11/10/2009
11/10/2009

Günter Eichberger

DRINGLICHES ERSUCHEN AN EINEN HAUSBESITZER
Gordon Matta-Clarks Anarchitektur

„Der ausgebildete Architekt Gordon Matta- Clark (1943-1978) erlangte als Bildhauer und Performancekünstler internationale Wahr-nehmung, indem er zum Abriss vorgesehene Gebäude mit der Kettensäge bearbeitet und in komplexe monumentale Skulpturen im öffentlichen Raum verwandelt hat.“
(Caroline Philipp)

Ich möchte ein Haus in zwei Hälften teilen. Haben Sie vielleicht eines für mich? Es muss gar nicht groß sein, auch nicht gut erhalten. Es kann ruhig vor dem Abriss stehen. Ich will ja nicht darin wohnen, ich möchte seine Struktur offen legen. Von außen sieht man ja nicht, wie es aufgebaut ist. Auch von innen bleiben einem die Geheimnisse des Hauses verborgen. Wie bei einem Menschen, in den man nicht hinein schneiden darf.
Wenn ich mit den Häusern fertig bin, werde ich mich den Menschen zuwenden. Die interessantesten Strukturen kann man beobachten, wenn sich in der Natur etwas auflöst, wenn es verwest. Auch wenn sich die Natur der Dinge bemächtigt. Ich möchte über die Häuser kommen wie die Natur. Ich bin die Axt, die zeigt, was der Zimmermann gemacht hat.
Ich versuche zu sprechen, wie möglicherweise ein anderer gesprochen hat. Und darin bin ich ganz ich selbst. In diesem Sprechen meiner Vorstellung von einem anderen zeige ich, wie ich zusammengesetzt bin, wie mein Uhrwerk tickt. Wie alle Menschen bin ich eine kleine Fabrik. Ich stoße eine Menge kleiner Produkte aus. Es wächst etwas in mir. Das will hinaus. So ergieße ich mich. Auch mein Sprechen ist ein Stoffwechsel, ich nehme Stoffe in mich auf, die durch mich hindurchgehen und verändert wieder herauskommen.
Andere philosophieren mit dem Hammer, ich mache Architektur mit dem Schlagbohrer, mit der Kettensäge. Bevor die Abrissbirne kommt. Im Zertrümmern, im Zerschneiden öffne ich den Raum. Die Architektur ist ein Organismus. Die Bauten haben wir uns von der Natur abgeschaut, von den Ameisen, und zur Natur will das Werk im Verfall zurück.
Habe ich meine Absichten damit klar gemacht? Dann lassen Sie mich endlich an Ihr Haus. Erst wenn ich es geteilt habe, werden Sie Ihr Haus verstehen. Und wer möchte in etwas wohnen, dessen Wesen ihm verborgen ist? Gut, wir verstehen unseren Körper in der Regel nicht. Wird uns klar, wie er funktioniert, versagt er uns vielleicht den Dienst. Aber das würde ich nicht auf Häuser übertragen. Beileibe nicht.
Ich habe mein Werkzeug dabei. Voller Vorfreude streiche ich über meine Kettensäge. Die Versuchung ist groß, schon jetzt, ohne Ihre Einwilligung, mit der Arbeit zu beginnen. Das wird ein vollkommen neues Wohngefühl, das garantiere ich Ihnen. Wenn Ihnen die Teilung zu schematisch ist, kann ich auch raffiniertere Schnitte vornehmen, ich kann nach dem Prinzip eines Spiels vorgehen, sagen wir Bingo, vielleicht spielen Sie gerne Bingo, und die Fassade nach diesem Muster abbauen. Ich werde acht gleichgroße Segmente entfernen und das neunte stehen lassen. Und die Rückseite des Hauses bekommt den genau entgegengesetzten Ausschnitt. Das wird sehr aufschlussreich. Und bewegend. Das wird eine bewegte Bild-Dokumentation, denn ich werde jeden Schnitt, den ich an Ihrem Haus fortnehme, von einer Kamera mitschneiden lassen. Dann ist der ganze Vorgang für immer festgehalten. Dann wird die Flüchtigkeit zur Dauer. Das mag ein Widerspruch sein. Konsequenter wäre, gar keine Dokumente anzufertigen. Aber mit Bedenken wollen wir uns nicht lange aufhalten. Sonst bleibt das Haus unangetastet. Und das täte mir in der Seele weh.
Schade, dass das Haus nicht bei jedem Schnitt schreit. Die Dinge sind vielleicht belebter, als wir meinen. Aber der Schrei des Hauses kann von unseren Ohren nicht wahrgenommen werden. All diese Häuser: gefrorene Schreie. Wenn die erst einmal auftauen sollten, habe die Ehre!
Das heimliche Innenleben der Gebäude. Diese Gebäude haben etwas zu erzählen, wenn man sie zur Ader lässt. Sie wollen diese Geschichten auch erzählen, glauben Sie mir, Sie werden es verstehen, wenn Sie es sehen.
Aber wenn Sie nicht wollen, dass ich die Außenhaut des Hauses verletze, so sehr es mich auch in den Fingern juckt, dann kann ich mich auch ganz auf das Innere konzentrieren. Wo das Haus ganz bei sich ist. Ich werde mich den Böden widmen, sie nach einem mathematischen Prinzip durchlöchern, ich werde der Holzwurm in diesem Hause sein. Auf diesen Böden wird man nicht mehr gehen können, damit ist den Böden und ihrer Funktion die größte Ehre erwiesen. Was ein Boden leistet, erkennt man erst, wenn er entfernt wird. Ich werde Musik machen mit meiner Kettensäge, ich komponiere Ihnen den Innenraum neu. So eine Musik werden Sie noch nie gehört haben! Nie wieder werden Sie sich mit Polka und Walzer begnügen, wenn Sie erst einmal die Musik, die in diesem Hause schlummert, vernommen haben. Tanzen werden Sie dazu, in ungeahnten Schrittfolgen. Die Einschnitte werden auch Ihnen ein erfrischend neues Körpergefühl vermitteln. Sie werden Ihre helle Freude daran haben, und wenn nicht Sie, dann jedenfalls ich. Aber wie ich Sie einschätze, werden Sie mir die Hand küssen, die Hand, die Ihr Haus durch überlegte Zerstörung neu geschaffen hat. Das war noch gar nicht Ihr Haus, ich werde Ihnen zeigen, was in ihm steckt, mein Schlagbohrer bringt es zu Tage.
Ich werde vom Halbkreismotiv ausgehen. Das klingt nicht spektakulär, aber das Haus wird sich noch wundern. Fühlen Sie sich Ihrem Haus eigentlich verbunden, ganz so, als wäre es ein Teil von Ihnen? Dann werden Sie sich mitverwandeln, mit jedem Schnitt. Zuletzt ist nicht nur das Haus, sondern sind auch Sie in den Grundfesten erschüttert, und neues Leben blüht aus den Ruinen.
Man wird Ihr Haus und Sie begehen können, mit allen seinen und Ihren Zwischen- und Hohlräumen. Das wird ein Fest der Erkenntnis! Hören Sie mir zu? Hören Sie mir noch zu? Ein Fest für alle Sinne und Zellen! Eine wirkliche und wahrhaftige Befreiung.
Denn darauf will ich hinaus: Die Behausungen von ihrem Gefängnischarakter befreien. Freie, gleichsam durchsichtige Behälter für freie, gleichsam durchsichtige Menschen. Das wird zwangsläufig auf Ihre Mitmenschen abfärben, sofern diese Sie nicht vorher internieren. Aber langfristig haben sich große Ideen immer durchgesetzt! Meine Anarchitektur wird helfen, den Anarchismus gesellschaftliche Wirklichkeit werden zu lassen. Sie werden es erleben. Und falls nicht, dann eben Ihre Nachkommen. Was ist schon Zeit?
Es geht ein großer Wandel vor sich, ich spüre ihn mit jedem Atemzug, niemand wird mehr Macht über andere haben, nicht einmal über sich selbst, alle werden sich endlich nicht mehr in der Gewalt haben, die diese Gesellschaft ihnen antut. Wir müssen vergessen, wie Häuser auszusehen haben, wie ein Mensch auszusehen hat, wie das Leben sein soll, damit man von allem unberührt wie ein Stein zurecht geschliffen wird, bis man in die Mauer passt, aus der unser dingähnliches Nichtleben besteht. Wenn wir vergessen, was uns eingetrichtert wurde, als wir klein und knetbar waren, wenn wir durch kräftige Einschnitte endlich unsere eigentlichen Bedürfnisse erkennen werden, dann wird kein Stein auf dem anderen bleiben, dann werden die Mauern, in die man uns gesperrt hat, einstürzen.
Dann werden wir frei atmen, wir werden auch endlich Augen bekommen, die etwas sehen, nicht nur auf die Grenzen starren, die uns angeblich gesetzt sind. Dann wird ein Haus kein Haus mehr sein, sondern etwas, für das wir kein Wort haben, weil uns die Worte dann nicht mehr wichtig sein werden. Worte verstellen uns nur die Aussicht. Dann werde ich meine Kettensäge aus der Hand legen, meinen Schlagbohrer wegwerfen. Ich werde meine Haare in den Wind hängen und mit ihm singen. Dann wird mein Werk vollendet sein, indem es keine Bedeutung mehr hat.
Und jetzt lassen Sie mich endlich meine Motorsäge anschließen!

Günter Eichberger, geboren 1959 in Oberzeiring/Stmk., lebt als freier Schriftsteller in Graz. Neben Theaterstücken und Hörspielen veröffentlichte er eine Reihe von Prosabänden; zuletzt erschien "Alias" im Ritter Verlag, Klagenfurt.

Verfasser/in:
Günter Eichberger
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