19/06/2024

Christian Kühn ist Architekturkritiker, Professor an der TU Wien, Vorsitzender der Architekturstiftung Österreich und des Beirats für Baukultur. In der ersten gedruckten Ausgabe der GATzine #1 Netz stellt er Überlegungen zum Begriff der Baukultur1an, die ihn schon länger begleiten.

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19/06/2024

 Otto-Wagner-Villa, Hüttelbergstraße 26, Penzing (Wien), Foto: C.Stadler/Bwag, CC BY-SA 4.0

Der Begriff „Baukultur“ hat sich in den letzten Jahren als Sammelbegriff für alle Aktivitäten zur baulichen Gestaltung unserer Umwelt durchgesetzt. Wie jede Kultur ist auch Baukultur eine kollektive Praxis, also etwas, das Menschen gemeinsam tun: Ohne Gesellschaft gibt es keine Kultur.

Kultur äußert sich in Werken, wobei dieser Begriff vieles umfasst, etwa Gegenstände, Bilder, Texte, Musik- und Theateraufführungen. Im Bereich des Bauens zählen dazu Häuser und technische Bauwerke ebenso wie Städte, Dörfer, Gärten und kultivierte Landschaftsräume.

Kunst ist ein Teilgebiet der Kultur, das eigenen Regeln gehorcht. Während Werke im Allgemeinen bestimmten Zwecken dienen, findet die Kunst zumindest bis zu einem gewissen Grad ihren Zweck in sich selbst. Der Punkt, an dem Kultur Kunst wird, ist nicht fixiert. Er verändert seine Lage je nach Perspektive und in einem kontinuierlichen Prozess von Anregung und Abgrenzung. Das gilt besonders für die Baukunst, die so gut wie nie zweckfrei sein kann.

Nicht jedes Werk der Baukultur muss Baukunst sein. Wichtig für eine erfolgreiche Baukultur ist jedoch der Konsens unter den Akteur:innen, dass jedes Werk der Baukultur das Potenzial hat, eines der Baukunst zu werden, und zwar unabhängig von seinem Zweck. Ein Krankenhaus, ein Wohnbau, selbst ein Fahrradschuppen können ein Werk der Baukunst sein, und umgekehrt sind weder eine Kathedrale noch ein Regierungssitz nur aufgrund des hohen Status ihrer Zweckbestimmung von vornherein Baukunst.

Eine hohe Baukultur erkennt man an der Qualität der Werke, in denen sie sich äußert. Das führt folgerichtig zur Frage, woran man diese Qualität erkennt. Eine der kompaktesten Antworten darauf stammt von Otto Wagner2. Bei der „Beurteilung eines Bauwerks möge sich der Laie folgender Formel bedienen: 

1. Ist die Locierung eines Bauwerks eine richtige? 
2. Erfüllt das Werk seinen Zweck in möglichst bester Weise?
3. War die Wahl des Ausführungsmaterials des Werkes eine glückliche und ökonomische?
4. Wurde die praktischste Art der Konstruktion verwendet und
5. Sind die Kunstformen logisch und schöpferisch aus den angeführten Prämissen entstanden?“ 

Die Begriffe „logisch“ und „schöpferisch“ im fünften Punkt weisen auf zwei unterschiedliche Zugänge zur Baukunst als gestalterischer Praxis hin: einen rationalen und argumentierbaren und einen bedingt autonomen, im Extremfall irrationalen, der seine Begründung in sich selbst findet.
Gelungene Baukunst braucht beides. Otto Wagner hat diesen Gedanken in seiner ersten eigenen Villa aus dem Jahr 1886 in Stein gemeißelt: Auf deren Seitenrisaliten finden sich zwei Tafeln aus rotem Marmor mit Inschriften; auf dem linken Risalit „Sola artis domina necessitas“, auf dem rechten „Sine arte, sine amore, non est vita“. Den ersten Satz hat Wagner von Gottfried Semper übernommen: „Nur einen Herrn kennt die Kunst, das Bedürfnis“. Er steht für die rationale Seite der Baukunst. Den zweiten illustriert Wagner in der Erscheinung der Villa selbst, die vor Lebensfreude zu explodieren scheint.

Baukultur lässt sich aber nicht nur an ihren Werken messen. Wenn Baukultur eine Praxis ist, hat auch diese Praxis selbst Qualitätsmerkmale, die sich von denen der Werke unterscheiden. Während der Werkbegriff sich auf Gegenstände bezieht, die einen Anfang und ein Ende haben, lassen sich Baukultur und Baukunst als kontinuierliche Prozesse verstehen, also als Abfolge von Zuständen, deren Qualität anders bewertet werden muss als jene von Werken. Im Unterschied zu einem Werk der Baukultur kann gute Baukultur per se nicht „schön“ sein. Aber sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie für und um Schönheit streitet, sich also zuerst zur Haltung durchringt, dass Schönheit ein wichtiges Kriterium für Werke der Baukultur und der Baukunst ist, und in weiterer Folge im konkreten Anlass versucht, diesen Anspruch auf Schönheit mit Leben zu erfüllen, im Bewusstsein, dass die ästhetischen Maßstäbe, die sie dabei verwendet, nicht absolut sind.

Die Vermischung von Qualitätskriterien, die auf Werke zugeschnitten sind, mit solchen, die auf Prozesse zugeschnitten sind, führt zu einer begrifflichen Unschärfe, von der auch prominente Ansätze betroffen sind. So definiert etwa das „Davos Qualitätssystem für eine hohe Baukultur“3 acht Eigenschaften „hoher Baukultur“, zu denen etwa die Eigenschaften „Ein Ort hoher Baukultur ist schön“ und „Hohe Baukultur erfüllt ihren Zweck“ gehören, die eindeutig werk- und nicht prozessbezogen sind. Die Dynamik der Begriffsinhalte von „Schönheit“ und „Zweck“ wird damit nicht ausreichend berücksichtigt.

Auch die österreichischen „Baukulturellen Leitlinien des Bundes“ aus dem Jahr 2017 sind von ähnlichen begriffliche Unschärfen betroffen4, allen voran die Formulierung „Gute Baukultur ist schön.“ Als Mitautor dieser Leitlinien erlaube ich mir im Folgenden, eine adaptierte Variante dazu vorzustellen, die begrifflich präziser und um fehlende Aspekte erweitert ist, etwa im Anspruch an gute Baukultur, innovativ zu sein. 

Gute Baukultur ...

... ist nachhaltig: sie sucht den langfristigen Ausgleich zwischen sozialen, ökonomischen, ökologischen und kulturellen Zielsetzungen.
... streitet für und um Schönheit: sie orientiert sich an ästhetischen Maßstäben im Bewusstsein, dass diese nicht absolut sind.
... ist innovativ: sie fordert Konventionen heraus und sucht nach neuen Herausforderungen und Lösungen.
... verbindet: sie bezieht Nutzer:nnen und sonstige Betroffene in die Gestaltung von Gebäuden und Freiräumen ein. Diese Personen können ihr Wissen und ihre Interessen in transparenten Prozessen einbringen und erfahren mit ihren Anliegen Berücksichtigung. 
... ist geschlechtergerecht: sie berücksichtigt die Interessen und Bedürfnisse von Frauen, Männern und Diversen bei der Planung, Umsetzung und Evaluierung aller Konzepte, Projekte und Maßnahmen in gleicher Weise. 
... ist gesundheitsfördernd: sie gestaltet Gebäude und Freiräume auf der Grundlage des aktuellen Kenntnisstandes zu Hygiene, Gesundheit und Komfort. 
... schafft Identität: Indem sie ästhetisch und technisch hohe Ansprüche an die Gestaltung von Städten, Orten und Landschaften stellt, trägt sie positiv zum Selbstbild einer Gesellschaft bei. 
... ist zweckmäßig: Sie führt zu Lösungen, die bedarfsgerecht und wirtschaftlich in Errichtung und Gebrauch sind.
... ist ressourcenschonend: sie geht maßvoll mit der Landschaft und dem Boden, mit bestehenden Gebäuden, mit Energie und Rohstoffen um. 
... legt Wert auf sorgfältige Planung und hochwertige Ausführung bis ins Detail.
... ist anpassungsfähig: sie reagiert robust auf technologische, ökologische, ökonomische und soziale Veränderungen und beachtet die Diversität unserer Gesellschaft.

Aufmerksame Leser:innen dieses Texts werden bemerkt haben, dass ich einen Begriff bisher vermieden habe: Architektur. Dieser Begriff gehört uns Architekt:innen nicht mehr. Schon Immanuel Kant hat ihn sich in der Kritik der reinen Vernunft als „Architektonik“ angeeignet, unter der er die „Kunst der Systeme“ verstand. Heute entwerfen Systemarchitekt:innen komplexe Softwarearchitekturen, Ökonomen sprechen von der Architektur zukünftiger Währungssysteme und Politiker:innen von Sicherheitsarchitekturen.

Ich habe kein Problem damit, den Alleinanspruch auf den Begriff aufzugeben. Die Architektur der Zukunft wird sowieso die Grenzen der etablierten Disziplinen sprengen. Architektur als Kunst der Systeme könnte der „Common Ground“ sein, auf dem sie sich neu formieren. 



 _________Quellen

_1 Erschien in: Verena Konrad, Liber Amicorum für Thomas Jakoubek; Verlag Edition Breitenstein, 2023, S. 24-29.
_2 Aus: Otto Wagner, Die Qualität des Baukünstlers, 1912.
_3 Davos Qualitätssystem für eine hohe Baukultur, Schweizer Bundesamt für Kultur, Bern 2021.
_4 Baukulturelle Leitlinien des Bundes, 2017 

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