„I don`t like to be called an experimental filmmaker“, sagte Peter Kubelka vor einigen Jahren im Rahmen eines aufgezeichneten Gesprächs im Wiener Filmmuseum.[1] Das Attribut „experimentell“ diene dazu, seine Arbeit und die anderer Filmschaffender als Randerscheinung, als nebensächliche Kuriosität abzutun. „I think it is a Schimpfwort. Experiment? No! I make films.“ Niemand würde auf die Idee kommen James Joyce als experimentellen Schriftsteller, Louise Bourgeois als experimentelle Bildhauerin zu bezeichnen. Auch Kubelkas Gesprächspartner, der Filmregisseur Jonas Mekas, wird nicht müde in dieselbe Kerbe zu schlagen: „When a filmmaker films, or a painter paints, he or she does a good painting or a bad one, but they don´t experiment. [...] Theres no experiment in it. Life is there and I want to access it. I don`t need to experiment.“ Die beiden reden sich förmlich in Rage, was unweigerlich eine gewisse Komik entfaltet.
Ein Experiment ist seiner ursprünglichen Wortbedeutung nach ein Versuch, eine Erprobung. Diese Art der Erkundung der Welt hat sich in den Naturwissenschaften durchgesetzt, mit genauen Regeln der Bewertung ihres Ausgangs. Die Grundannahme ist die, dass durch Experimente bestimmte Annahmen über die Welt geprüft und dadurch für wahr oder falsch befunden werden können. Dazu braucht es klar festlegbare Rahmenbedingungen, eine Kontrolle des Verlaufs und die notwendige Voraussetzung, dass ein Experiment scheitern oder erfolgreich sein kann. Genau aus diesem Grund gab und gibt es in den Wissenschaften von Anfang an ein Unbehagen bezüglich Experimenten, die in menschliches Leben eingreifen. Denn in diesem Fall hat das Scheitern tragische Folgen.
In der Architektur hingegen hat sich der Begriff schon seit Jahrzehnten etabliert. „Experimentelle“ Architektur beschränkt sich dabei längst nicht auf technische Problemfelder des Hoch- und Tiefbaus. Vielmehr wird der Anspruch damit verbunden, an den Grundlagen der Disziplin zu arbeiten. Kommerzielle Unternehmen und Hochschul-Institute führen ihn heute gleichermaßen im Namen.
Doch gerade in der Architekturlehre zeichnet sich eine kritische Tendenz ab: nämlich jene, dass eben dort, wo das Experiment zur institutionalisierten Vorgabe wird, die Realität immer weiter in den Hintergrund rückt. Immer seltener werden Studierende dort dazu ausgebildet, konkrete sozialräumliche Missstände zu benennen, um mit architektonischen Mitteln an deren Überwindung zu arbeiten. Es scheint vielmehr, als würde der Versuch unternommen, die Wirklichkeit ein Stück weit auszublenden. Das mag als Übung legitim und sogar wichtig sein. Bedenklich aber wird es, wenn Studierende, denen die Grundlagen ihrer Disziplin noch fehlen, von Beginn ihres Studiums an dazu angeleitet werden, blind zu experimentieren: mit digitalen Tools und Robotern, mit Wachs und Algen.
Vorgaben durch die Lehrenden – sie dienen in der Regel der schrittweisen Komplexitätssteigerung von Aufgabenstellungen – nehmen dabei zunehmend die Form von Anleitungen an. Die Ergebnisse sind auf diese Weise kaum mehr als die Bestätigung der Außergewöhnlichkeit des pädagogischen Konzepts. Die so erzeugten Formen beziehen sich nicht länger auf ein gemeinsames Wir, auf eine geteilte gesellschaftliche Wirklichkeit, sondern als Selbstzweck auf das eigene Ich.
Das soziale Vakuum, das eine derartig abstrakte Architekturproduktion zwangsläufig erzeugen muss, wird stattdessen mit Geschichten gefüllt. „Narrative“ sollen architektonische Kategorien und Begriffe überwinden, das Feld der „klassischen Architektur“ und ihrer Arbeit an der Gesellschaft leichtfüßig überspringen. Doch um mit einer Regel zu brechen, muss man sie kennen, lautet ein gängiges Sprichwort.
Das stärkste Fernrohr, so Ernst Bloch, jenes des geschliffenen utopischen Bewusstseins, benötige man nicht, um in die Ferne zu blicken, sondern gerade um die Dunkelheit der nächsten Nähe zu durchdringen. Mit derartigem utopischem Schaffensdrang hat ein selbstbezogenes „experimentelles“ Arbeiten kaum noch etwas gemein. Erzeugt werden vielfach aufmerksamkeitswirksame Bildgeschichten – maßgeschneidert für die „sozialen“ Medien, die dementsprechend ausgiebig bedient werden.
Während eine auf Veränderung drängende Raumproduktion Schritt für Schritt zum Erliegen und der Disziplin dadurch das Nachdenken über das Vorhandene abhandenkommt, läuft jene Architektur, die sich selbst experimentell nennt, damit Gefahr sich der Logik der Kulturindustrie auszuliefern. Die Wirklichkeit wird unter Begehrlichkeiten und „Narrativen“ verschüttet. „Mitten im lärmenden Storytelling“, schreibt Byung Chul Han, „herrscht ein narratives Vakuum, das sich als Sinnleere und Orientierungslosigkeit äußert.“[2]
Nicht wenige Architekturabsolvent*innen gelangen auf diese Weise zu der nüchternen Erkenntnis, dass „klassische“ Architekturarbeit[3] für sie fortan unvorstellbar sei. Die Lobotomie ist vollzogen. Der Möglichkeitssinn ist von der gesellschaftlichen Realität getrennt und wird als Produktionsmittel zur Selbstvermarktung verbraucht. Die Frage ist doch: Welche Gesellschaft hat Architektur zum Ziel? Will sie Appell an eine Gemeinschaft von Menschen sein, oder einzelne von ihnen affizieren, sprich gefühlsmäßig reizen und zum Staunen bringen?
Im Wiener Filmmuseum wird man sich schließlich einig. „We don´t experiment [...] The industry experiments“ so Kubelka. Sie sei es, die mit dem Publikum und dessen Reaktionen experimentiere. In der Kunst gehört es bekanntlich seit jeher zum guten Ton, Fremdzuschreibungen wie diese vehement abzulehnen. Zugleich aber drückt sich in der Zurückweisung des Begriffs „Experiment“ eben auch ein intellektueller Schaffensdrang aus, der sich den ideologischen Verdrängungsmechanismen der Kulturindustrie zeitlebens verweigert hat.
[2] Byung-Chul Han, Die Krise der Narration, (Berlin; Matthes & Seitz, 2 Auflage, 2023), S.9.
[3] „In einem klassischen Architekturbüro anfangen“ ist die gängige Formulierung, was auch immer damit gemeint sein soll.
Höchst anregend, danke! Es…
Höchst anregend, danke! Es ist zu hoffen, dass diese kluge Aufforderung zum Nachdenken an die richtigen Stellen gelangt, die ich an den Universitäten sehe. Und dass Studierende nicht falsche Schlüsse daraus ziehen: denn das Nachdenken über Sinn und Qualität des Gegenwärtigen (zB im Wohnungsbau) soll doch keineswegs dazu führen, nicht innovativ und phantasievoll Neues zu denken und experimentell umzusetzen.