05/07/2009
05/07/2009

WILHELM HENGSTLER
Aus der Chronik vom Ende der Welt
Der Untergang des freien Marktes in drei Minuten

An die Selbstheilungskräfte des freien Marktes glaubte schon lange niemand mehr. Die Apokalyptiker freuten sich auf den Einschlag eines strafenden Meteors, der nebst allem anderen auch das Ende des freien Marktes mit sich bringen würde. Die Realisten setzten auf einen atomaren Flammenball, ausgelöst wahlweise durch die israelische Bombardierung iranischer Atomkraftwerke oder eine Atomrakete Nordkoreas. Die Entropisten gingen davon aus, dass das ganze Menschengeschlecht irgendwann mit Aids durchseucht und schließlich außerstande zur Fortpflanzung sein würde. „Leben ist eine Krankheit, die durch Geschlechtsverkehr übertragen wird und letal endet“, pflegte Erich Wirrbichler zu sagen, und es war dann der Apotheker aus dem bayrischen Alpenvorland, der für das Ende des freien Marktes sorgte. Wirrbichler hatte in Wien mit glänzendem Erfolg Pharmazie studiert und anschließend für das Internationale Rote Kreuz den bei einem einzigen Volk im Zentralkongo auftretenden Pygmäenvirus erforscht. Die Merkmale der Krankheit bestanden in leicht erhöhter Temperatur und einem unbezwingbaren, erst im Gesicht, dann am ganzen Körper auftretenden Juckreiz. Die Pygmäenseuche war zwar lästig, klang aber nach wenigen Tagen ab und beeinträchtigte die von ihr Befallenen, da sie bis auf Nabelschnur oder Penisköcher unbekleidet waren, nur mäßig.
Frustriert von der berüchtigten Bürokratie zog sich der hochbegabte Wirrbichler nicht nur aus Henri Dunants Organisation zurück, sondern schlug auch eine Lehrtätigkeit am berühmten MIT aus. Er bescheidete sich lieber mit der Übernahme der väterlichen Apotheke und ehelichte eine stattliche Blondine, die ihm alsbald vier Kinder gebar. Während der nächsten zwei Jahrzehnte spielte der Apotheker begeistert, aber mit mäßiger Begabung Tennis, segelte seine 470er-Jolle auf dem Chiemsee und betätigte sich im Rahmen eines Premierenabonnements kulturell am Münchner Residenztheater.

Auf der Versammlung des Zentralverbandes der bundesdeutschen Pharmaindustrie in Frankfurt traf Wirrbichler jedes Jahr den ehemaligen Kommilitonen Ludvik Kowatsch. Sein immer noch bester Freund hatte ihm seinerzeit die Infrastruktur seines Unternehmens „Pharma-Acumen“ zur Verfügung gestellt, damit er sich mit der Entwicklung eines Impfstoffes gegen den geheimnisvollen Juckreiz der Pygmäen habilitieren könne: Ein Unternehmen, das bei verschiedenen NGOs großes Interesse erregt und Wirrbichler auch den Ruf an das MIT eingebracht hatte. Die Habilitation war dann aber von Wirrbichler aufgegeben worden: einerseits weil der brillante Nachwuchswissenschaftler, wie schon gesagt, seinen Lebensplan geändert hatte; andererseits, teils weil die Pygmäen wegen der Vernichtung ihres natürlichen Lebensraumes ohnehin im Aussterben begriffen waren und Kowatsch von dem Unternehmen keinen Gewinn erwartete.

Das Ende des freien Marktes begann mit einer Mitteilung von Wirrbichlers Frau, während einer Tagungspause, als er gerade mit Ludvik Kowatsch ein wohlverdientes Bier trank und im Fernseher eine Sendung über den doch recht komplizierten Nachweis der Schweinegrippe verfolgte. „Dieses Problem hatten wir aber im Griff“, sagte Kowatsch, als Wirrbichler von seiner Frau gerade per Handy eröffnet bekam, dass sie es satt habe, mit den durchtrainierten Absolventinnen des Reinhardt Seminars zu konkurrieren. Sie zöge die Konsequenzen und bräche spät, aber nicht zu spät, mit ihrem Qi-Gong-Lehrer vom Chiemsee aus zu einer Weltumrundung auf.

Diese Nachricht bewog die beiden Herren, der Versammlung ihres Zentralverbandes fernzubleiben. Bei einem weiteren Bier erörterten die einstigen Kommilitonen ihre persönlichen Probleme, die sich hinsichtlich der Größenordnung allerdings um Zehnerpotenzen unterschieden. Erich Wirrbichler sah sich durch die Forderungen seiner Frau, durch seine vier an Eliteuniversitäten studierenden Kinder, das große, nunmehr verwaiste Anwesen am Chiemseee und die vielen Premierenfeiern mit Jungschauspielerinnen als Apotheker finanziell leicht überfordert. Ludvik Kowatsch dagegen hatte es während der letzten Jahre geschafft, mit allzu komplizierten Devisengeschäften die an sich florierende „Pharma-Acumen“ im Zuge des Finanzmarktdesasters an den Rand der Insolvenz zu spekulieren.

„Wie viel Zeit brauchst du für die Fertigstellung des Impfstoffes gegen die Pygmäengrippe?“ Wirrbichlers Einwand, dass die Pygmäengrippe
wirtschaftlich ohne Bedeutung sei, entkräftete der dynamische Chemie-Manager Kowatsch: „Aggressive Angebotswirtschaft! Die Menschheit weiß doch nie, was sie braucht! Es gehört zum freien Markt, für Angebote zu sorgen, die man nicht ablehnen kann!“
Die nächsten eineinhalb Jahre erneuerten die beiden Geschäftsfreunde auf beschwerlichen Reisen ihre Bekanntschaft mit den Pygmäen des zentralen Kongo, von denen beklagenswert wenige überlebt hatten. Während der verbleibenden Zeit verbesserte Wirrbichler das ursprüngliche Serum und brachte es zur Serienproduktion. Ludvik Kowatsch, die zweite Figur in dieser arbeitsteiligen Erfolgsgeschichte, kaufte indessen über Mittelsmänner die Aktien der „Pharma-Acumen“, die ohnehin im Keller lagen, unauffällig zu Schleuderpreisen auf.
Der Abschluss dieser ersten Phase ihres Planes traf mit dem Festival der Kulturen anlässlich der Eröffnung von Ground Zero in New York zusammen und es war kein Zufall, dass auch die Pygmäen aus dem Kongo ihrer Maskentänze wegen eingeflogen wurden.

Tatsächlich brauchte es dann keine komplizierten Verfahren zur Feststellung der Pygmäenseuche. Die Macht des Juckreizes ließ sich allenfalls mit einem imperativen Harndrang vergleichen, nur halfen hier keine unauffälligen Windeln. Die Infizierten kratzten sich erst beiläufig an den Augenbrauen oder hinter den Ohren, schoben dann die Hand unter die aufgeknöpfte Blusen und öffneten schließlich die Gürtelschnallen, um sich Erleichterung von dem unerträglichen Juckreiz zu verschaffen.

Die älteren Fernsehzuseher erinnerten sich noch an die „Flitzer“, die ihrerseits freiwillig durch ihre Nacktheit um Aufmerksamkeit gerannt waren. Aber die Business Class-Reisenden, die Backbacker, die braun gebrannten Models und würdigen Staatsmänner hatten einen wesentlich höheren Unterhaltungswert als die anonymen Flitzer, wenn sie sich die Kleider vom Leibe rissen. Aber seine dramaturgischen Höhepunkte erreichte das öffentlich-rechtliche Fernsehen, wenn Flughafenbeamte und Leibwächter, immer bemüht, ihre hohen Fluggäste unbefugten Blicken zu entziehen, selber ihre Schutzbefohlenen im Stich lassend, ihrem eigenen Kratzzwang nachgaben. Unter diesen Umständen verzichtete der Papst bald gänzlich auf Reisen und die Mullahs, unversehens in nackte, tanzende Derwische verwandelt, beklagten die Gottlosigkeit westlicher Viren.

Man kann davon ausgehen, dass eine gewisse Laxheit im Zulassungsverfahren des von der „Pharma-Acumen“ eingereichten Impfstoffes seinen Grund in der persönlichen Betroffenheit hoher Vertreter der Gesundheitsbehörde hatte. Unnötig auch zu sagen, dass die Aktien der auf „Wirrkow Pharma“ umbenannten „Pharma-Acumen“, die das einzige wirksame Gegenmittel gegen die Pygmäengrippe anbot, in die Höhe schoss. Die Selbstheilungskräfte des Marktes und das freie, innovative Unternehmertum schienen sich wieder einmal durchgesetzt zu haben, bis sich ein schiverrücktes Bikini-Starlet im Ski Dome von Dubai angesichts des draußen gleißenden Wüstensandes buchstäblich zu Tode kratzte. Irgendwie war das harmlose Pygmäenvirus zum Killervirus mutiert, das nicht mehr zu stoppen war. Dubai wurde unter Quarantäne gestellt, aber drei Tage später hatte sich die Krankheit bereits über den Erdball verbreitet.

Die besten Geschäfte werden gemacht, wenn die Straßen rot von Blut sind. Statt nach wenigen Tagen abzuklingen, wurde der Juckreiz oder das Kratzbedürfnis zu einem autoaggressiven Drang, in dem die Infizierten - durchaus begleitet von Lustempfindungen - sich die Gesichter wie Masken abkratzten, hinter denen sich freilich nichts verbarg. Die Haut stellt das größte Organ des Menschen dar und wenn er sich dieses Lebenskleides entledigt, erstickt er. Die Flughäfen, die Schulen, die Straßen und Fabriken, die ganze Welt füllte sich mit den blutigen Leichen, die sich als Lebende freiwillig ihrer Haut mit Zähnen und Klauen entledigt hatten. Nur die Pygmäen blieben interessanterweise gegen den mutierten Virus immun.

Wirrbichler forschte fieberhaft nach einem wirksameren Impfstoff, bis er, bereits selbst zum Opfer geworden, den ebenfalls infizierten Ludvik Kowatsch noch einmal per Skype kontaktierte. Er erzählte dem früheren Kommilitonen vom Tod seines ältesten Sohnes, der sich auf einem Hip-Hop-Festival in Miami neben Kruder und Dorfmeister und Grissemann und Stermann zusammen mit 3000 anderen zu Tode gekratzt hatte. Da beide Geschäftsfreunde bei ihrem ekstatischen Kratzen immer wieder aus dem Aufnahmebereich der im Bildschirmrahmen integrierten Optik gerieten, nahmen sie voneinander nur mehr ihre merkwürdig verzögerten Stimmen war ... „Die Welt ohne uns“ Der Piper Verlag wollte mit einer Neuauflage des gleichnamigen, populärwissenschaftlichen Buches noch einen Bestseller platzieren, aber als die Rotationsmaschinen schwiegen, das Buch endlich gebunden und an die Rezensenten verschickt war, gab es schon keinen Leser mehr.
WILHELM HENGSTLER ist Filmregisseur und Autor, ausgezeichnet mit dem Manuskriptepreis 2004, lebt in Judendorf/Strassengel bei Graz.

Verfasser/in:
Wilhelm Hengstler
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