28/09/2009
28/09/2009

"Durchschnitt", gestickt

In einer der Kojen des Tempels stand Franz Schuh den BesucherInnen für Fragen und Diskussionen zur Verfügung

Bläser

Eröffnungsabend: Intendantin Veronica Kaup-Hasler (re) im Gespräch mit Indrid Lechner-Sonnek

Claudia Schmid

Fotos: E. mil

Zunächst wirkt der „Tempel der Vernunft“ in der Helmut-List-Halle, mit dem sich der steirische herbst dieses Jahr eröffnete, wie ein Remake. Die Konstruktion des Tempels (24 ineinander verschachtelte, durch halbtransparentes Material getrennte Bereiche) und die Gleichzeitigkeit der Abläufe in ihnen hatte man doch schon im herbst 2003 (am selben Ort) unter dem Titel „insideout“ von Sascha Waltz gesehen. Dass in vielen Räumlichkeiten „echte“ Experten oder deren künstlerische Stellvertreter „Wissen“ vermitteln, war doch so ähnlich schon 2007 in „Schwarzmarkt für nützliches Wissen“, ebenfalls eine Produktion der Intendantin Kaup-Hasler, zu sehen. Und das „Theater im Bahnhof“ wiederholt mit seiner, an sanfte Sportberichterstattung erinnernden Kommentierung sozialer Rituale einige seiner gelungeneren Inszenierungen. Aber vermutlich liegt gerade darin das Neue und die Qualität der Installation. In einer Gesellschaft aus Kennern des Spektakels braucht es Geschick, diese industrielle Kunstform eben nicht industriell wirken zu lassen. Und man braucht Selbstvertrauen, den antiklerikalen Impetus der Jakobiner von 1793 in einen sanft-verspielten Diskurs der Diskurse – All the Same – zu verwandeln. Bestanden die Revolutionäre damals auf die „Zentralperspektive der Rationalität“, präsentierte diese herbst-Eröffnung, vom Kartenlegen über Wirtschaftstheorie bis zum Happening, alles in einer flachen Hierarchie. Manches gelang sehr gut, vielleicht weil da die „Kunst“ für eine Perspektive sorgte: Das Mädchen, das „Durchschnitt“ in die Trennwand stickte; der Boden mit Seiten aus dem Telefonbuch, auf denen man sich verorten konnte; die nackten Männer in Zeitlupe. Die Relevanz dieses (neuen) Tempels der (neuen) Vernunft liegt im Architektonischen. „Tempel der Vernunft“ war ursprünglich die umfunktionierte Kathedrale Notre-Dame de Paris, die Anordnung in der List-Halle übernimmt das Arrangement der Supermärkte als gegenwärtige Tempel: Überangebot in den Regalen, Platzmangel in den Gängen. Selbst das Buffet entsprach diesem Verzicht auf ein Zentrum (und damit auf eine Perspektive). Kein weiß gedecktes Schlachtfeld, um das sich ansonsten alle drängelten. Dafür mischten sich eigenartig geschminkte, junge Leute mit ihren Tabletts unter die Gäste und boten Verschiedenstes an. Der Kampf ums Essen, die Befriedigung oder Frustration blieben ohne Ort. An seine Stelle trat dieses diffuse, realistische Gefühl, eben nur – wie alle anderen – ein bisschen zu kurz gekommen zu sein. Ganz gegenwärtig war dafür unsere Dienstleistergesellschaft in Gestalt der ausnehmend freundlichen, klugen Servicemitarbeiter.
Als Gesellschaftsmetapher war diese Eröffnung schon wieder genial. Auch wenn nebenan ganz konventionell der „Zirkus Knie“ lockte – womöglich mit „Utopie und Monument“.(Anspielung des Autors auf die steirische herbst-Ausstellung "Utopie und Monument", die am 25. September, um 18.00 Uhr im Pavillon am Platz der Freiwilligen Schützen/Bad zur Sonne eröffnet wird; Anm. d. Red.).

Verfasser/in:
Wilhelm Hengstler, Kommentar
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