15/11/2009
15/11/2009

Graffiti am Grund des mittlerweile abgerissenen DDR Palastes der Republik

Thierry Noir-Graffiti an den Mauerresten am Gropiusbau

Reichstag mit Fernsehturm

Mönche am Checkpoint Charlie

Autonome Demonstration am Rosa Luxemburg Platz

Unter den Linden. Schnappschuss bei den Feierlichkeiten zu 60 Jahre Bundesrepublik. Foto: Emil Gruber

EMIL GRUBER
Fünf kleine Einheiten zum Fall einer Mauer

I
Ein zweckentfremdetes Zigarrenkistchen. Ein Foto, auf dem ein Paar lächelnd Hammer und Stemmeisen hochhält. Eine Tonbandkassette mit Klopfgeräuschen und Stimmengewirr. Kleine Betonstückchen mit bunten Graffitifragmenten.
„Ein Teil der Lippen von Thierry Noirs Köpfen und Strahlen der Keith Haring Männchen“, das redeten sie mir jedenfalls damals, Ende November 1989, ein – meine Berliner Freunde –, als ich mich für diese historische Collage bedankte.
Originalbröckchen waren es jedenfalls, garantiert handgeschlagen von „Mauerspechten“, dem kollektiven Abbruchunternehmen des antiimperialistischen Schutzwalls.

Nicht viel später begannen Epigonen die freigelegten Schichten der Mauer erneut mit Farbe zu besprühen oder in Hinterhöfen Graffitis auf eher weniger bedeutende Wände zu malen, um diese danach zu zertrümmern. An gut frequentierten Touristenorten Berlins werden so noch heute authentische Teile des einstigen Berlinparavents – gut proportioniert und in kleine Plastiksäckchen verpackt – verkauft. Spötter meinen, die Mauer müsste mittlerweile doppelt so lang gewesen sein.

II
Hammer und Sichel auf dem hohen Betonpfeiler waren schon von weitem am nordbayrischen Grenzübergang Irschenberg zu sehen.
Es war ein angenehmer Spätsommertag für wartende Westmenschen, die hier ein Durchfahrtsvisum zu bezahlen hatten und auf ideologische Verkehrssicherheit geprüft wurden. In einer Schlange von anderen Fahrzeugen, die alle auf die Transitautobahn quer durch die DDR wollten, war ich nun an der Reihe.
Ein junger Volkspolizist, dessen Kalaschnikow fast älter als er war, beugte sich zum Seitenfenster: „Waffen? Funkgeräte? Genehmigungspflichtige Gegenstände?“
Da ich nichts kaufen wollte, verneinte ich.
Ein zweiter, älterer Beamter löste sich aus dem Schatten, schritt mein Fahrzeug ab und blickte aufmerksam ins Wageninnere. In einem klassisch sächselnden Tonfall erklärte er nach der ersten Umrundung: „Dieses „Profil“ gehört da weg.“ Gemeint waren nicht meine Reifen, sondern die österreichische Zeitschrift, dessen „Waldheim und die SA“-Titelblatt schon etwas sonnenzerstrahlt seit Monaten die Hutablage meines Datsun Sunny schmückte. Ich entsorgte den Bundespräsidenten in einem nahen Mülleimer, legte ihn zu einem „Spiegel“-Magazin. „Grenzen zu für Asylanten?“, stand auf dem Cover. „Kofferraum öffnen!“, befahl mir dagegen der erste Beamte als nächsten Arbeitsschritt. Eine rasche Kontrolle meines Gepäcks, ein Klopfen gegen die Innenwände des Wagens, ein kurzes Nicken in Richtung des Vorgesetzten. Dieser winkte Sunny und mich zum ersten Fenster einer länglichen Grenzbaracke.
„10 Mark und Reisedokument“, verlangte ein weiterer Beamter, den ich durch das Sonnenlicht nur schemenhaft in seiner Volkskammer erkennen konnte. Ich reichte meinen Pass und einen Westmarkschein hinein. „Reiseziel?“ „Zu meinen Freunden nach Berlin“, antworte ich naiv. „Berlin, Hauptstadt der DDR oder Westberlin?“, blaffte er zurück. „Westberlin“, formulierte ich nun richtig. Nach genauer Gesichtskontrolle durfte ich langsam zum Fenster am Ende der Baracke vorwärtsrollen. Mit gleicher Geschwindigkeit wurde auch innen meine papierene Identität befördert. Wieder ein neuer Beamter gab mir nun den Pass zurück und ein Transitvisum „zur Fahrt in dem für die unverzügliche Durchreise benötigten Zeitraum durch die Deutsche Demokratische Republik nach Westberlin“. Darauf standen meine Daten und die genaue Uhrzeit der Einreise.
„Abfahren von der Autobahn ist verboten. Nur an gekennzeichneten Rastplätzen und Tankstellen stehen bleiben“, hustete mir Transitnovizen der Grenzer im Befehlston zu und winkte „Weiterbewegen“.

So befuhr ich 1986 erstmals DDR-Boden. Vor mir ein 300 Kilometer langer, zweibahniger Korridor, durchs andere wieder zurück ins eine Deutschland . Im Gegensatz zu den bourgeoisen Wildwest-Autobahnen mit ihren „Freiheit allen PS“-Grundsätzen war im ostdeutschen Reservat eine durchgehende 100 km/h Beschränkung die kommunistische Vorgabe. Dieses Limit trug zwar durchaus berechtigt das Banner „Sicherheit“ hoch, aber auch zu beachtlichen Einnahmen im Arbeiter- und Bauernstaat bei. Denn an temporeiche Abstandsverkürzungen gewöhnt, vergaß so mancher bundesdeutsche Cowboy im befeindeten Bruderland auf Entschleunigung und gab Sporen. Die Volkspolizisten kamen dann als Gegenpart wie edle Indianer aus ihren zahlreichen mobilen Überwachungstipis und baten auf der Betonprärie um einen K(l)assenkampfbeitrag in durchaus stattlicher Höhe.
Aber eine deutlich kostenintensivere Gefahrenquelle war die in Plattenbauweise konstruierte Straße selbst. Niveauunterschiede zwischen den Platten oder regelmäßig aus dem Nichts auftauchende, tiefe Schlaglöcher belasteten fast durchgehend die West-Ost- Achsen.

Da die Transitautobahn auch für den einfachen Genossen, der nach 15 bis 20 Jahren ungebrochener Treue zum Staat ein Anrecht auf seinen Trabant hatte, offen war, konnten durchaus einmal Welten aufeinanderprallen.
Außerhalb von nicht vorher planbaren Blechkontakten war jedoch eine Kommunikation von Klassenfeind mit Held der Arbeit ohne Voranmeldung nicht erwünscht. Um also den inneren Frieden des wahren Sozialismus nicht zu gefährden, gab es auf der Transitautobahn die motorisierte Form von Apartheid. Fein säuberlich in Ost und West geteilte Raststationen und Tankstellen waren schon von weitem entsprechend gekennzeichnet. Wer diese Hinweise ignorierte, traf umgehend wieder auf Bußgeld-Indianer.

Nach Absolvierung dieses Hindernisparcours, vor dem Wiedereintritt in die Atmosphäre Westberlins, wartete am Grenzübergang Dreilinden noch ein Schnellservice durch demokratische Grenzorgane. Zuerst wurde einmal am Transitvisum die Einreisezeit geprüft. Ich lag in der Durchschnittszeit für die Trans-DDR-Durchquerung und war daher schon einmal teilunverdächtig. Zur endgültigen Entlastung wurden im Auto nun noch Rückbänke abgeklopft, Seitenwände und Böden von Koffer- und Motorraum geprüft und zur Sicherheit Rollwagen mit Spiegeln unters Auto geschoben. Man wollte sicher gehen, dass die Einwohnerzahl im Land stabil blieb. Dann ließ mich der Sozialismus ziehen und ich wurde vorübergehend erstmals ein Berliner.

III
Im Mai 2009 feierten die Bundesrepublik und ich am Brandenburger Tor 60 Jahre Grundgesetz. Gottschalk plauderte, Hans-Dietrich Genscher reminiszierte, Peter Kraus babalute, Otto Waalkes derwischte, Angela Merkel mutterte, Boris Becker wippte.
Unter den Linden reichte sich das Volk die Hand und winkte mit kleinen Deutschlandfähnchen.
Nur den Mittelfinger zeigten dem Staat an einem anderen Ort Autonome, umgeben von einer Polizistenmauer. „Who let the dogs out?“ Rein zufällig gaben die Lettern auf der Bretterwand der wegen Sanierung verbarrikadierten Volksbühne am Rosa-Luxemburg- Platz der Gegenveranstaltung einen programmatischen Titel.

Dreiundzwanzig Jahre vorher wären solche Feste an diesen Plätzen noch unvorstellbar gewesen.

In Kreuzberg, damals einer der Westbezirke, die direkt an die Mauer grenzten, gehörten besetzte Häuser zum längst unaufgeregten Alltag. Eingangstüren oder Fensterfronten mit Mauerblick waren für Nichtalternative keine sonderlich begehrten Mietobjekte.

Spätabends im Sommer streifte ich auf einer schon recht stimmungsvollen Party eines Künstlerkollektivs durch eine ehemalige Autowerkstatt. Ein weiter Raum mit großen Fenstern, die auf die Spree hinausgingen. Da der Fluss neben der Mauer als weitere natürliche Grenze zwischen Ost und West herhalten musste, war ich eigentlich beim Kopf aus dem Fenster halten schon auf volksdeutschem Gebiet. Um etwaige schwimmende Grenzverletzungen hier zu unterbinden, patrouillierten am Wasser ständig Schnellboote der Volksarmee. „Wenn sie gerade nicht da sind, angeln wir hier aus dem Fenster“, erzählte mir nebenbei ein Bewohner.

Peter Gabriel heiserte „Sledgehammer“, Prince versetzte mit „Kiss“ die Gelenksmünder in Reibung und Falco suchte nach seiner Jeanny. Freiheit in der Bewegung oder sich miteinander verzahnen, alles war gut im kleinen Kapitalismus.
Plötzlich brach da neben den eher improvisierten Leuchtmitteln im Raum ein zusätzlicher Lichtstrahl durch die offenen Fenster.
Zwei Mädchen sprangen auf einen Tisch, der im grellen Licht in der Nähe der Fenster aufleuchtete, und nutzten den Strahl als ihr persönliches Rampenlicht. Wie immer sie sich bewegten, der Strahl begleitete die beiden Tänzerinnen. Grenzer im Schnellboot draußen an der Spree ließen ihren Suchscheinwerfer einer dekadenten, westlichen Körperausdrucksstudie folgen. In der Maschinerie des Überwachens ein kleiner Moment der Völkerverbindung. Vielleicht auch einer der zarten Hinweise auf die Dinge, die da in ein paar Jahren kommen würden.

IV
1924 spielte Emil Jannings in Friedrich Wilhem Murnaus Film „Der Letzte Mann“ einen Hotelportier, dem sein Epauletten-verzierter Mantel alles bedeutet. Als er zum Toilettenaufseher im Hotel degradiert wird, stiehlt er seine ehemalige Uniform, um zu Hause seinen Status zum Schein aufrechterhalten zu können. Irgendwann in den frühen Neunzigern erzählte mir ein Bekannter, dessen Firma bei der Zusammenführung der ost- und westdeutschen Bahnen als Berater tätig war, eine ähnliche Geschichte.
In der DDR wurde schon aus Vollbeschäftigungsoptik jede Schienenweiche vom starken Arm eines eigens dafür verantwortlichen Arbeiters umgelegt. Bei der Umstellung auf Automatikbetrieb wurden diese Heldenplätze abgeschafft und die Weichensteller auf andere Betätigungsfelder innerhalb der Bahn umgeschult. Eines Tages kam diese Gruppe und legte eine selbst erarbeitete Tabelle vor. Sie machte deutlich, wie viel gefährlicher Bahnfahrten werden, sollten die manuellen Arbeiten wegfallen.
Erst in längeren Gesprächen wurde klar, nicht die neuen Arbeitsplätze, sondern der Verlust von Uniformen, Auszeichnungen und Titel waren die eigentlichen Beweggründe für die recht subjektive Statistik.

Vor dem Mauerfall galten die innerstädtischen Nahverkehrsmittel Berlins ohnehin als Kuriosum. Da die „Deutsche Reichsbahn“ nach dem Krieg nie aufgelöst wurde und fest in sowjetischem Besitz blieb, arbeiteten Westberliner Bahnbedienstete eigentlich für die DDR. Ursprüngliche S-Bahn- und U-Bahntrassen Gesamtberlins hörten nach der Teilung häufig abrupt vor den seit 1961 abgeriegelten Innengrenzen auf. Aber es gab auch die „Geisterbahnen“, Westlinien, die auf einem Teilabschnitt durch leere, in fahles, gelbliches Licht getauchte Stationen im Osten fuhren. Hier gab es keinen Halt und als weiteren Garant der heimatlichen Verbundenheit von volkseigenen Arbeitern und Bauern hatte die Staatssicherheit auch die Aufgänge zumauern lassen. Eine Ausnahme bedeutete der Bahnhof Friedrichstraße. Er zählte zu den offiziellen Grenzübergängen innerhalb Berlins. Genussmenschen wie ich konnten aber hier auch nur kurz aussteigen, unter den wachsamen Augen von Volkspolizisten an Intershopständen am Bahndamm zollfrei mit Devisen Zigaretten und Spirituosen erwerben und im nächsten Zug wieder weiter in den Westen fahren. Da die günstigen Preise so manchen Kapitalisten zu einem Großeinkauf motivierten, war die heutige Linie U6 wohl die einzige U-Bahn der Welt mit regelmäßigen Zollkontrollen.
Nach dem Fall der Mauer fand dieser Schnäppchenplatz ein schnelles Ende. Das Warenangebot zu reduzierten Preisen florierte einige Zeit in Seitengassen nahe von nun offenen U-Bahnstationen im ehemaligen sozialistischen Teil Berlins. Ein Teil der rund 60000 von der DDR als Billigstarbeitskräfte ins Land geholten Vietnamesen entdeckte so die freie Marktwirtschaft. Der sonst den Ostwaren eher reservierte Westberliner griff großzügig zu. Im Westen stiegen dagegen die Umsätze bei exotischen Früchten, anfangs ganz besonders in den Beate-Uhse-Läden.

V
Wer die Mauer nie gesehen hat, kann heute zu Fuß, aber besser mit dem Rad, nochmals in die Erinnerung treten. Ein eigens von der Senatsverwaltung errichteter „Berliner Mauerweg“ führt entlang des ehemaligen Verlaufs in vierzehn Einzelstrecken vorbei an Originalresten. Ein Besucher Westberlins konnte im Jahre 1986 noch mit der intakten, vierten und letzten Generation der Mauer, errichtet 1975, Kontakt aufnehmen. Das Stützwandelement UL 12.11 war rund dreieinhalb Meter hoch, etwas mehr als einen Meter breit und rund 45000-mal verbaut. Da ja DDR-Eigentum, kümmerte es keine westliche Behörde, als Graffitis von Stars der Szene und mehr oder weniger Talentierten nach und nach eine Seite des grauen Käfigs zu einem politischen Comics umfärbten. Dafür wurden an manchen Stellen Westberlins Aussichtsplattformen nach drüben aufgestellt. So konnten eingesperrte Ikonen wie das Brandenburger Tor oder ein Irrsinn wie der städtische Kahlschlag im Todesstreifen betrachtet werden. Neugierige Kiebitze wie ich wurden von DDR-Grenzschützern dabei in den nahe stehenden Wachtürmen durch Feldstecher gegenbeobachtet und oft auch fotografisch für die Staatssicherheitssammlung beschossen.

Auf 192 Ostflüchtlinge wurde tatsächlich mit tödlichem Ausgang geschossen. „Gefangennahme oder Vernichtung!“, hieß es im entsprechenden Tagesbefehl, der in den letzten Mauerjahren nur mehr mündlich an ostdeutsche Grenzsicherheitskräfte erteilt wurde.

EMIL GRUBER
lebt in Graz
Bildermacher, Schreiber, Spaziergänger.
KONTAKT: katmai@aon.at
http://ortlos.com/photography

Verfasser/in:
Emil Gruber
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