26/01/2009
26/01/2009

Baracken des Knittelfelder Gefangenenlagers, 1914-15. FotografIn unbekannt, Bild und Tonarchiv Graz

Mehlmagazin im Gefangenenlager. FotografIn unbekannt, Bild und Tonarchiv Graz

Spitalsbaracke 112, Venerische Abteilung, um 1915-16. FotografIn unbekannt, Privatsammlung Erich Schreilechner

Behandlungsraum, um 1915-16. FotografIn unbekannt, Privatsammlung Erich Schreilechner

Lagerbaracken werden zu Notstandswohnungen umfunktioniert, ca. 1920er-Jahre. FotografIn unbekannt, Stadtarchiv Knittelfeld

Baracke 22a. FotografIn unbekannt, Stadtarchiv Knittelfeld

Die Knittelfelder Neustadt 2008. Foto: Marietta Wolf, Stadtgemeinde Knittelfeld

Ein Stadtteil im Nordwesten von Knittelfeld, genannt die „Neustadt“, steht im Mittelpunkt des Erinnerungsprojektes „GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT?“, dessen Ergebnisse im Sommer in einer Ausstellung dort gezeigt werden sollen. Es bewegt sich erfreulicherweise abseits der andernorts bereits hinlänglich abgearbeiteten Themen Schrumpfung und Deindustrialisierung in den obersteirischen Industrieregionen.

Das Projekt widmet sich nicht nur der sukzessiven Umnutzung und historischen Entwicklung des Areals, sondern wirft die Frage auf, inwiefern soziale Zuschreibungen und Vorurteile ein ganzes Stadtviertel und seine BewohnerInnen prägen und stigmatisieren können.

Besonders interessant erscheint dabei, dass die Transformationen eines Stadtteils hier aus der Perspektive der Identitätskonstruktionen, (Selbst-)Zuschreibungen, Erinnerungen und Ausblendungen thematisiert werden. Der konkrete Ort gewinnt an Dimension: Die „große“ Geschichte, die dem Ort eingeschrieben ist, wird in der persönlichen Erinnerung fassbar. Institutionen und Privatpersonen in der Region arbeiten bereits seit Jahren engagiert an einer Aufarbeitung dieser Geschichte. Zum Gelingen dieses Projektes werden vom Bild- und Tonarchiv/Büro der Erinnerungen (Landesmuseum Joanneum) noch Personen gesucht, die persönliche Erinnerungen mit der Knittelfelder Neustadt verbinden. Bitte melden! (Kontaktstelle siehe weiter unten.)

Das Projekt setzt zeitlich am Anfang des Ersten Weltkrieges an: Auf einem riesigen Areal (rund 450.000 m²) entstand auf Betreiben eines Großgrundbesitzers und Industriellen nordwestlich des Knittelfelder Zentrums ein Lager. Es nahm Kriegsgefangene – in der Mehrzahl aus dem zaristischen Russland – auf. Die Belegung des Barackenlagers war um ein Mehrfaches höher als die EinwohnerInnenzahl Knittelfelds – 1915 wurden 30.000 Gefangene gezählt. Im selben Jahr, mit Beginn der berüchtigten Schlacht am Isonzo, änderte das Lager seine Bestimmung: Nun wurden hier bis zu 5.000 verwundete Soldaten in den zu Spitalsräumen umfunktionierten Baracken aufgenommen, nur um sie nach ihrer Genesung wieder zurück an die Front zu schicken.

Die Wohnungsnot unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg führte dazu, dass die nun leer stehenden ehemaligen Lagerbaracken als "Notstandswohnungen" genutzt wurden. Nach deren Abriss und der Neuerrichtung von Wohnbauten entwickelte sich die „Neustadt“ allmählich als Stadtgebiet an der Peripherie von Knittelfeld mit leistbarem Wohnraum für sozial Schwächere. Die „Neustadt“ hatte aber, wohl nicht zuletzt wegen der Erstnutzung des Areals, bald das negative Image des "berüchtigten Ecks", verbunden mit den üblichen Zuschreibungen und Vorurteilen.

Das änderte sich erst mit der Wiederaufbaueuphorie der Nachkriegszeit, als sich hier um 1960 ein gutsituiertes Familienwohn- und Gewerbeviertel entwickelte. „Während über mehrere Jahrzehnte hinweg den BewohnerInnen der Neustadt keine mögliche Existenz in der ‚Normalgesellschaft‘ zugestanden wurde, scheint dieses Viertel die besten Voraussetzungen für eine gelungene Integration sowohl in das Stadtbild, als auch in die Stadtgemeinschaft gehabt zu haben“, so die Beurteilung der BetreiberInnen des Erinnerungsprojektes.

Trägerin des Projektes „GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT?“ ist die "ARGE Knittelfelder Neustadt“, eine lose Plattform, die sich aus Mitgliedern des Landesmuseum Joanneum, der Stadtgemeinde Knittelfeld, der Urania Steiermark (Knittelfeld), HistorikerInnen der Karl-Franzens-Universität und weiteren Privatpersonen zusammensetzt.

Die geplante Ausstellung soll im ehemaligen Pumpenhaus – dem einzigen erhaltenen baulichen Relikt des Gefangenenlagers – ihren Standort haben. Geplant sind darüber hinaus auch eine Publikation und eine Vortragsreihe.

GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT?
Die Entwicklung der Knittelfelder Neustadt vom Gefangenenlager zur aufstrebenden Wohngegend

Ausstellungseröffnung: 4. Juni 2009

Projektkoordination:
Mag. Gundi Jungmeier
Bild- und Tonarchiv/Büro der Erinnerungen

Landesmuseum Joanneum
Palais Attems
Sackstraße 17, 8010 Graz, Österreich

T ++43 (0)316/8017-9412
F ++43 (0)316/8017-9422
gundi.jungmeier@museum-joanneum.at
www.museum-joanneum.at

Verfasser/in:
Antje Senarclens de Grancy, Bericht
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