessensgruppen sich bei der Entscheidung für dieses Projekt wohl durchgesetzt haben: die Akteure des umgebenden Stadtviertels (Bewohner und Wirtschaftstreibende), Vertreter übergeordneter Gesichtspunkte der Stadtentwicklung oder die Kapitalanleger. Noch 2006 empfahl der von der Stadt Graz in Auftrag gegebene Masterplan Welterbe Graz für den Pfauengarten eine Freihaltung von Bebauung, um die „historischen Sichtverbindungen“ zwischen Stadtpark, Landesarchiv und Schloßberg zu bewahren. Die Investoren haben ihre Pläne durchgesetzt, wobei sie ihre öffentliche Rechtfertigung in erster Linie aus der geplanten Schaffung von neuem Wohnraum bezogen, die für die wachsende Stadt eine Notwendigkeit darstellt. In der Werbung wird aber schon vor der Fertigstellung die Zusammenlegung der eher kleinen, teuren Wohnungen zu Büroflächen angekündigt. Man wird sehen, welche Versprechungen erfüllt werden.
Die Konflikte im städtischen Raum lassen sich in erster Annäherung als Interessenskonflikte zwischen verschiedenen Nutzergruppen verstehen. Ich erwähne hier nur drei Gruppen: die Wirtschaftstreibenden (die immer seltener im selben Quartier auch wohnen), die Besucher der Stadt (Arbeits-pendler, Event-Besucher, Touristen) und die Bewohner. Die Interessen der Wirtschaftstreibenden sind auf die Erhaltung von Geschäftsvoraussetzungen gerichtet, deren realistischer Kern unter ihren Vertretern bisweilen sehr umstritten ist. Sind verkehrsberuhigte Zonen für den Geschäftsgang förderlich oder hinderlich? Die Besucher der Stadt sind vielfach in die wirtschaftlichen Prozesse eingebunden und werden deshalb bevorzugt gehört. Als Arbeitspendler brauchen sie freie Bahn innerhalb des städtischen Raums, als Kunden sind sie der Motor der innerstädtischen Wirtschaft, als reine Besucher schätzen sie die Stadt als Sehenswürdigkeit eigener Art oder nutzen die städtische Architekturkulisse für Inszenierungen in einer gesteigerten Eventkultur. Die Bewohner der Stadt sind in diesem Geflecht von einander kreuzenden Interessen meist die schwächste Nutzergruppe. Sie stehen den anderen Nutzungen oft buchstäblich „im Wege“, obwohl sie die Stadt „am Leben erhalten“ und davor bewahren, zu einer Geisterstadt zu werden. In Analogie zum ländlichen Raum könnte man sie die „Landschaftspfleger“ der Stadt nennen.
Jahrzehntelang haben Prozesse der selektiven Abwanderung dazu geführt, dass Menschen mit Mobilitätshindernissen im Zentrum geblieben sind, während Menschen mit besseren Mobilitätschancen „ins Grüne“ der suburbanen Zonen gezogen sind. Mit Interesse beobachtet mittlerweile die Stadtforschung, dass die Abwanderung aus der Stadt verebbt und mittlere und große Städte wieder in eine Wachstumsphase eingetreten sind. Die Stadt Graz hat zwischen 2001 und 2011 in der errechneten Wanderungsbilanz 33.950 Personen dazugewonnen, das sind 15 % der Bevölkerung von 2001. (1) Der von diesem Wachstum ausgelöste „Wohndruck“ müsste in seiner Struktur allerdings erst analysiert werden, um daraus den Neubau von Luxuswohnungen oder die Ankurbelung des Sozialen Wohnbaus ableiten zu können.
Die Pflege des städtischen Raums, insbesondere der historischen Altstadtzonen, wurde lange Zeit hindurch in erster Linie als Aufgabe der „Stadterneuerung“ gesehen, also der Modernisierung und Anpassung der materiellen Grundlagen des Wohnens an zeitgemäße Wohnbedürfnisse. Als planerische Grundlage wurde in Graz die Wohnqualität in verschiedenen Anläufen punktuell sehr genau erhoben, ihre räumliche Verteilung bezogen auf das gesamt Stadtgebiet wurde jedoch kaum untersucht. In einer Sonderauswertung der Häuser- und Wohnungszählung 1991 wurden die Kriterien der „Wohnungsbedürftigkeit“ für die Vergabe von Gemeindewohnungen auf die Volkszählungsdaten angewendet und für die 259 Grazer Zählsprengel ausgewertet (2). Die „Wohnqualität“ bezog sich dabei auf folgende Kriterien: Ausstattungskategorie i. S. des Mietrechtsgesetzes, Überbelag in der Wohnung, Kellerwohnung. Das mapping der kategorisierten Punktewerte zeigt, dass die Wohnqualität vor 20 Jahren keineswegs über das Stadtgebiet gleichverteilt war, sondern mangelhafte Wohnverhältnisse (rot eingefärbte Zählsprengel) auf die Bereiche der historischen Ortskerne in den Bezirken konzentriert waren (z. B. Eggenberg, St. Peter, Lend, Gries, Gösting). Die „Last der Vergangenheit“ hinsichtlich der Standards der Wohnversorgung wirkte offenbar noch weit in die Gegenwart hinein. 10 Jahre später zeigt die Sprengeldarstellung der Grazer Substandardwohnungen (ohne zentrale Beheizung), dass sich die Wohnqualität zwar insgesamt verbessert hat, die lokalen Disparitäten und Verteilungsmuster jedoch erhalten geblieben sind (3).
Die Aufwertung von innenstadtnahen, benachteiligten Wohnvierteln ist mittlerweile in ihrer sozialen Dynamik zu einem heißen Thema geworden. Die Stadtsoziologie charakterisiert idealtypisch den Ablauf von Aufwertungsprozessen unter dem Begriff der „Gentrifizierung“, wobei sich diese Wortwahl auf die historische Rückwanderung des englischen Landadels in die Zentren der Städte bezieht. Gentrifizierung ist mehr ein deskriptives Schema als eine soziologische Theorie: Zuerst ziehen (auf der Suche nach billigem Wohnraum) finanzschwache aber kreative „Pioniere“ in die abgewohnten, diskreditierten Viertel und bewirken die ersten positiven Veränderungen. Das macht die Quartiere attraktiv für die finanzstärkeren „Gentrifier“, welche die Aufwertung erst richtig in Gang setzen – bis die Mieten steigen, der Luxus Einzug hält und der billige Wohnraum wegsaniert wird. Dieser Vorgang wird immer wieder in folgender Weise metaphorisiert: „Wie eine Bugwelle schiebt die Gentrifizierung die sozial Schwachen vor sich her.“ In der Vernichtung von Wohnraum, der auch für sozial schwächere Gruppen leistbar ist, liegt die Schwachstelle der modernisierenden Stadtentwicklung. Das scheint im Zusammenspiel mit vielen anderen Problemen die europäische Stadt zu überfordern und lässt Kommunalpolitiker nach einem „Aufstand der Städte“ rufen. (4)
Aufwertungsprozesse sind mittlerweile in vielen europäischen Städten untersucht worden. Gegen den Verlust von Billigwohnraum hat sich vielerorts der politische Widerstand organisiert. Gentrifizierung ist zum Unwort geworden; ein Anti-Gentrification-Diskurs ist im Entstehen, der sich in zahlreichen Blogs, sozialen Medien und Internet-Seiten niederschlägt. Der Kampf gegen die Gentrifizierung hat nach britischen und amerikanischen Vorbildern mittlerweile die deutschen Großstädte erreicht. Die österreichischen Ausläufer sind noch zaghaft; immerhin sind die hohen Wohnungskosten zu einem Wahlkampfthema geworden. Soziologische Forschungsergebnisse zur Gentrifizierung werden bisweilen in ironisierter Form aufgegriffen. In einem sogenannten „Abwertungskit gegen Gentrifizierung“ wird im Internet vorgeschlagen, ein soziologisch „gut belegtes“ soziales Experiment in Gang zu setzen: Durch den Einsatz von gezielten Symbolen könnte man die Gentrifizierung eines Viertels verhindern. Defekt gehaltene Fensterscheiben, aufgehängte Wäsche und TV-Schüsseln an Balkonen (als Armutszeichen) könnten Pioniere und Gentrifier abschrecken und die Durchschnittsmieten im Viertel senken. (5)
Stadtforschung und Stadtsoziologie haben Hochkonjunktur. Was vor wenigen Jahren noch ein Feld für Spezialisten war, ist mittlerweile zu einem der produktivsten Felder der Gegenwartssoziologie geworden – in ihren empirischen wie auch theoretischen Beiträgen. Der städtische Raum wird nicht mehr als natürlicher „Behälter“ gesehen, innerhalb dessen sich die Stadt entwickeln kann, sondern der genutzte Raum wird als Ergebnis sozialer Konstruktionsleistungen erkannt. Jede Form der sozialen Praxis zieht eine eigene Form der Räumlichkeit nach sich. Der Raum des Konsumierens ist ein anderer als der Raum der Nachbarschaftsbeziehungen, der sozialen Netzwerke oder der Informationsbeschaffung.
Der praktische Nutzen von raumtheoretischen Überlegungen wird gelegentlich in Frage gestellt. Am Beispiel der Quartiersbildung und Quartiersidentifikation soll abschließend auf eine Schlüsselstelle der Stadtentwicklung hingewiesen werden, die eng mit den raumtheoretischen Überlegungen verbunden ist: der Übergang vom bloß administrativ vorgegebenen „Stadtbezirk“ zum „Stadtquartier“ mit identifizierten Bewohnern.
Da es für viele Probleme der Stadt keine rationalen und über den partikularen Interessen stehenden Lösungen gibt, suchen Stadtpolitiker ihr Heil in der basisdemokratischen Anrufung des Volksentscheids. Der städtische Bürger möge doch selbst darüber entscheiden, wie die Probleme gelöst werden sollen. Die soziologische Reflexion wendet dagegen ein, dass ein überlegtes, zeitlich stabiles und gegenüber kurzfristiger Propaganda immunisiertes Urteil vom Bürger nur dann zu erwarten ist, wenn er sozial eingebunden ist. Die soziale Integration geht der Mitbestimmung voran. Und die zentrale Form der Sozialintegration in der Stadt liegt in der Quartiersbildung, wenn Menschen sich als Bewohner und Nutzer eines (selbstgewählten) Viertels verstehen, sich für die dortigen Lebensbedingungen verantwortlich fühlen und bereit sind, gemeinsam mit den Mitbewohnern an dessen Gestaltung mitzuwirken. Die sozialen Beziehungen, die letztlich ein Stadtquartier ausmachen, erfordern eine gewisse Identifikation der Bewohner mit Ihrem Wohnquartier – ein minimales Engagement für die Aufrechterhaltung guter Lebensbedingungen im Quartier. Wenn in einem diskreditierten Stadtquartier die meisten Bewohner am liebsten wegziehen würden, dann hat die partizipative Stadtentwicklung schon verloren. Von einer identifizierten „Quartiersgesellschaft“ kann man erwarten, dass sie zur Mitwirkung an Planungs- und Entscheidungsprozessen bereit und imstande ist.
Die soziologische Quartiersforschung richtet neuerdings ihr Interesse darauf, unter welchen Bedingungen eine derartige Quartiersgesellschaft entstehen kann. Darunter fallen einige banale Voraussetzungen, die aber planerisch oft ignoriert werden und nur schwer in den Kompetenzbereich einer politischen Instanz oder einer Verwaltung gebracht werden können. Öffentliche soziale Beziehungen brauchen Begegnungsorte, die sich nicht beliebig herstellen lassen. Das Anknüpfen an Bestehendes hat Vorrang vor der Herstellung des Neuen. Quartiersbeziehungen brauchen Themen, welche die Menschen dazu bewegen, aus ihrer Privatsphäre herauszutreten. Das EU-weite Projekt der „Sozialen Stadt“ für „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf“ enthält viele Beispiele für kulturelle Initiativen, von denen quartiersbildende Wirkungen ausgegangen sind. Die „Eigenlogik“, die dem städtischen Raum zugeschrieben wird, hängt auch an Quartierscharakteristiken, die wie Identitäten entwickelt werden müssen.
Es gibt hervorragend dokumentierte Beispiele von Wohnvierteln mit an sich schlechten Voraussetzungen, in denen durch identifikatorische Bindung eine hohe Wohnzufriedenheit erreicht werden konnte – in Graz z. B. die Grünangersiedlung. (6) Diese identifikatorische Bindung ermöglicht spontane Leistungen im sozialen System, die „von oben“ nicht ohne größere Anstrengungen und Kosten zu Verfügung gestellt werden könnten: Mechanismen der sozialen (Selbst-) Kontrolle, die Devianzen abfedern, Problemfälle moderieren, gemeinsame Infrastruktur pfleglich erhalten. Deswegen ist es zunehmend wichtig zu verstehen, auf welchen Grundlagen solche Prozesse der Identifizierung beruhen.
Und schließlich: Stadtquartiere lassen sich nicht am Reißbrett erzeugen, sondern entstehen durch Grenzziehungen in der Raumwahrnehmung der Bewohner, in denen der Raum als Träger von Bedeutungen, historischen Bezügen und aktuellen Zuschreibungen konstituiert wird. Zusammenfassend ergibt sich die Folgerung, dass die Stadt die großen Zukunftshoffnungen, die auf ihr lasten, nur dann wird erfüllen können, wenn sie die eigenwillige, den Bewohnern und Nutzern überlassene Quartiersbildung zulässt und fördert.