02/07/2024

Der folgende Beitrag ruft dazu auf, unsere Baukultur durch den Weiterbau des Bestands lebendig zu erhalten. So wie sie sich in der Geschichte über Jahrhunderte entwickelt hat, siehe die beigefügte Darstellung des Amphitheaters von Arles.

02/07/2024

Das Amphitheater von Arles im 18. Jahrhundert (Stich)

Vergiss, indem du dich erinnerst! Vernichte, indem du erhältst! Nichts Neues und wenn Neues, dann alt. Und das Alte nur dann, wenn tot, das heißt aller ursprünglichen Vitalität und gesellschaftlichen Wirksamkeit beraubt. Entgegen anderslautender Präambeln: die Denkmalpflege liebt den Verfall. Am Prozess der Verwesung blüht die restaurative Spekulation, denn die Erfindung des Alten ist ihr eigentliches Ziel. Die Wiederherstellung des Originalzustandes ist ein Widerspruch in sich.

Ist erst das Leben, der Gebrauch, die Innovation aus Gebäuden gewichen, so sammeln sich die Leichensänger, beweinen wortreich das Elend, lassen darauf den Korpus ein wenig verkommen und zünden schließlich mit professioneller Akribie einen mehrstufigen Prozess. Den Gesetzen der Spekulation folgend lässt ein Eigentümer ein historisches Gebäude verfallen; oder Umbaupläne für ein solches werden bekannt. Seltener ist das Haus einfach auch schlecht geplant und gebaut und damit unbenutzbar, aber angeblich einmalig. Professionelle Späher entdecken den Leerstand und publizieren ihn. Über Gutachten wird dem Bauwerk Außergewöhnlichkeit attestiert. Der Verfall wird zum Fall und zur Empörung. In der folgenden Kanonisation zwischen Historikern, Kritikern und Beamtentum wird auf Ewigkeitswert erkannt. Die Behörde bescheidet und stellt unter Schutz. Dann wird die Leiche konserviert, geschminkt und stehengelassen. „Stets aber gelang es, Häuser fast noch bunter zu schildern als zu stellen. Dann erscheint erdichteter Bau, und zwar von der Art, wie das Märchen ihn hinzaubert.“, heißt es bei Ernst Bloch. Operation gelungen, Patient tot.

Wohin bewegt sich die Baukultur unter den Bedingungen des Denkmalschutzes? Was wächst noch, wo doch alles Gewachsene historisch und damit schützenswert ist? Gibt es eine Zukunft in der Vergangenheit? „Das bauliche Erbe ist ein hohes ideelles Gut, stellt aber auch eine wichtige materielle Ressource des Landes dar. Investitionen in dieses Kulturgut fördern nicht nur unmittelbar Wirtschaft und Gewerbe, sondern kommen über die Einnahmen aus dem Tourismus breiten Bevölkerungskreisen und letztlich auch wieder dem Staatshaushalt zu gute.“ So hieß es im Jahr 2000 aus Anlaß des 150-jährigen Bestehens des Denkmalschutzes in Österreich. So jung ist diese Bewegung. Und auch daher weht der Wind.

Schritt für Schritt strebt die Denkmalpflege ihrem Endpunkt entgegen: der unmittelbaren Mumifizierung des eben erst Gebauten. So wurde ein Gebäude von Helmut Richter aus dem Jahr 1994 unter Ewigkeitsschutz gestellt. Aufspiessen, klassifizieren, systematisieren, in Formaldehyd legen, ausstellen – irgendeine Nutzung wird sich schon finden. Cedric Price vertrat die Auffassung, dass Bauten nicht um ihrer selbst willen in die Welt gehörten und bezeichnete Baudenkmäler als "eitlen Horror". Kurioserweise mußte er sich 2003 bei dem von ihm begrüßten Abriß eines seiner wenigen Bauten, des Inter-Action Centre in Kentish Town, gegen seine eigenen Zeitgenossen wehren.

Der Denkmalschutz unterliegt einem ihm eingeschriebenen Paradoxon: Das meiste, was jetzt unter Schutz steht, würde nicht existieren, hätte es den heutigen Denkmalschutz zu Zeiten seiner Entstehung bereits gegeben. Ein Großteil der Wiener Innenstadt wäre nicht vorhanden, ebensowenig die Boulevards in Paris. Anstatt das Pantheon zu errichten, hätte man den Tempel des Agrippa restaurieren müssen. Alles, was geschichtlich gewachsene Städte ausmacht, baute (im eigentlichen Sinne des Wortes) auf eine Kontinuität des Verfalls, der Zerstörung, des Eingriffs, des Umbaus, der Ergänzung - und zwar im Kern der Stadt, an den wichtigsten Objekten der Baukultur. „Derselbe Raum verträgt nicht zweierlei Ausfüllung“ schreibt Freud in Das Unbehagen in der Kultur. Und weiter: „Machen wir die phantastische Annahme, Rom sei nicht eine menschliche Wohnstätte, sondern ein psychisches Wesen […] in dem also nichts, was einmal zustande gekommen war, untergegangen ist. […] Es hat offenbar keinen Sinn, diese Phantasie weiter auszuspinnen, sie führt zu Unvorstellbarem, ja zu Absurdem.“

Doch muss Erhalt nicht eben gerade in Zeiten des Klimawandels auch zum zentralen Prinzip werden? Vor zwei Jahren hat ein breites Bündnis deutscher Architektur-, Kultur- und Umweltschutzorganisationen ein Abrissmoratorium gefordert. Heute sei „nicht der Erhalt von Gebäudestrukturen erklärungsbedürftig, sondern ihr Abriss“, ist darin zu lesen. Sowie die furchteinflößende Erweiterung, dass die Erhaltung sich nicht auf Denkmäler beschränken dürfe, sondern den gesamten Baubestand umfassen müsse.

Schaukeln sich Ökologie und Denkmalschutz also zur Totalkonservierung auf? Oder wäre gar das Gegenteil möglich und durch diese Forderung könnte die Erstarrung des Alten gestoppt werden? Eben durch das Beharren auf dem Erhalt von Material und verbauter Energie könnte jene Tradition des Umbaus und Weiterbaus, die um Ewigkeiten älter ist als der Denkmalschutz, wieder zu ihrem Recht kommen. Denn auch das Abrissmoratorium verlangt nach „Sanierung, Umbau und Weiterbauen im Bestand.“

Es geht also nicht um die formale Erhaltung sozial entleerter Bausubstanz. Im Gegenteil. Die notwendige Konsequenz ökologischen Denkens wäre nicht die Vervielfältigung von Denkmälern, sondern der radikale Umbau des Bestehenden. Nur so könnten obsolet gewordene Bauwerke wieder an das gesellschaftliche Leben angeschlossen werden.

Die derzeitige Praxis sieht zumeist anders aus, wie viele Beispiele totrestaurierter Gebäude belegen. Ihr scheint die gesellschaftliche Wirklichkeit erst als Sediment erträglich, befreit von Unruhe und Widersprüchen, von Anstoß und Veränderung. Häufig gilt, was Peter Handke in "Wunschloses Unglück" über den Tod seiner Mutter schrieb: „Das Begräbnisritual entpersönlichte sie endgültig und erleichterte alle“.

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