13/09/2009
13/09/2009

Fotos: Emil Gruber

"Die Aufnahmen entstanden im Donawitzer Ortsteil Neuwerk. Hier verbrachte ich als Junge viele Nachmittage, um die an den Hochöfen hinauf- und hinunterfahrenden Hunte zu beobachten. Vom multikulturellen Viertel meiner Kindheit, das sich durch die angesiedelten „Gastarbeiter“ entwickelte, ist nicht viel geblieben. Bis zum Ende der 1980er-Jahre sperrten Lebensmittelläden, Trafik und Gasthäuser nach und nach zu. Heute leben nur noch wenige Menschen in den heruntergekommenen Häusern. Als einzige Infrastruktur hat Neuwerk heute nur mehr ein Bordell zu bieten." EMIL GRUBER

Zwischeneiszeit
Eine Ausgrabung

In Frankfurt hatten gerade eine Frau Ensslin und ein Herr Baader ihr erstes Kaufhaus angezündet, da stürmte in Donawitz eines Nachmittags ein neunjähriger Bub atemlos in den Greißlerladen ums Eck. Die beiden alten Hammer-Schwestern schreckten hoch. Halb verborgen hinter einer monumentalen Monetärskulptur, einer antiken Registrierkassa, die fast ein Drittel des Ladentisches einnahm, machten sie wie immer ein Synchronnickerchen, bis eine Kundschaft sie durch die bimmelnde Glocke an der Tür aus ihren Träumen riss.

An normalen Tagen war für den Jungen immer zuerst Staunen an der Reihe, wenn er den kleinen Laden betrat. Es tat sich eine zweigeteilte Welt auf, der Kaufmann war noch alleiniger Herr seiner Warenströme. Ein zwingerähnlicher Vorraum für drei, höchstens vier Kunden – wenn man engeren Körperkontakt zueinander vermeiden wollte – wurde von einem länglichen Verkaufstisch, der „Budel“ und einer im rechten Winkel dazu stehenden Frühform der Frischhaltetheke eingerahmt. Auf der anderen Seite ragten meterhohe Regale bis an den Plafond hinauf, die mit Überlebensmitteln wie Mehl, Zucker, Grieß oder Konserven, aber auch Waschsoda-Packungen, Hirschseifenstapeln, Austria Email Töpfen, Varta Glühbirnen aufgefüllt waren. Wie ein Windspiel baumelten an einem Haken am Plafond Teppichpracker im Luftzug. Eine zusammenklappbare mobile Leiter, eine kleine Tiefkühltruhe und Körbe mit Kartoffeln, Gemüse und Obst der Saison standen am Boden verteilt und die beiden Schwestern erinnerten, wenn sie den Besorgungsslalom starteten, nachdem ihnen ein Einkaufszettel in die Hand gedrückt worden war, an Gertrud Gabl oder Christl Haas. Vereinzelt flatterte eine Motte im Licht und gab es einmal Weintrauben, galt eine Hundertschaft Fruchtfliegen als normale Gratisbeigabe. Es war noch eine Zeit der inhaltsstofflichen Unschuld, eine Zeit ohne Ablaufdatum.

Besonders die alte Krupp-Kassa mit den vielen Knöpfen, dem ratschenden Hebel an der Seite und dem Analogdisplay, das steckte und nur mehr die Tafel „Wechseln“ anzeigte, hatte es dem Jungen angetan. Sein weitgereister Onkel, ein Technikliebhaber, erzählte ihm einmal, dass ein amerikanischer Gastwirt das Ding erfunden hat, nachdem er auf einer Europareise ein Gerät kennen gelernt hatte, das die Umdrehungen einer Schiffsschraube zählt. Seitdem stellte sich der Bub immer vor, dass die Kassa innen mit Wasser gefüllt ist und eine große Turbine zu rotieren beginnt, wenn man den Seitenhebel dreht. Leider waren die beiden Schwestern sehr unkooperativ, als er einmal mit einem, heimlich vom Vater entwendeten Schraubenzieher in der Hand die zaghafte Bitte äußerte, einen kurzen Moment ins Allerheiligste der Maschine schauen zu dürfen.

Doch diesmal würdigte der Junge das Gerät nicht einmal eines Blickes. Zwei Schillinge, noch warm von der geballten Faust, in der sie sich befunden hatten – von der Mutter mit der Versprechung, ihr bis ans Ende aller Tage eine neue Dimension des Bravseins und der Hilfsbereitschaft angedeihen zu lassen, herausgebettelt – klirrten auf die zerfurchte Resopalplatte. Drei Augenpaare starrten sich in diesem Frühsommer 1968 kurz gegenseitig an, bis der Mund des Jungen atemlos das entscheidende Wort formte: „Twinni!“ Brandneu war sie am Markt, diese neue Eissensation aus Birne und Orange und einem Schokoladehütchen darüber. Eine revolutionär geformte Doppelgeschmacksrakete mit zwei Holzstäbchen zum Auseinanderbrechen und Teilen. (Teilen kam zwar für den jungen Tester dieses kalten Schleckprototyps vorerst nicht in Frage, aber Brechen auf alle Fälle.)

„Was ist das?“, fragte die ältere der beiden Schwestern, deren ursprünglich weißer Nylonkittel wahrscheinlich durch tägliches Waschen eher schon ins Gelbliche tendierte. „D…D...Der neue Eislutscher von Eskimo“, stotterte der Junge verwundert. „War heut groß in der Zeitung.“ Der Vater des Jungen war, wie üblich, nach der Rückkehr von der anstrengenden Frühschicht im Stahlwerk und vom Mittagessen gesättigt, am Tisch eingenickt. Um den breiten Nacken des vorn übergebeugten Kopfes ringelte sich gerade routinemäßig „Weibi“, die feiste Hauskatze, die, ohne ihn dabei zu wecken, eine sanfte Technik des Aufstiegs, entlang der am Tisch abgestützten Arme des Vaters, entwickelt hatte. Dieses wohlige Tête-à-tête war zu einem, von beiden durchaus geschätzten Ritual geworden. Angelockt von dieser, fast an eine frühe Luigi-Nono-Komposition erinnernde Symphonie des Schnarchens und Schnurrens, fiel der Blick des Jungen auf die vor den beiden Schlummernden ausgebreitete „Krone“. „Neu“, stand da, ein lächelnder Junge seines Alters war daneben zu sehen, in jeder Hand einen Eislutscher. Ein Casablanca-Moment entstand: „Twinni, ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft“, hätte wohl Rick dazu gemeint.

Während also der Junge im Geiste schon die Verpackung heruntergerissen hatte, wartete auf ihn eine unerwartete Hürde: „Hamma net“, erwiderte nun Schwester zwei. Die jüngere der beiden war für alle „Hamma net“ im eigenen Greißler-Universum zuständig, und darin gab es ja durchaus viele unbekannte oder neu zu entdeckende Gestirne. Frau Hammer, die Jüngere, hatte, seitdem ihr Mann gestorben war, Tag für Tag und unabhängig von der Witterung, ein schwarzes Wollkleid an. Die vielen Fluseln, die das Kleid bei zu langem Anstarren zu einem Rorschachtest machten, ließen vermuten, dass dieser tragische Moment noch aus der Monarchie herrührt. „Müsst´ ma bestellen.“ Nun war wieder Frau Hammer, die Ältere, am Zug. Ähnlich wie Polizisten beim Verhör, hatten sich die beiden Damen alleine schon durch ihre Kleidung die Rollen beim Verkaufsgespräch klar aufgeteilt. Schwarz: Niederlage, Weiß: Hoffnung. „Müsste bis in einer Woche da sein“, kam nun als süßer Trost fast gleichzeitig über die Theke, wobei bei diesem oftmaligen Standardsatz der möglichen Verfügbarkeit Frau Hammer 2 (weiß) immer erst um ein Wort verschoben einsetzte, was den Eindruck eines Echos im Laden bewirkte. Niedergeschlagen nahm der Junge seine beiden Münzen wieder auf, schlich ins Freie, die beiden Damen versanken schwarzweiß hinter der Decke und schalteten wieder in den Ruhebetrieb. Vorerst.

Es begann eine Ära des Aufruhrs. In Paris errichteten Studenten Straßenbarrikaden. In Donawitz hieß die Barriere Geschäftszeiten. In Zeiten, in denen Geschäfte nur vier Stunden am Vormittag und drei am Nachmittag offen hatten, wurde die Schule für den Jungen trotz der Tatsache, dass er seit Monaten rettungslos in Fräulein Maierhofer, seine Lehrerin verliebt war, plötzlich zur Qual. Hatte er noch am Tag zuvor nur Augen für sie gehabt, fiel sein Blick nun durchs offene Fenster auf die Straße und er wartete auf das Vorbeifahren dieses einen Kühlwagens. Sprangen Fräulein Maierhofer und er in seinen Fantasien bis vor kurzem noch barfuß Hand in Hand durch Frühlingswiesen, war seine romantische Begleitung nun ein zweigeteilter Eislutscher.

Von nun an wartete der Junge jeden Nachmittag beim Laden. Schoben die Schwestern von innen den auch über die Mittagszeit gesenkten Rollladen hoch, erblickten sie ein Gesicht, auf dem in großen Buchstaben „Twinni?“ zu lesen war. Kopfschütteln war der schwarzen Witwe Antwort.

In Wien reckten junge Aktionisten einem ziemlich irritierten Publikum ihre nackten Hintern entgegen. In Donawitz saß derweil ein Junge vor einem Greißlerladen, vergaß auf Familie, Freunde, Fußballspielen und wartete.

Gegenüber, im Stahlwerk, fuhren Hunte unablässig Koks in die feurigen Bäuche der Hochöfen, aus den Kühltürmen stieg dichter Wasserdampf. Waggons voller Erz fuhren an der davor liegenden Bahnstrecke vorbei. Gedämpftes Kreischen war zu hören, wenn in den Hallen Sägen die frisch gewalzten Schienen teilten, das Gewimmer von auf Stahltrossen hin- und herfahrenden Lastkränen war in der Luft, genauso wie dicke Rauchwolken, die bei schönem Wetter die Sonne verdunkelten und bei Regen die ganze Gegend mit einem feinen, schmierigen, rostroten Belag überzogen.

Am Abend, wenn sich die Rollos wieder gesenkt hatten und der Junge noch schnell einen Kontrollgang zur Hintertür gemacht hatte, um sicherzustellen, dass sich der Eiswagen nicht doch heimtückisch von der anderen Seite angepirscht hatte, war wieder ein Herz statt eines Eislutschers gebrochen.

Doch dann, eines Tages, es war kurz vor zwölf, knapp eine Woche nach der gedruckten „Twinni“-Erstsichtung: Als der Junge, mittlerweile immer mehr in sich zurückgezogen, gerade die Schule verließ, fuhr er vorbei. Hochgerissen aus seiner Verzweiflung, konnte er, bevor der Kühlwagen um die Kurve bog, gerade noch „Esk“ auf der Seitenwand des Autos lesen. Die Turmuhr der Kirche schlug das erste Mal, als ein Junge, dem Sportlichkeit ansonsten nicht gerade anzusehen war, wie ein Gepard auf einen Greißlerladen zurannte, bei dem sich gerade die Mittagsrollläden zu senken begannen. Die Hammer-Schwestern erzählten später, dass sofort die Bilder aus dem Bürgerkrieg anno `34 wieder hochkamen, als sich eine Gestalt in Elitesoldatenmanier unter den fast geschlossenen Rollbalken in den Laden hechtete und „Hurra!“ schrie. „Nach einer kurzen gegenseitigen Schockbehandlung und einem stillen Dankgebet zum Herrgott lächelten dann doch beide Damen. Frau Hammer in Weiß ging zur Kühltruhe, kramte drinnen herum und reichte etwas Orangegrünes über die Budel. Eine zweite Sonne erleuchtete kurz das Geschäftslokal, zwei Schillinge klimperten auf den Verkaufstisch, eine kleine Gestalt rollte genauso schnell, wie sie gekommen war, wieder rückwärts unter dem Balken durch.

In Amerika wurde Bobby Kennedy begraben. In Donawitz waren für feine Ohren kurz ein Rascheln und gleich darauf ein Knacken zu hören.

EMIL GRUBER
lebt in Graz
Bildermacher, Schreiber, Spaziergänger.
KONTAKT: katmai@aon.at
http://ortlos.com/photography

Verfasser/in:
Emil Gruber
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+