09/08/2009
09/08/2009

Gräber Nasca

Gräber Chauchilla

Mumien

Mumien

Maria Reiche

Kolibri

der Schatten des Autors

WILHELM HENGSTLER
Peru 1/3

Archetypische, irrationale Ängste gegen die statistische Wahrscheinlichkeit: Z. B. eine Haiattacke oder ein Flugzeugabsturz. Für Südamerika ist es die Geschichte eines jungen deutschen Paares, das von Kriminellen, verkleidet als Polizisten, in eine gefälschte Polizeiwachstube entführt, gefoltert und schließlich, nachdem man seine Konten geleert hat, getötet wird. Ich meine, wer könnte einem derart sorgfältig durchgeführten Anschlag entgehen? Neben der unverhältnismäßigen Grausamkeit wegen eines verhältnismäßig kleinen Geldbetrages ist es vor allem die Instrumentierung der an sich furchteinflößenden Institution Polizei, die Usurpation des staatlichen Machtmonopols, die diese Geschichte so unheimlich macht.

Die Warnungen im Lonely Planet, die die längst über den Kopf gewachsene Tochter vorliest, sind eher beunruhigend: Keine Nachtbusse nehmen – aber auf bestimmten Strecken wie Nazca-Arequipa gibt es nur Nachtverbindungen; nicht auf Ablenkungsmanöver reagieren, z. B. auf Angespucktwerden oder Hilfsangebote; keine fremden Taxis nehmen – aber es sind doch alle Taxis fremd. In ca. 3 Stunden landen wir in Peru, und während der nächsten fünf Wochen nimmt die Geschichte ihre ärgerliche, lächerliche oder womöglich tragische Fortsetzung.

Die peruanische Flagge gleicht der österreichischen, nur steht das Rot-Weiß-Rot aufrecht und in der weißen Mitte ist noch etwas. Es gibt die Theorie, dass Flaggen oder Trachten oft das Wesentliche eines Landes abbilden. Die weiß-blaue Flagge symbolisiert beispielsweise die Ägäis, die Inseln Griechenlands und das Licht über ihnen. Im Steireranzug – grauer Loden, grüne Spiegel – finden sich die Tannen und die Berge. Lässt sich Ähnliches auch von der Architektur sagen? Schon am Flughafen Fort Lauderdale und später bei der Ankunft in Lima waren mir die kleinen, dunklen Männer aufgefallen, irgendwie unbeirrbar und still, wie die Felswürfel, aus denen die Inka-Festungen gebaut sind. Auf der Fahrt vom Flughafen ins Hotel Bella Casa ging es dann über breite, im Nachtlicht trüb wirkende Straßen, eingefasst von niedrigen, würfelartigen Häusern, oft ineinander geschachtelt, aber ohne besonders an Höhe zu gewinnen. Die Häuser wirken zu kompakt, um an Spielzeugwürfel denken zu lassen, scheinen bescheiden und mächtig zugleich. Die Vorderfronten sind gelegentlich bemalt – blau, rot, grün – aber bei der trüben Beleuchtung und dem Wintersmog wirken selbst diese Farben – den falschen Frohsinn der vielen Neonreklamen ausgenommen – ausgesprochen matt. Der Würfel, der stumpfe Quader scheint Grundlage der Gestaltung, aber die Gedrungenheit, die scheinbare Simplizität wird gelegentlich durch plötzlich aufflammende, ungewohnte, geradezu halluzinatorische Muster gesprengt: Tigergeflecktes, Schlangenlinienmuster, Menschenglyphen, die das Quadrat, den Quader auflösen. Auf der Fahrt nach Nasca kommen wir an einer Hausbemalung vorüber, die auf rotem Grund vier Worte zeigt: Patria/Religion oben, Honor/Cultura unten. Selbst diese, der Renaissance und Aufklärung entstammenden Worte sind im präkolumbianischen Quadrat angeordnet.

Nasca ist umgeben von der Wüste, am Ende fast jeder Straße leuchten die Berge dunkelbraun, schwarz, ocker, braunrot. In diesen Faltenwürfen der Berg- und Wüstenhänge hat sich das Schweigen verfangen, das über den Nascalines und den Mumien der Ica-Chicha Kultur liegt.

Zu den Grabfeldern geht es am Flughafen Maria Reiche vorbei, 20 km über die Panamericana, vorbei an weiten Landstrichen, die „prohibitado“ sind. Hier wird Gold und Kupfer gefördert oder vermutet. Zwischen Industrieanlagen erstreckt sich eine
Mauer aus ungebrannten Lehmziegeln, durch deren Lücken lange Reihen der bereits bekannten, niedrigen Quader, diesmal aus Adobe, sichtbar werden. Der Indio-Reisebegleiter Fredi erzählt, dass es sich um Slums handelt. Sie haben, wie die Slums meistens in den Ländern, genügend Raum, sind unsichtbar, ebenso wie die Bewohner. Hier leben Indios – sehr arm, sehr fleißig, sagt Fredi – die in der Hoffnung auf ein besseres Leben vom Altiplano herabgekommen sind. Vielleicht arbeiten sie auch in den neuen Goldbergwerken. Ihre Siedlung verfügt erst seit kurzem über Strom, aber das Wasser müssen sie aus dem 5 km entfernten Nasca kaufen.

Die 1000 Jahre alten Gräber von Chauchilla haben nichts mit den um 800 n. Chr. entstandenen Nascalines gemein. Flugdächer zum Schutz, die an einen Western erinnern, die Mumien sind in der trockenen Luft unglaublich gut erhalten. Das Haar, gelegentlich länger als die prähistorischen Wasserkünstler groß sind, scheinen ihr Menschenwesen ausgemacht zu haben. Die Gräber sind sehr aufwändig, Fredi behauptet aber, dass es keine Königsgräber, sondern solche für common people seien. Für ihre Toten haben diese Alten mehr Fürsorge gezeigt, als die lebenden Toten im Slum jetzt bekommen.

Das Schicksal von Maria Reiche aus Dresden hat mich immer mehr gereizt, als die Bedeutung der Wüstenzeichnungen oder ihre, wie Däniken meint, mögliche Herkunft von Außerirdischen. Die Mathematikerin kam 1939 mit Paul Kosok nach Nasca, um ihm bei der Vermessung der Linien zu helfen. Aber Kosok ging und Reiche blieb. Den Rest ihres Lebens verbrachte sie hauptsächlich in einer armseligen Hütte nahe den Lines, über die sie publizierte, die sie (vermutlich mit deutscher Gründlichkeit) vor dem Verfall rettete und auf die sie – wie ich fest überzeugt bin – ihre Liebe zu Paul Kosok, dem entflohenen Liebhaber übertrug. Heute ist der Flughafen nach ihr benannt, ihre Hütte wurde zu einem ansehnlichen, stillen Museum erweitert und sie zur eigentlichen Urheberin von Nascas Tourismus. Die Linien sind noch immer gefährdet, weil die Fernlaster über sie dahinrattern, um Kontrollstellen auszuweichen.

Der Kondor, der Affe, der Kolibri und der kleinste von ihnen, der Astronaut sind ohne Zweifel beeindruckend, aber noch beeindruckender sind die von Wind und Zufall in die Wüste geschriebenen, krausen Wirbel und Girlanden. Und vom Flugzeug aus, dessen Schatten tief unten über die Wüste zieht, ist auch die Panamericana zu sehen, aus dem zivilisatorischen Zusammenhang betrachtet, eigentlich genauso unbegreiflich wie die Nascalines.

Von Nasca fuhren wir dann im Obergeschoß des Busses. Es gab nur mehr 2. Klasse, und wir hatten die Hoffung, von da oben mehr zu sehen. Aber da wir nach Mitternacht abfuhren, gab es natürlich nichts zu sehen. Die Pässe – manche an die 4000 Meter – spürten wir an einem komischen Gefühl im Magen, den Kopfschmerzen und daran, dass die Verrückte, die mit uns reiste, die Tür zum WC lange geöffnet hielt, um sich zu überlegen, wann es Zeit wäre, sich zu übergeben, zu defäkieren (was verboten war) oder zu urinieren. Wir hätten nicht direkt neben der Toilette sitzen müssen, um das mitzubekommen, da die Klimaanlage sowieso den ganzen Bus mit ihren Botenstoffen versorgte. Sonne und dünner Nebel wechselten im Morgenlicht einander ab. Die schäumenden Flüsse und zerklüfteten Felswände erinnerten an unser Hochgebirge.
Zwischendurch tauchten Hütten aus Lehm oder Beton auf, oft noch mit Verschlägen und Ställen aus Wellblech und Plastikplanen auf ihren Flachdächern; sie glichen aufs Haar jenen in allen Armutsgebieten der Welt. Zerbrochenes und Weggeworfenes war hier noch zur scheinbaren Verbesserung oder Verschönerung eingebaut. Ein Mädchen führte zwei Ferkel an der Leine, ein Junge saß quer zum Rinnstein, die Füße gegenüber eingestemmt und spielte mit dem kalten Wasser, ein kleines Kind hockte neben der Straße auf dem Boden, Männer und Frauen in dicken, kurzen Röcken, saßen auf den Feldern – klein und unverrückbar. In Asien kauert oder hockt man sich dagegen hin. Nirgendwo habe ich so viele Menschen einfach auf dem Boden sitzen sehen, ganz so, als seien sie im Begriff, wieder mit ihm zu verwachsen. Sie waren Teil dieser Kompaktheit, die ich überall zu sehen vermeinte. Und waren der „leuchtende Pfad“, all die gelegentlich ausbrechenden Revolten, nicht das zu Aktion gewordene Muster von Jaguar, Schlange und Kondor, die ich im Kuben-Design verborgen sah.

Oben auf dem Altiplano fiel mir der Beginn von Levi-Strauß „Traurigen Tropen“ ein, in dem er Südamerika als unendlich weiter und wüster beschreibt, als jede europäische Wildnis, in der doch stets das Echo einer Kulturlandschaft zu spüren ist.
Vor dem Frühstück legte ich dann noch meinen großen peruanischen Stunt hin. Als Mann benötigt man irgendwann beide Hände, um sich auf der Toilette den Hosenbund zuzuknöpfen und dergleichen. Und genau in diesem Augenblick wurde ich zum Opfer der im ersten Stock eines Überlandbusses wirkenden Fliehkräfte. Ich knallte gegen die widerstandslos aufspringende Klotür, schoss gleich einer stark verformten Kanonenkugel quer durch die Breite des schlingernden Busses und schlug in die Wand gegenüber ein. An den Gesichtern der Stewardess, die ich mit ihrem Tablett heißem Mate-Koka glücklicherweise verfehlt hatte, und denen der Umsitzenden erkannte ich die Gewalt meines Sturzes. Mein Kopf fühlte sich blutig an, aber dann wurde es doch nur eine große Beule. Glücklicherweise besteht die Innenarchitektur dieser Busse hauptsächlich aus aufgeschäumtem (hartem) Plastik. Ich war auf den Beinen, bevor die hin und her schlagende Tür wieder in ihr Schloss fiel, und da machte sich mein geprelltes Steißbein bemerkbar, immer stärker die restlichen Stunden bis Cusco, und hörte auch danach lange nicht auf.

WILHELM HENGSTLER ist Filmregisseur und Autor, ausgezeichnet mit dem Manuskriptepreis 2004, lebt in Judendorf/Strassengel bei Graz. Derzeit bereist Hengstler Südamerika und berichtet in mehreren Beiträgen exklusiv für GAT darüber.

Verfasser/in:
Wilhelm Hengstler aus Peru
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