20/09/2009
20/09/2009

sonnTAG 236

Cucumba Lodge

Abb. 2

Abb 3

Abb 4

Abb. 5

Fotos: wh

WILHELM HENGLSTER

Peru 3/3:
Traurigere Tropen

Wenn ich mich recht erinnere, deutet John Berger am Ende seines Essays „Warum wir Tiere ansehen“ die Zoos, all die Tierbilder (z. B. „Universum“), als Kompensationen für das Verschwinden der Tiere aus dem menschlichen Umkreis. Zugleich war die Entstehung der berühmten Zoos Mitte des 19. Jahrhunderts ein kolonialer Gestus, mit dem sich Europa die exotische Fauna einverleibte. Mittlerweile hat sich diese Bewegung verkehrt. Wir sehen uns statt der Tiere immer öfter die Bilder von Tieren an oder „schießen“ unsere eigenen Bilder von ihnen. In Iquitos bemüht sich eine ganze Reihe von Veranstaltern mit malerischen Namen wie Cumaceba Lodge, Heliconia Lodge, Loving Light Amazon Lodge, Amazon Yarapa River Lodge darum, den Touristen die Geheimnisse des Dschungels zu vermitteln. Es ist kaum möglich, die Plaza des Armes zu überqueren, ohne den Aufenthalt in einer dieser Jungle Lodge angeboten zu bekommen. Die meisten haben ihr Büro in der Putumayo neben dem berühmten Eisernen Haus von Eiffel.

Das Standardprogramm besteht aus einem drei- bis fünftägigen Aufenthalt und umfasst u. a. die Anreise mit einem Pequepeque (Holzboot mit Außenborder), Junglewalks bei Tag und Nacht, das Fischen von Piranhas mit Speer und Angel, das Beobachten von Schlangen, Krokodilen und Affen, das Erklären von Heilpflanzen und – last but not least – die Verpflegung. Die Kosten bewegen sich von 70 Dollar/Tag aufwärts, was für hiesige Verhältnisse nicht wenig ist. Die Touristeninformation, die eine lange Liste akkreditierter Veranstalter ausgibt, empfiehlt, die auf Handzetteln versprochenen Leistungen bei Nichterbringung einzufordern, was, wie ich ausführen will, unrealistisch ist.

Voll auf seine Kosten kommt man jedenfalls bei dem Junglewalk, der, wie Roul, unser stämmiger Indioführer, erklärte, „the best medicine“ ist – vorausgesetzt, man beachtet einige Regeln: a) sich nicht in einer Schlingpflanze verfangen und fallen, b) nicht auf einem glitschigen Baumstamm ausrutschen und fallen, c) nicht in eines der tiefen Schlammlöcher fallen, d) wenn man schon fällt, sich wenigstens keinen der abgestorbenen Baumstrünke hineinrammen, e) sich nicht an Baumstämmen festhalten, die häufig mit giftigen Dornen und Stacheln besetzt sind, f) sich von den winzigen Ameisen fernhalten, die über ein teuflisches Gift verfügen. Ansonsten ist alles ungefähr wie am Hochlantsch: Wer auf dem Weg hinab „Zum guten Hirten“ einen Fehltritt macht, kann sich ja auch sehr wehtun.

Ungewohnt sind außerdem die exorbitanten Schweißausbrüche. Fünf Minuten nach dem Aufbruch glaubt man noch, dass man sich diesmal das Schwitzen erfreulicherweise erspart hat, zwei Minuten später ist man klatschnass. Die einschlägige Literatur ist widersprüchlich: z. B. ob die gegen die Moskitos getragenen, langärmeligen Hemden besser dunkel oder hell sein sollen. Was aber nirgends empfohlen wird, ist die Verwendung von schnell trocknender Sportfunktionskleidung. Die würde ich das nächste Mal versuchen, auch wenn sie vielleicht strenger riecht als die aus Baumwolle. Und wie man im Dschungel ohne Dusche zurechtkommt, bleibt für mich, der ansonsten nicht so wahnsinnig oft duscht, ungelöst – da fängt vermutlich das wahre Abenteuer an.

Die Piranha Lodge liegt mitten im Dschungel an einem See, der voll jener Fische ist, von denen die acht Hütten ihren Namen haben. Sie stehen auf soliden Stelzen und sind durch überdachte Stege verbunden, die am Abend atmosphärisch mit Petroleumlampen beleuchtet sind. Die oktagonalen Hütten haben gegen die starken Regenfälle hohe, spitze Dächer aus Palmblättern. Der Haupteingang führt zur größten Hütte, in der die Mahlzeiten eingenommen werden. Gleich daneben liegt der einzige rechteckige Bungalow, in dem Vorräte und die Küche untergebracht sind. Gekocht wird mit einem Holzfeuer, das den Speisen – Fisch, Reis, Huhn, Maniok, Erdäpfeln – einen würzigen Geschmack verleiht. Das Essen ist ausgezeichnet, der Staff – fünf bis sechs Personen – ausnehmend freundlich. Tatsächlich ist der Aufenthalt in der Lodge so angenehm, dass man sie ungern verlässt. Aber die Basis des Dschungeltourismus besteht darin, Tiere in freier Wildbahn zu erleben, d. h. zu fotografieren. Die Mechanik des „Take Your Picture“ wird dabei gewissermaßen umgekehrt. Der Tourist stellt sich nicht in das Bild, um es zu komplettieren, er macht sich im Gegenteil möglichst unsichtbar und überlässt die Show ausnahmsweise den Tieren. Der Dschungeltrip gilt als geglückt, wenn es dem Fotografen gelingt, das Objekt seiner Begierde (Affe, Jaguar, Papagei) „visuell zu belauschen“. Leider ist das Aufspüren dieser „moving targets“ auf freier Wildbahn unter den herrschenden Bedingungen eher unwahrscheinlich. Der Betrieb muss nach Möglichkeit ausgelastet sein, was bedeutet, dass wöchentlich um die 20 Dschungelfans durch die Lodge geschleust werden. Unser scheues Wild müsste schon taub, blind und geruchsstumpf sein, wenn es auf diesen Daueransturm nicht mit einem Exodus reagierte. Zudem führen die immergleichen Pisten im Regelfall kaum weiter als drei bis vier Kilometer von der Lodge weg und auch die Bootsausflüge enden am immer gleichen Ziel. Dementsprechend waren die Begegnungen mit Tieren auf meinem viertägigen Dschungeltrip wenig beeindruckend. Nachdem wir auf der nächtlichen Bootsfahrt keinen Kaiman sichten konnten, einen eingefangenen, winzigen in der Lodge ausgenommen, bestand „die Strecke“ aus einer harmlosen, verschreckten Haustarantel am Moskitonetz des Aufenthaltsraumes, einem Faultier in der Ferne, von dem ich nur vorgab, es zu sehen, einem Ochsenfrosch als Ausbeute eines Nachtmarsches und schattenhaften Bewegungen in den Baumkronen, die euphorisch als Affen interpretiert wurden. Ich hatte nicht das Herz, der aus New Jersey angereisten, aus Puerto Rico stammenden Familie, zu schildern, dass das Indische Verteidigungsministerium in New Delhi einen Mann mit seinem großen Affen anheuert, damit er mit dessen Hilfe die unzähligen kleinen Affen verjagt, die im Ministerium die Schubladen ausräumen.

Selbst der positiv gestimmte Noel, der alles mit seiner Sony aufzeichnete, machte sich allmählich Gedanken darüber, was er seinen Arbeitskollegen in New Jersey zeigen sollte. Aber der letzte Tag erfüllte dann die Erwartungen mit einer geradezu genialen Inszenierung. Wir standen schon sehr früh auf und waren nach Frühstück und Anmarsch durch den Dschungel bereits um 8 Uhr bei der Anlegestelle. Um 11 Uhr hatte uns das Pequepeque nach Nauta gebracht, um 13 Uhr lagen die 80 Kilometer Straße nach Iquitos hinter uns. Mit einem ziemlich schnellen Motorboot fuhren wir dann von Iquitos aus durch natürliche, sehr schöne Kanäle zur Reservation der Boras. Roul hatte sich wieder umgezogen und trug nun eine amtlich wirkende, ärmellose Jacke mit dem Logo der Cucumba Dschungel Lodge. Das Dorf der Bora auf dem ca. 10 Meter über dem Wasserspiegel liegenden Festland befand sich eineinhalb Kilometer im Landesinneren, und als wir es erreichten, rief Roul laut nach Rodrigo, seinem alten Freund. Als Antwort erklang das TamTam der Trommeln. Rodrigo, der Bora-Häuptling, empfing uns in einem Haus, das aus den gleichen Materialen wie die üblichen Hütten, nur viel größer und höher gebaut war. In einer Ecke standen die großen Trommeln, auf Tischen lagen handgemachte Andenken zum Verkauf und die hohen Pfosten des Hauses waren mit modern-naiven, in Schwarzweiß gehaltenen Gesichtern bemalt. Am schönsten war der sehr lange, als Python stilisierte Baumstamm auf dem Boden.

Man sah Rodrigo an, dass er wusste, dass wir wussten, dass er seine Rede schon viele hundert Male vorgetragen hatte und noch vortragen würde. Ziemlich schnell wechselte er von seinem Vortrag in einen Stammestanz, dem sich bald zwei Gefährten und nach und nach auch mehrere Frauen und Kinder anschlossen. Die Frauen schienen lustloser als ihre Männer, vielleicht weil sie, um authentisch zu wirken, eigentlich hätten barbusig auftreten müssen, diese Art von Unschuld aber längst verloren hatten. Daher kaschierten sie ihre nackten Brüste mit ihren langen Haaren oder BHs aus Bast. Die Ausnahme unter ihnen war eine Frau, nicht mehr jung, aber noch nicht Greisin, die mit geschlossenen Augen tanzte, wie um die Bedeutung des Tanzes besser nachzuempfinden. Sie war zarter als die jüngeren, feisteren Mittänzerinnen und bewegte sich so unbefangen, dass ihre Nacktheit jede Bedeutung verlor. Ich stellte mir vor, dass sie vielleicht noch als Kind den Anthropologen Lévi-Strauss getroffen hatte, der über die Bora und vor allem die Nambikwara sein berühmtes Buch „Traurige Tropen“ geschrieben hatte – ein Titel, der sich gleichzeitig als poetisch und tragisch erweisen sollte. Erst 2009 war der Begründer des Strukturalismus in die Akademie Francaise aufgenommen worden.

Bald nahmen die Kinder wie üblich die Besucher an der Hand, um sie erst zum Mittanzen, dann zum Kauf der Andenken zu bewegen und schließlich um ein paar Münzen anzubetteln. Die Geschäfte waren noch nicht abgeschlossen, als schon wieder die Trommeln ertönten und die nächsten Besucher eintrafen. Wir fuhren zurück, zeigten uns gegenseitig das gerade Erworbene und waren voll Verständnis für den unvermeidlichen, anthropologischen Schwindel. Der eigentliche Wohnort der Bora lag noch tiefer im Land, aber wie immer blieb der Backstagebereich (zu dem im kleineren Maßstab auch die Küche der Lodge, im größeren auch die Slums zählen) „off limits“.

Auf der Rückfahrt hielten wir noch einmal und kletterten zu den ersten Hütten hoch, die uns schon bei der Herfahrt aufgefallen waren. Es handelte sich um Käfige, in denen der Zooinhaber alle jene Tiere gefangen hielt, die wir auf freier Wildbahn hätten sehen sollen. Nach und nach nahm er sie heraus, drückte uns den Kaiman in die Hand, setzte uns den Papagei auf die Schulter, hing uns die Python um den Nacken und ließ uns mit den winzigen Affen spielen. Die Fotostrecke kam nun auf eine befriedigende, wenn auch eine, dem ursprünglichen Konzept (und Versprechen) diametral entgegengesetzte, Weise zustande. Und wie um einen etwa nagenden Zweifel zu betäuben, schenkte der Gastgeber noch von einem selbst angesetzten Gesundheitsschnaps aus, einer Art natürlichem Viagra. Es wurde entsprechend gescherzt und noch mehr getrunken, und die Mutigsten kauften sich eine Plastikflasche mit dem braunen Getränk, ehe wir nach Iquitos zurückkehrten, glücklich mit der Inszenierung des Gegenteils von dem, das man uns versprochen hatte.

WILHELM HENGSTLER ist Filmregisseur und Autor, ausgezeichnet mit dem Manuskriptepreis 2004, lebt in Judendorf/Strassengel bei Graz. Hengstler ist soeben von einer Südamerikareise zurückgekehrt und berichtet darüber exklusiv für GAT.

Verfasser/in:
Wilhelm Hengstler
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