28/06/2009
28/06/2009

Ente-gut. Foto: Emil Gruber

EMIL GRUBER
Schaumschläger
Eine persönliche (Liebes-)Geschichte des Badens

Jeder kennt diese trist-grauen Regentage. Tage, an denen sogar überzeugte Selbstmordkandidaten zu depressiv sind, um Hand an sich zu legen. Ich öffne da gerne – nicht meine Pulsadern, sondern die guten alten, analogen Fotoalben. Dann hieve ich mein Jetzt in die Gewesenheit und schwelge – in völliger Harmonie mit einem der österreichischsten Leitgedanken seit jeher – im Früher.

Neulich entdeckte ich die ältesten, von mir bestehenden Aufnahmen wieder. Zwei Wochen nach einem neunmonatigen Schwimmen im mütterlichen Gen-Pool - meine Tante badet mich im Waschbecken und ich grinse über das ganze Gesicht, der Babyspeck schunkelt synchron mit den schlenkernden Händchen und Beinchen. Mir fehlt bis heute die eigene Erinnerung dazu, aber etwas Programmatisches zeichnete sich hier für meine Zukunft schon ab: a) Der Genuss, in heißem Wasser zu liegen; b) das immer wieder vollkommen den Frauen Ausgeliefertsein.

An meine „b’s“ mich zu erinnern, weigere ich mich konsequent –, wozu hat der liebe Gott die Verdrängung erschaffen? Aber das „a“ hat ein Recht auf Wiederentdeckung. Wir alle lieben ja diese Geborgenheit.
Meine Kindheit verbrachte ich in einer Arbeitersiedlung in einer obersteirischen Stahlstadt. Vier Wohnungen pro Stockwerk, jede, vom Wirtschaftswunder nur gestreift, in Vorraum-Küche-Wohn- und Schlafzimmer-Schuhschachtelarchitektur gebaut. Blickte jemand vom Eingang aus in die Wohnung, konnte er, wenn alle anderen Türen offen standen, auf einer Geraden im Hintergrund schon wieder den Hang der im vollen Gemüse stehenden Schrebergärten bewundern. Auf jeder Etage gab es außen noch einen Zusatzraum, der abgesehen von einem Kindskopf-großen Abfluss und einem ebenso überdimensionierten Boiler leer war: das gemeinschaftliche Badezimmer. An einer kleinen Tafel an der Stiegenhauswand daneben war von der werkseigenen Gebäudeverwaltung jeder Wohnungsnummer, wahrscheinlich schon seit der Gleichenfeier des Hauses, der wöchentliche Badetag zugeordnet. Der war unbedingt einzuhalten.

Trotz theoretisch weiterer drei möglicher Termine folgte jede Familie dieser Weisung, ohne je den Sinn zu hinterfragen. Mehrfach in der Woche zu baden, war damals in unseren Kreisen einfach nicht en vogue und hätte Argwohn bei den Nachbarn auf sich gezogen. Am Tag der persönlichen Erweichung hieß es zuerst einmal für alle ordentlich schwitzen. In der Familie entstanden Arbeitskreise, das Jungvolk schleppte Eimer mit Holz und Kohle aus dem Keller und fütterte damit die Ofentür des Megawasserkochers, um durch massigen Ausstoß von Aerosolen die Basis für eine individuelle Reinheit in die Gesellschaft zu legen. Arbeitsgruppe zwei wurde von den älteren, stärkeren Blutsbandenmitgliedern gebildet. Sie waren eine Art frühe Heavy Metal Task Force und für den eigentlichen Knackpunkt verantwortlich: Aus Hygienegründen hatte jede Wohnpartei ihre eigene Blechwanne. Unsere schlummerte an ihren Frei-Badezeiten im Kellerabteil, halb gekippt auf der eisernen Brikettsreserve für besonders harte Winter und erinnerte mich immer an das Maul eines prähistorischen Monsterkarpfens. Mein Bruder und mein Vater hatten die proletarische Sisyphus-Mission, das Ungetüm wöchentlich einmal in die luftigen Höhen des zweiten Stocks und später wieder zurück ins dunkle Brennstoffverlies wandern zu lassen.

Wenn das Blechplantschinstrument positioniert war und die Temperaturanzeige am Boiler so zu klettern begann, dass das Gerät ähnlich einer Rakete vor dem Start zu vibrieren begann, wurde die Reihenfolge der großen Säuberung bestimmt. Es galt das Untergangsprinzip: Kinder und Frauen zuerst. Als Nesthäkchen hatte ich hier alle Vorteile und marschierte daher durch dichten Wasserdampf voran zur angefüllten Wanne. Dort lag ich dann in einem Diorama von Plastikschwänen, Gummienten und Holzschiffchen, bis ich, inzwischen von der Hitze berauscht, aber noch voller reiner Gedanken, irgendwann vom Waschlappen meiner Mutter aus meinen Träumen geputzt wurde.

Ich wuchs, die Zeit mit mir und mit uns beiden der Standard zur Erreichung einer sauberen Haut. Am Höhepunkt meiner Pubertät gab es einen evolutionären Riesensprung, wir zogen um in eine Wohnung mit eigenem Bad. Aus Blech wurde Email, aus dem mobilen Schaffel eine fest montierte Sitzbadewanne und der dazugehörige Boiler stand so unter Strom, dass er keine Kohle mehr notwendig hatte. Für uns alle entstand so etwas wie ein emotionales Vakuum, wir waren bewegt von dieser neuen Grenzenlosigkeit, jederzeit einfach ins Wasser steigen zu können. Immer wieder drang lautes Schwappen und seltsames Singen aus unserer nun autonomen Nasszelle.

Aufgrund der mittlerweile wild wuchernden Länge meines Körpers war ich zwar nicht mehr komplett Land unter, dafür entwickelten sich, bei mittlerweile von innen abgesperrter Badezimmertür, in der Dunkelkammer meiner Traumwelten neue Arten von fantasievollen Bildern. Und nur die ausgedienten Gummienten am Fensterbrett waren Zeugen und sie schwiegen.

Weitere Jahre vergingen, mein herumruderndes Esther-Williams-Verhalten wurde von einer strammen Tarzan-Attitüde abgelöst, Duschen bogen mein Reinigungsverhalten von horizontal auf vertikal, emailfreie Zeiten brachen an. Meine erst zarte Männlichkeit sollte nicht länger von Cremebädern und Schaumblasen kontaminiert werden. Der echte Mann steht. Ich stand so lange, bis mir eine reifere Frau zeigte, welche Wonnen zwei Menschen selbst in der kleinsten Wanne haben können.
Als ich dann sogar noch auf der Leinwand den damaligen Leuchtturm der Virilität, Clint Eastwood, nach einem Bravourritt durch den Wüstenstaub in eine dampfende Holzwanne eintauchen sah, in der ihn gleich drei Westernschönheiten, jede nur mit einem Schwamm bewaffnet, zum Duell forderten, zog ich daraus eine endgültige Lehre für mein zweifelsfrei etwas unspektakuläreres Dasein. Nicht entweder-oder, sondern sowohl-als-auch hieß die goldene Regel für meine Lebens- und Wasserwege.

Ich fand meine erste große Liebe und wie unsere amerikanischen Zauberwald- Vorbilder verwandelten wir uns oft zu Nixe und Wassermann. Eine noch größere folgte der großen Liebe und nach der noch größeren folgten eine riesengroße und darauf eine ja-kann-es-denn-das-geben-so-große. Auch wenn alle diese Lieben irgendwann an der Nachhaltigkeit scheiterten, keine war wasserscheu. Alle perlten, glitzerten und schäumten.

Nach dem Ende der längsten, also der So-eine-große-Liebe-hat-die-Welt-niemals-je-gesehen-Beziehung kamen Wellen des Schmerzes und Wogen des Leidens, die nicht mit Wassertreten behandelt werden konnten, die Badewanne wurde wieder zum Tabu. Die Rückkehr des echten Mannes, der steht, lief in Reprise wieder als feiner Film über die Kacheln der Duschkabinen.

Eine neue Frau zog in mein Leben. Eine dreißig Kilo schwere Hundedame übernahm mich und mein Badezimmer. Besonders in den Übergangszeiten für jeden Schmutz hoch magnetisch, wurde sie die neue, eher unwillige Herrin der Wanne. Mein Saubermannimage war bald voller Flecken, viel Taktik, perfide Hinterlist und ausgefeilte Nahkampftechnik waren gefragt, um Movie, den Bouvier, in Zecken- und Flohbäder zu locken. Nach unseren Scharmützeln befand sich das ganze Badezimmer im biblischen Urzustand, ein Ort des Chaos und der Verwüstung.

Der Sand lief weiter durchs Stundenglas, nach vielen aufwühlenden Pearl-Harbour- Momenten folgte auch Movie einmal dem ewigen Hasen für immer und neue Trauer ließ meine Wanne wieder unangetastet. Meine Bademeisterschaften kamen nur mehr vereinzelt in Hotelzimmern zur Entfaltung, wenn ich – inzwischen ein erfolgreicher Repräsentant des mittleren Managements – dort nächtens nach Statistikquälereien, Verkaufsanalysenbeschuss oder Strategiefoltern mich wie ein müdes Krokodil bis zu den Augen im heißen Wasser versteckte und in mir unterging.

Dann in der Lebensmitte erfüllte ich mir meinen Traum vom eigenen Dachappartement. Ich erinnerte mich wieder an diese wundervollen, paarweisen Zeiten im Schaum und beschloss, anstatt eines Badezimmers eine Stätte der gehobenen Verführung zu planen. Dampfkabine, Massagedusche und eine Whirlpool-Badewanne für zwei, um in weltmännischer Art wieder dem weiblichen Geschlecht näher zu treten. Ließ wahren Lifestyle zur Wirklichkeit werden.

Doch der Lifestyle und ich konnten noch nie so recht miteinander, nach ein paar halbherzigen Versuchen, als Freibeuter im Innenmeer auf Kaperfahrt zu gehen, trennten sich unsere Wege und mein Geysir der Lust wurde für profanere Zwecke stillgelegt. Heute dient das Hightech-Gerät als Landeplatz für das Wäschetrockengestell, wenn es im Freien regnet oder schneit.

Doch manchmal, an grauen Tagen wie diesen, lege ich mich wieder in sie? Voll angezogen, ohne irgendeinen Wasserhahn aufzudrehen, schließe ich Frieden mit meiner Lady in Acryl und allen anderen Wannen meines Lebens. Jeder sucht schließlich nach Geborgenheit.

(Aus dem noch in Arbeit befindlichen Zyklus "Jeder Tag ein Weltuntergang – Geschichten aus dem Emilversum")

EMIL GRUBER
lebt in Graz
Bildermacher, Schreiber, Spaziergänger.
KONTAKT: katmai@aon.at

Verfasser/in:
Emil Gruber
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