17/06/2011
17/06/2011

„Zweite Welten“ – das Leitmotiv des diesjährigen steirischen herbst – fragt nach kulturellen, sozialen, politischen, psychologischen Parallelwelten: als gedankliche Alternativen, Denkmodelle, Hebel für Paradigmenwechsel, die uns plötzlich die Dinge anders sehen lassen. Den Blick, die Parameter etwas verschoben und schon geraten die Dinge ins Rutschen: Den Fokus anders eingestellt, das Klare verschwimmt, das Verschwommene wird klar und wir erkennen andere Strukturen, andere Schichten, andere Wirklichkeiten. Die diesjährige herbst-Ausstellung „Zweite Welt“ – konzipiert vom kroatischen Kuratorinnenkollektiv What, How & for Whom / WHW – nutzt das Potenzial möglicher und unmöglicher zweiter Welten als Projektionsfläche für imaginäre und politische Perspektivenwechsel – und ist doch fest in der geopolitischen Wirklichkeit unserer Zeit verwurzelt. Um eine Parallelwelt mitten im Leben dreht sich die herbst-Konferenz „Der Patient“. Theoretiker und Praktiker gehen der Frage nach, welche Rolle Krankheit als permanent präsente zweite Welt inmitten der ersten heute spielt.

Eröffnet wird der steirische herbst mit der jüngsten Arbeit einer der wichtigsten Choreografinnen unserer Zeit: Anne Teresa De Keersmaeker vermischt in „Cesena“ die getrennten Welten von Musikern und Tänzern mit ihrer Kompanie Rosas und dem Vokalensemble Graindelavoix unter der Leitung von Björn Schmelzer, indem sie Tänzer singen und Musiker tanzen lässt. Zu einer Musik, die aus einer zeitlich weit entfernten Welt stammt: der Ars subtilior aus dem ausgehenden 14. Jahrhundert, die in ihrer Komplexität und Abstraktion paradoxerweise durchaus einem zeitgenössischen Musikverständnis entspricht. Weitere Arbeiten kommen von der schwedischen Choreografin und Filmemacherin Gunilla Heilborn und dem Theater im Bahnhof zusammen mit Robin Arthur (Forced Entertainment). Wie kann man seinen eigenen Körper loswerden – das fragt Eszter Salamon in ihrem neuen Stück „Tales Of The Bodiless“ und lädt zu einer Reise durch Regionen greifbarer Sinnlichkeit: dynamische Kompositionen aus Stimmen, Klang, Licht und Raum.

In eine drastisch-physische Theaterwelt lässt uns der argentinisch-spanische Regisseur Rodrigo Garcia eintauchen. Sein „Gólgota Picnic“ ist eine wütende Abrechnung mit der westlichen Zivilisation. Im Rahmen des Text- und Theaterprojekts „Welche Welt?“ hat der steirische herbst die drei jungen, mit Graz eng verbundenen Autoren Gerhild Steinbuch, Johannes Schrettle und Jörg Albrecht eingeladen, in sehr unterschiedlichen Arbeitskonstellationen auch über die eigenen Modelle des Zusammenarbeitens im Theater nachzudenken. Der Bogen der performativen Arbeiten reicht weiter von Miguel Gutierrez’ Künstlermonolog „Heavens what have I done“ über Lotte van den Bergs bildstarke Reflexion über die eigene Fremdheit im Kongo unter dem Titel „Les spectateurs“ bis hin zum tiefen Eintauchen in die virtuelle Welt der belgischen Gruppe CREW: In Eric Joris’ sensorischem Theater verschwimmen die Trennlinien. Zwischen Technik und Körpern, Virtualität und Realität, drinnen und draußen.

Das diesjährige Festivalzentrum, das von Maruša Sagadin entworfen wird, ist eine eigene Welt in der Welt: Als Festivaldistrikt erstreckt es sich zwischen dem Grazer Südtiroler Platz und dem Mariahilferplatz. Für vier Wochen entsteht eine gated community, ein kosmopolitisches Städtchen in der Stadt – mit einem Hang zu Größerem. Und geradezu unheimlich freundlich: Club, Kino, Hotel, Bar, von experimenteller Elektronik bis zur Ausstellung, von der Party bis zur Theorie. Im Hotel, Zimmer 113, in welches für jeweils ein paar Tage der finnische Künstler Hans Rosenström, die amerikanische Performerin Ann Liv Young, Orthographe aus Italien und Heine Røsdal Avdal und Yukiko Shinozaki, von der belgischen Performancegruppe deepblue, einziehen. Ein paar Häuser weiter der Laden: Die rumänische Künstlergruppe Apparatus 22 bittet hier zur Albtraum-Therapie, Cupola Bobber aus den USA betreiben eine „Public Question Library“ und der in Wien lebende japanische Künstler Michikazu Matsune öffnet eine Woche lang sein eigenwilliges „Tourist Office“. In eine Agora verwandelt Jan Ritsema den Laden. In diese lädt er vierzehn Künstlerinnen und Künstler aus zwölf Ländern, um Sorgen, Wissen, Aktionen rund um das Konzept des öffentlichen Raumes zu diskutieren – ein Prozess, der schließlich in die Premiere von „Shakespeare’s As You Like It, A Body Part“ mündet.

Zweite Welten gibt es zahlreiche, das zeigen auch die weiteren Ausstellungsprojekte im steirischen herbst 2011: Während den Parallelsystemen der Macht in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Medien nachspürt, entdeckt das Kulturzentrum bei den Minoriten eine neue Auseinandersetzung mit dem Religiösen in der Kunst. Der Grazer Kunstverein widmet seine Ausstellung der politischen Kraft des Folklorismus, Camera Austria befragt kritisch gegenwärtige gesellschaftliche Konzepte des Zusammenlebens, während das Haus der Architektur Wahrnehmungsebenen in Räumen abseits der Sichtbaren nachgeht. Weitere Projekte kommen von Peter Weibel, the smallest gallery – collaboration space, ESC im LABOR und der Akademie Graz, mit einer Arbeit der aus Sarajevo stammenden Danica Dakić. Die deutsche Künstlerin Antje Majewski bringt die Objekte der Sammlung des Universalmuseum Joanneum im Kunsthaus Graz zum Sprechen und Zsombor Barakonyi, Christian Eisenberger und Metka Zupanič begeben sich im Pavelhaus / Pavlova hiša in die Zwischenwelten abseits gesellschaftlicher Normen.

„Hauntings“, ein Projekt von Christian Höller und Thomas Edlinger, bildet eine Klammer zwischen dem bildenden Kunst- und Musikprogramm des steirischen herbst 2011: Im Rahmen einer Ausstellung im Kunstverein Medienturm, als Konzertreihe im musikprotokoll und an einem Filmabend spürt es den heimlichen und unheimlichen Präsenzen in Medien, Kunst und Pop nach. Das musikprotokoll gewährt Einblicke in das Schaffen jüngerer und älterer Generationen von Künstlerinnen und Künstlern, die sich mit Klang, Bild und Raum auf vielfältige Weise beschäftigen. Die Plattform „CineChamber“ lädt ein in eine neue Dimension der Audiovision, der österreichische Komponist Clemens Gadenstätter fragt in „Iconosonics“ nach der Geste in der Musik und orchestrale Statements, darunter viele Ur- und Erstaufführungen, kommen vom Klangforum Wien, dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien, dem ensemble recherche.
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Verfasser/in:
steirischer herbst
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