Bold City Groningen
Schnell wird klar, dass sich Architekt und Stadtplaner Jeroen De Willigen nicht nur oberflächlich mit Groningen auskennt. Bei seiner Führung durch die Ausstellung, die er gemeinsam mit Ellen Schindler konzipiert hat, stellt er sensible Bezüge zur diversen Geschichte der Stadt her. Aufgrund der Ähnlichkeit zwischen Groningen und Graz können in der Ausstellung vielerlei Parallelen gezogen werden. Durch die Stadtplanung mit unterschiedlichen Quartieren, die von den Epochen geprägt wurde, und ein Fluss, der mitten durch die Stadt fließt, sehen sich die Städte zum Verwechseln ähnlich – nur hebt sich das eine „G“ eben mit strukturierter Verkehrsplanung und fortschrittlichen Begrünungskonzepten hervor.
Rundgang
Die erste Sequenz der Ausstellung bereitet den historischen sowie geographischen Kontext der Stadt Groningen auf, um im Weiteren die sogenannten „mutigen Entscheidungen“ der Stadtplanung — Kontinuität, Kollektivität und Kompaktheit — genauer Auszuführen. Neben jeder dieser „Entscheidung“ finden sich Beispiele, die das Konzept „Kontinuität, Kollektivität und Kompaktheit“ in den städtebaulichen Maßnahmen veranschaulichen. Die Aufbereitung der Informationen durch Videoinstallation, Text und Architekturmodelle ist sowohl für Expert*innen als auch für Schüler*innen geeignet. Neben den Inhalten, ist das barrierefreie, interaktive Ausstellungsdesign gelungen. Das Informationsmaterial ist isngesamt lesefreundlich und verwendet verständliche Visualisierungen der (Modell-)Stadt.
Durch die Anordnung der Ausstellungstafeln und die reflexiven Inhalte, die sich auf die anderen Ausstellungsmaterialien beziehen, erinnert die Raumerfahrung an ein offenes Labyrinth in welches man sich als Besucher*in schnell verliert. Generell gibt es viel zu lesen, jedoch sind die Informationen auf den Tafeln so aufbereitet, dass das Wesentliche schnell extrahiert werden kann.
Entlang der einzigen durchgehenden Wand des Ausstellungsbereiches zieht sich der Lageplan der Stadt Graz. Haftnotizen und Stifte daneben sollen einladen, den Plan mit eigenen Anmerkungen zu versehen. Es sind schon einige Fakten und Anregungen eingetragen worden. Eine schöne Geste, die den Ansatz des Austausches und der Gegenseitigkeit unterstreicht.
Lebensqualität durch Gemeinschaft
Groningen und Graz bilden als mittelgroße Städte mit laufendem Zuwachs einen speziellen Identitätsfaktor. Sie zeichnen sich durch eine einzigartige Lebensqualität aus, die ihre Bewohner*innen glücklicher zu machen scheint als den Durchschnitt in Europa. Nicht zuletzt soll das daran liegen, dass sich in sogenannten „15-Minuten-Städten“, in denen alles Notwendige innerhalb kurzer Zeit erreichbar ist, auch leichter ein vertrautes Netzwerk aufbauen lässt.
Während wir uns den „mutigen Entscheidungen“ nähern, weist Jeroen De Willigen auf die lokalen Gegebenheiten hin: Graz ist groß genug, um kulturelle Einrichtungen wie eine Oper zu haben, aber klein genug, um beständige zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Die Gemeinschaft wird durch die Menschen geformt, die hier zusammenleben. In dieser Stadtgröße ist zudem das Angebot an unterstützenden Systemen für benachteiligte Bewohner*innen der Stadt leichter umsetzbar. Anders als in größeren Städten, wo man gut in seiner eigenen Blase leben kann, kommt man in mittelgroßen Städten nicht umhin, mit verschiedenen sozialen Realitäten konfrontiert zu werden. Das soll das Gemeinschaftsgefühl stärken. Gleichzeitig sind die Städte aber anonym genug, um eine gewisse Privatsphäre zu wahren.
Autofrei und trotzdem viel los
Im hinteren Bereich des HDA ist auf dem Boden des Ausstellungsbereiches die Stadt Groningen abgebildet. Sie zeigt den Verkehrsplan, der sich als Ring um die Stadt bildet. Die Stadt ist in vier Bereiche unterteilt. Der öffentliche Raum bildet ein wichtiges Mittel für sozialen Zusammenhalt. Deshalb wurde schrittweise und über Jahrzehnte hinweg, kontinuierlich die Stadt zu einer verkehrsfreien Zone umgestaltet. Groningen soll keine Stadt für Autos, sondern für Menschen sein. Diese Haltung zieht sich auch durch das Verkehrskonzept der angrenzenden Nachbarschaften.
Für all jene, die noch immer skeptisch gegenüber der Idee einer autofreien Stadt sind, gibt der Grote Markt in Groningen ein überzeugendes Beispiel dafür, wie ein solcher Raum funktionieren kann. Am Grote Markt zeigt sich, dass mutige und durchdachte städtebauliche Entscheidungen, wie die Errichtung von Zonen mit kompletter Verkehrsentschleunigung durch Nutzung eines barrierefreien Öffinetzes zu einer höheren Lebensqualität und Zufriedenheit der Bewohner*innen führen können. Die positiven Entwicklungen für die lokalen Betriebe durch diese optimierte infrastrukturelle Einrichtungen, die auch auf die Rücksichtnahme von Personen mit Bewegungseinschränkungen ausgestattet wurden, stärkt zudem das Vertrauen in die administrative Ebene und zeigt, dass eine „autofreie“ Verkehrsplanung keinen Bruch in der Besucher*innenfrequenz der Stadt bedeutet.
Auf die Frage hin, wie sich ein positives Verhältnis zwischen der Bevölkerung und der Entscheidungsebene entwickeln konnte, hält De Willigen kurz Inne und antwortet:
„For big changes you need to have imagination of what the end result will look like, but not all citizens have this imagination, in fact there was resistance from the beginning in Groningen — even by the Police, but as an urban planner you also have to advise politicians to take responsibility for these big decisions that will benefit the whole city, which it did.“
„Für große Veränderungen braucht es Vorstellungskraft, um sich das Endergebnis auszumalen. Doch nicht alle Bürger*innen besitzen diese Vorstellungskraft. Tatsächlich gab es von Anfang an Widerstand in Groningen, sogar seitens der Polizei. Als Stadtplaner*in muss man jedoch auch die Politiker*innen dazu beraten, Verantwortung für solche weitreichenden Entscheidungen zu übernehmen, die der ganzen Stadt zugutekommen werden – was letztlich auch der Fall war.“
Bezug zu Graz
Städtische Dichte und Kompaktheit durch die verschiedenen Quartiere wird vor allem in den Architekturmodellen der Quartiere sichtbar, die neben den Schaufenstern platziert wurden und auch von außen betrachtet werden können. Während die Führung des Kurators mit dem Blick auf den Grazer Südtirolerplatz ihr Ende nimmt, entsteht zugleich eine Verbindung mit dem Stadtraum, welches den Austausch von Gedanken und Eindrücken anregt.
Erster Radweg: Bold Decision in Graz?
Ob sich in Graz bereits eine Bold Decision ereignet habe wird zum Schluss gefragt. Dazu erzählt Zerina Džubur, die seit 2009 im HDA u.a. Ausstellungen koordiniert, dass der erste Fahrradweg in den 1980er Jahren eine mutige Entscheidung von Erich Edegger, einem ehemaligen Stadtpolitiker, war. Nachdem Studierende in einer nächtlichen und lebhaften Aktion mit Pinseln und Farbe den ersten Radweg in der Wilhelm-Fischer-Allee markiert hatten, unterstützte Edegger diese Initiative und setzte sie offiziell um. Sanfte Mobilität wurde priorisiert und daraus entstand in der grazer Innenstadt das Tempo 30, Verkehrsentschleunigung durch Einbahnstraßen und das Radwegnetz, das auch teils gegen die Einbahnen verläuft. Aufgrund seines frühen Todes konnte allerdings nicht das ganze Konzept einer „menschengerechten Stadt“ umgesetzt werden. [1] Der erste Schritt in Richtung Fahrradstadt war getan, auch wenn es noch ein langer Weg für Graz ist.