28/10/2010
28/10/2010

steirischer herbst 2010 - Festivalzentrum im Stadtpark, Entwurf: feld72. Foto: W. Silveri

Christine Gaigg / Philipp Harnoncourt / Bernhard Lang / Winfried Ritsch (A)
Maschinenhalle #1. Foto: W. Silveri

Marino Pensotti (AR), Enzyclopädie des ungelebten Lebens / Encyclopaedia of unlived life. Foto: P. Manninger

geheimagentur Casino of Tricks. Foto: W. Silveri

„Meister, Trickster, Bricoleure“, das alles gab`s im steirischen herbst 2010. Aber keine Trickbetrüger aus dem Subgenre des Gangsterfilmes bzw. Thrillers, nicht einmal ein Festival mit den wirklich bösen Filmen Christoph Schlingensiefs, dem die Herbstschrift „Theorie zur Praxis“ doch gewidmet wurde. Das musste dann einige Wochen später 3sat nachholen.

Vom steirischen herbst 2010 wirkt – abgesehen von den Ausstellungen – am unmittelbarsten noch die „Enzyklopädie des ungelebten Lebens“ auf der Grazer Probebühne nach (weitere Aufführungen am 2., 9., 22.11. und am 4. und 14. 12.). Die (einzige) Koproduktion mit dem Grazer Schauspielhaus zeigt in der Regie des Argentiniers Mariano Pensotti, der selber zwei eigene Texte beisteuerte, Arbeiten von achtzehn Autoren. Das sind zwar weniger als das Alphabet Buchstaben hat, aber auch im Alltag übertrifft ja das bloß Imaginierte in Summe stets das real zu Erlebende bei Weitem.
Als Regisseur entwickelte Pensotti für die vielen Kurztexte eine, bei aller Ironie sehr straffe, dramaturgische Klammer. Er lässt die Minidramen in drei Kabinen spielen, vor denen die Requisiten gleich einem Trödelladen ausliegen. Die Schauspieler greifen sich das Benötigte für ihre (de)konstruktivistische Interpretation, wobei die Flüchtigkeit des Augenblicks effektvoll durch Polaroidaufnahmen betont wird. (Die analogen Polaroids waren allerdings eher ein Medium der Siebzigerjahre.) Durch das gehetzt-monotone Tempo der Aufführung wurde der Abend dann immer mehr zur Präsentation seines eigenen Inszenierungsverfahrens. Allenfalls Clemens Setz konnte sich mit einem geschickten Running Gag ins Gedächtnis bringen.

Die Autorenliste ist wahrlich hochkarätig: Neben Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und der Grande Dame Friederike Mayröcker wurde mit Kathrin Röggla, Klaus Händl, Clemens Setz und Gerhild Steinbuch auch die junge, österreichische Erfolgsriege aufgeboten. Dietmar Dath, Marcus Steinweg und Joseph Vogl beteiligten sich aus Deutschland, für sprachliche Internationalität sorgten neben dem Libanesen Rabih Mroué die Kroatin Ivana Sajko und der Pole Andrzej Stasiuk. Klingende Namen und großer Aufwand für einen eher heiteren Episodenabend. Und so verdienstvoll die Erstveröffentlichung von „Naturgemäß III“ der verstorbenen Autorin Marianne Fritz durch die Gruppe Fritzpunkt im Literaturhaus auch sein mochte: gemessen an den legendären Symposien und Uraufführungen reicht das alles zusammen allenfalls zur (literarischen) Legitimierung – auch wenn man nicht ewig das alte Lied von Graz als Hauptstadt der Literatur singen will.

In der zweiten Funktionsperiode der Intendantin Kaup-Hasler kristallisieren sich Abläufe und Verfahren eher heraus als Inhalte. Letztere dienen als Füllmaterial für die Verfahren, wobei „Verfahren“ sich auch auf Raster bezieht. Neben den Koproduktionen (heuer ziemlich gut) mit Kunsthaus (Franz West; Wenzel Mracek wird für GAT darüber berichten; Anm. d. Red.), Camera Austria (Milk Drop Coronet), Kunstverein und Musikprotokoll rangieren die repräsentativen Ereignisse wie Eröffnung bzw. ein, zwei „besondere“ Aufführungen und dann weiter bis zu den Jugendveranstaltungen unter „Club und Konzerte“.

„Maschinenhalle #1“ die spartenübergreifende Eröffnung in der List-Halle war richtig gute, moderne Kunst, teuer und publikumsfreundlich. Hätte der Ausstatter die 12 Plattformen für die Tänzer, zwischen denen die Festgäste zu Computer- und Automatenmusik umherwandern durften, eineinhalb Meter höher gebaut, wäre es auch visuell toll gewesen. Musikalisch – Bewegungssensoren, die automatische Klaviere anspielten – hatte Bernhard Lang allerdings schon im Dom im Berg Ähnliches geboten. Dann war da noch „I don´t believe in outer space“ des US-Choreografen William Forsyth. Der Amerikaner hatte den bemerkenswerten Tanzabend mit vorzüglichen Texten für Graz adaptiert, aber bereits anderswo gezeigt.
Besonderes Anliegen der Programmmacher sind allem Anschein nach die experimentellen Tanz- bzw. Theaterstücke; sie könnten durchaus als verstecktes Sonderprogramm für Spezialisten in einem viel größeren Festival durchgehen. Favoriten waren Gisele Vienne mit „This is how you will disappear“ und der Österreicher Phillip Gehmacher mit „In their name“. Vienne, die gelernte Puppenmacherin, destillierte mit einem enormen Aufwand – echter Wald, echt perfekte Athletin, Trainer und todessüchtiger Punkstar (beide gefaked) plus ohrenbetäubendem Hardcorepunk – eine merkwürdig altbackene Allegorie aus gegenwärtigen Massenmythen. Toll waren allerdings die Nebelorgien der Japanerin Fujiko Nakaya und der Vogeldressurakt zum Schluss. Philipp Gehmacher beeindruckte mit einem tänzerischen, Respekt einflössenden Minimalismus. Ärgerlich an beiden Arbeiten waren die Texte mit ihrer als Kostbarkeit getarnten Unbedarftheit.

Die Gruppe „Showcase Beat Le Mot“ bot zu Beginn von „PARIS 1871 BONJOUR – C O M M U N E“ mit „Coq au vin“ einen Imbiss, der ebenso wenig sättigen konnte wie die folgende, verspielte Ausstattungsorgie einen ganzen Abend lang. Beides war gut gemeint bzw. gar gekocht, aber es fehlte einfach das Salz.
Dann war da noch das mit Paletten erweiterte Forum Stadtpark als Festivalzentrum. (Das Haus ist allerdings im Laufe der Jahre schon ziemlich oft umgebaut worden.) Der „Masterplan“ von Susanne Kudielka und Kaspar Wimberley, der sich auf das von der Tribüne aus sichtbare alltägliche Treiben bezog, wurde allerdings mit extra engagierten Stadtparkbesuchern erstellt. Schöne Idee, auf die Dauer aber vor allem sanfte Beschäftigungstherapie, ähnlich dem „Casino of Tricks“ mit seinem Spielzeugroulette und den sympathischen Croupiers. Teile dieses Programms wie zum Beispiel Edit Kalldors Sprachkurs „C´est du chinois“ gemahnten verdächtig an einen durchaus fortschrittlichen (Kultur)Schulunterricht.

Zum „herbst“ als Verfahren gehört nicht zuletzt die tägliche Berichterstattung über Aufführungen, die – bei jeweils einer Wiederholung – oft schon wieder vorüber sind, sobald man über sie lesen kann. Zwar verleiht dieser Verzicht auf Aktualität, den die Tageszeitungen ansonsten mit aller Verve fliehen, auch den schwächeren Arbeiten höhere Weihen. Trotzdem handelt es sich um eine gelegentlich ärgerliche Verschwendung, weil gerade bescheidene, aber großartige Aufführungen dann am wenigsten Beachtung finden. Beispielsweise „Cheap Lecture“, eine geniale, minimalistisch-theatralische Poetik von Jonathan Burrows/Matteo Fargion oder Annie Dorsens nicht ganz so überzeugendes „Hello Hi There“, in dem zwei Computer (Chatbots) einen historischen Dialog zwischen Noam Chomsky und Michel Foucault ad absurdum führen. Aus dieser Norm fiel da glücklicherweise Marino Formentis Aktion „Nowhere“, in deren Rahmen der Klaviervirtuose acht Tage im Stadtmuseum Graz für jedermann zugänglich lebte, schlief und spielte. Formenti brauchte keine Tricks und keine Bricolage, um Schwellen gegenüber der Neuen Musik einzureißen. Er machte viele Zuhörer einfach glücklich und wurde zum „heimlichen herbst-Star“. Marino Formenti als wahrer Trickster, als Kulturheros durchgehend ein Jahr lang im Stadtmuseum anstelle von ein paar Wochen Avantgarde Festival – das wär´s!

Verfasser/in:
Wilhelm Hengstler, Kommentar
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