Mit der letzten Folge haben wir die erstmals 1265 genannte „innere“ Grazer Stadtmauer fertig besprochen, dabei aber auch schon Argumente für die Erweiterung der Stadt nach Osten und auf die Terrasse der Oberstadt geliefert. Jetzt wollen wir den Verlauf der neuen Ummauerung betrachten, die ab 1336 veranlasst worden war. Herzog Otto der Fröhliche hatte damals die Grazer Bürger auf drei Jahre von aller Steuer befreit, dafür mussten sie im ersten Jahr 120 Mark Silber, im 3. Jahr 60 Mark Silber an die Verbesserung und Vollendung des „Stadtbaues“ verwenden; auch Edle und hier sesshafte Juden hatten mitzuhelfen.
In der Mitte von Bild 1 habe ich den Verlauf der Stadtmauer von 1339 in Schwarz nachgezeichnet, wie sie die Karte von 1829 größtenteils vorgibt. In gleicher Weise habe ich die Zwingermauer von 1441 gelb eingetragen, wobei mir hier schon Zufallsfunde zu Hilfe kamen. Zum Vergleich ist links davon der 1657 gezeichnete Bestandsplan des Festungsingenieurs Martin Stier eingestellt, der im Osten sowohl die innere, als auch die Zwingermauer zeigt; die im Süden ohne Anschluss verlaufende Zwischenmauer ist die von dell’Allio falsch gebaute erste Kurtine, die vor einigen Jahren in der Baugrube des „Kommodhauses“ zum Vorschein kam, aber irrig interpretiert wurde. Rechts ist der aktuelle Katasterplan eingefügt, in dessen Parzellengrenzen sich der Mauerverlauf teilweise wiederfindet. Die alten Linien der Stadtmauern haben sich häufig bis in die heutige Parzellenstruktur erhalten.
Dass ich in dieser Folge einen Teil der äußeren Zwingermauer mit behandle, ergibt sich aus den Erkenntnissen aus wichtigen Plänen, die beide Mauerzüge nachvollziehen lassen. Dass vor die 1339 vollendete größere Umfassung ein Jahrhundert später eine Zwingermauer vorgelegt wurde, hat die Forschung bisher nur für den Nord- und den Ostabschnitt erkannt.
Ein „Privileg“, das König Friedrich IV. am 5. Jänner 1441 den Grazer Bürgern ausstellte, nämlich ainen Ebigen Freyen Jarmarkht, Järlichen nun hünfüro zu St. Philippi vnd Jacobi Tag zuhaben, begründet er damit, dass sie mit scheinigen gebey, ann Meüern, Zwüngern, Gräben, vnd anderen bösserung willigen Gehorsam gezeigt hätten. Für mich ist das ein Datum, das für die Vollendung der Zwingermauer stehen kann. Graz war ja seit der Wahl Friedrichs 1440 zur königlichen Residenz aufgestiegen, und daher vom späteren Kaiser unter besonderen Schutz genommen worden.
Wie schon bei der Behandlung des am Gottesplagen-Fresko des Grazer Doms markant an der Südwestecke der Stadtmauer sichtbaren Reckturms erläutert, ist dessen Lage nicht mit der ersten Ummauerung von 1265 in Einklang zu bringen. Es musste also auch an der Südflanke eine vorgeschobene, zweite Mauer gegeben haben. Die „Zwingermauer“ hatte allerdings den Charakter einer stattlichen Hauptmauer, wie uns Grund- und Aufrisse in Bild 6 zeigen werden.
Da ich vor dem Bau der neuen Mauer den Kroisbach noch durch die spätere Hans-Sachs-Gasse fließen sehe, müsste nach 1336 schon seine Umleitung in Richtung des heutigen Grazbaches gegraben worden sein, um für die vorgeschobene, neue Mauer Platz zu schaffen.
Wir starten mit unserer Beschreibung am Tummelplatz. Wie besprochen, war die neue Stadtmauer vom Eckturm der ersten Stadtbefestigung (dem späteren Pulverturm, ungefähr beim Durchgang Stockergasse 2) in Richtung Osten gezogen worden. Dabei war hier die Mauer etwas zurückversetzt angeschlossen worden, vielleicht, um eine bessere „Bestreichung“ vom Turm aus zu erzielen. Die rund 17m lange Südfront des Hauses Bürgergasse 13 am Tummelplatz markiert den ersten Verlauf der Mauer.
Die Grundrisse dieses Hauses sind im Wesentlichen identisch mit der ehemaligen, erst 1515 fertiggestellten „Leonhardi-Kirche“. In der Weinstube im Keller sind Mauerspolien zu sehen, die auch als Teile der Stadtmauer angesehen werden könnten. Und obwohl auch das Gotteshaus nach 1784 zu einem Wohnhaus umgebaut worden war, ist der vom Hof des Hauses Salzamtsgasse 5a sichtbare Chor der Kirche mit dem hohen spitzbogigen, allerdings vermauerten Fenster und den drei Strebepfeilern noch immer ein eindrucksvolles Denkmal der ausklingenden Spätgotik.
Bei der richtigen Deutung des Mauerverlaufs halfen mir nicht nur die Karten von Stier und zum Kataster von 1829, sondern natürlich auch die Vorarbeiten der Grazer Historiker Joseph von Zahn, Hans Pirchegger, Fritz Popelka und Fritz Posch. Wichtig waren auch die von Eduard Andorfer verwendeten Pläne, die ihm halfen, seine Arbeit „Das alte Opernhaus am Tummelplatz in Graz. Bau- und Besitzgeschichte.“ (Festschrift Julius Franz Schütz, Graz 1954) zu illustrieren. Für Detailbeschreibungen zu einzelnen Gebäuden war zudem die Arbeit von Elisabeth Schmölzer (Archivalische Vorarbeiten zur Österr. Kunsttopographie, 1993) besonders ergiebig.
Ein entscheidender Fund war aber der in den Gubernial-Akten zum Adeligen Damenstift am Tummelplatz „versteckte“ Bestands-Plan, den mir 2008 mein Sitznachbar im Landesarchiv, Hannes P. Naschenweng, freundlich zeigte (eingefügt in Bild 6). Ich erkannte auf den ersten Blick, dass wir hier einen längeren Abschnitt der Zwingermauer vor uns hatten. Ihr westliches Ende am Tummelplatz war durch einen mächtigen Wehrturm geprägt. Dazu erinnerte ich mich gleich an die Urkunde vom 7. Oktober 1478, mit der Kaiser Friedrich III. den Franziskanern einen Turm in der „Vormauer“ der Stadt zur Verfügung stellte.
Wegen der Bedrohung durch osmanische und ungarische Raubzüge waren die Franziskanermönche aus ihrem ersten kleinen Kloster bei der Kapelle in St. Leonhard 1478 in die Stadt geflüchtet. Der Kaiser schenkte ihnen dafür Gebäude und Gründe innerhalb der seit 1441 durch eine neu erbaute Zwingermauer im Süden erweiterte Stadt: unser hauß an der Stat maur genent Markhfuetterhauß, an welchiger stat sy yetzs habn angehebt zue bauen ein closter, habn in auch dazue gebn gärttn vnd ein Thurren in der Vormauer der Statt, durch wöllinger thurren vor zeytten ist gewesen ein portten der statt, der an yr closter stest.
Eine Nachricht von 1579 spricht von diesem Zwingerturm als „öden Thurn beim Frauencloßter“. Fritz Popelka hat ihn irrig mit dem von ihm „erdachten“ Marchfutterturm an der Südostecke der Stadt gleichgesetzt. Vermutlich hatte er dabei an das 1307 gegründete und ca. 1480 abgerissene Dominikanerinnenkloster gedacht, das er östlich des Burgrings vermutet hatte.
Wie rasch der Bau des Franziskaner-Klosters voranschritt, wissen wir nicht, der Bau der Kirche verzögerte sich jedenfalls. Als Namenspatron der Kirche zu ihrem Kloster wählten die Franziskaner in Erinnerung an ihr erstes Zuhause den hl. Leonhard. Kaum hatten die Mönche die Kirche vollendet, übersiedelten sie 1515 in das von den reformunwilligen Minoriten zwangsweise geräumte Kloster am Murtor. Den verlassenen Komplex erhielten im folgenden Jahr die in der Stadt verstreut wohnenden Dominikanerinnen, deren altes Kloster vor der Stadtmauer (im Bereich des Opernrings) aus Verteidigungsgründen um 1480 abgerissen wurde. Nach der Klosteraufhebung durch Kaiser Joseph II. 1784 wurde hier das „Adelige Damenstift“ eingerichtet - das wiederum 1888 dem Neubau des Staatsgymnasiums (heute Akademisches Gymnasium) weichen musste (Bild 3). Bei der bevorstehenden Neugestaltung des Tummelplatzes sollten die Fundamentreste des Zwingerturms aufgedeckt werden können.
Die Kirche des hl. Leonhard wurde vom Spiegelmacher und Optiker Andreas Rospini erworben und zu Wohnhaus und Werkstatt umgebaut. Der obere Turmteil wurde abgetragen, das Kreuz kam in die Florianikirche, einige Plastiken aus der Kirche befinden sich im Depot der Alten Galerie. Aus einem 1818 errichteten kleinen „Observations-Thurm“ auf dem Dach haben 1840 die zwei Brüder Karl und Andreas Rospini das Foto in Bild 8 „geschossen“ (das seitenverkehrte Original der Daguerreotypie befindet sich in Privatbesitz).
Eine Zeichnung von Oberbauer 1888 zeigt uns die ehemalige Stiftgasse (heute Hof von Salzamtsgasse 5 a), die direkt beim Chor der Leonhardikirche durch ein Tor verschlossen wurde. Das ist genau die Linie der Stadtmauer von 1339, zwischen Tor und Kirche kann man rechts die Reste eines hohen Wehrgangs erahnen (Bild 4).
Für die Bestimmung der beiden Mauern in der Burggasse waren Skizzen aus dem Nachlass von Eduard Andorfer im Stadtmuseum von größter Bedeutung (Bild 5). Er hatte 1954 und 1957 Mauerzüge festgehalten, die beim Abbruch der bombengeschädigten Bauten in der Burggasse zum Vorschein kamen. Ich stimme mit seiner Feststellung überein, dass die südlichere der beiden Mauern als Stadtmauer anzusehen ist. An diese Mauer war seinerzeit auch das Haus Tummelplatz 4 ohne Zwischenraum angebaut. Andorfer hat noch nicht wissen können, dass er hier die spätere Zwingermauer entdeckt hatte; und den „unterirdischen Gang“ weiter nördlich konnte er nicht als Reiche der Stadtmauer von 1339 einordnen.
Für die Skizze von Bild 6 habe ich in die Karte von 1829 eingearbeitet: links den Grundrissplan des Damenstifts vor seinem Abbruch 1888 und rechts den Plan der ehemaligen „Hofstallungen“ vor ihrem Umbau 1826. In beiden Gebäudekomplexen fällt zunächst ganz klar die Linie der mächtigen Zwingermauer von 1441 auf (gelb markiert). Die ältere Stadtmauer von 1265 zeichnet sich etwas weiter nördlich in den Haus- und Parzellengrenzen gut ab; der sich dadurch ergebende Zwingerraum verschmälerte sich von ca. 27 m beim Tummelplatz auf ca. 15 m bei der Bürgergasse.
Nach 1441 wurden wichtige Bauten zwischen die beiden Mauerzüge eingebaut, weil der ummauerte Stadtraum immer intensiver genutzt werden musste; aus der Vorstadt flüchtende Bewohner haben wir schon 1483 in der späteren Hans-Sachs-Gasse erwähnt.
Folgende wichtige Gebäude dieser städtischen Südflanke sind in Bild 6 skizziert:
1. Beim „Pulverturm“ beginnende Mauer der Stadterweiterung von 1336 (orange markiert)
2. Zwingermauer von 1441 (gelb markiert)
3. Der von Friedrich III. den Franziskanern geschenkte „Turm in der Vormauer“
4. Das Franziskaner-, später Dominikanerinnenkloster; da große Teile 1571 auch außerhalb der Stadtmauer von 1441 lagen, beklagten sich damals die Nonnen, dass unter ihrem Klosterdach „die Stadtwehre durchstreiche und der Nachtwächter jede Nacht auf seinen Rundgängen durch ihr Kloster hindurchgehe“
5. Leonhardikirche, heute Wohnhaus
6. Frauenklostertor: es führte zu dem vor der Stadtmauer (Opernring) liegenden ersten Kloster von 1307; es fiel erst mit dem Durchbruch der Burggasse nach 1840
7. Schüttkasten (ab 1826 Salzmagazin)
8. Das Marchfutterhaus (später Hofstallungen, 1835 Münz- u. Messing-Verschleiß-Amt)
9. Wohnhaus (1826 für Münzamt vorgesehen), vielleicht an der Stelle des 1448 von Friedrich erworbenen Hauses
10. Lage des am Gottesplagenbild erkennbaren Eckturms, irrig „Marchfutterturm“ genannt; ab Mitte des 16. Jhs entsteht hier das Bollwerk, „Katze“ oder „Kavalier“ genannt (Bild 7)
Zu 6 – 8: Schon 1448 kaufte Friedrich ein mit Mauern umfangenes Haus pey dem frawnnkloster tor neben der rinkchmawr (vielleicht an der Stelle des späteren Wohnhauses 9), dessen Garten hinden an das marchfueterhaws (8) stieß. In dem „Marchfutterhof“ genannten Areal stand der – wohl in den Zwinger hineingebaute – Schüttkasten (7), wo die Haferabgabe verwahrt wurde, die von den bäuerlichen Untertanen als „Marchfutter“ geleistet werden musste, damit die Pferde des Hofs besonders in kriegerischen Zeiten ausreichend versorgt werden konnten. Südlich des Zwingers „tummelten“ sich ab 1580 übrigens die Lipizzaner!
Die Stelle des Marchfutterhauses ist durch spätere Angaben belegt. Es befand sich an der Stelle der späteren Hofstallungen (eine Nachricht von 1602 spricht von einem hauß beim altem Marchfueterhof, jezigem Hofstall; 1637 lag daneben das „Herbersteinische Haus“, später Palais Dietrichstein, heute Burggasse 9. Beim Marchfutterhaus handelte es sich um jene Gründe, auf denen nach dem 1860 erfolgten Abriss ab 1870 die Normalschule und (bis 1920) Lehrerbildungsanstalt stand, die dann 1926/27 zur Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie wurde (Burggasse 11 bis 13).
Dort wo die Stadtmauer nach Norden umschwenkte, vermutete Fritz Popelka den „Marchfutterturm“ und sah ihn auf dem Gottesplagenbild ganz rechts als schlankes Türmchen (Bild 7). Nun ist aber dieser Begriff urkundlich überhaupt nie erwähnt. Nach meiner Theorie muss sich dieser Eckturm dort befunden haben, wo sich mehr als 80 Jahre später das erhöhte Bollwerk, genannt „Katze“ oder „Kavalier)“ erhob. Eine Stelle in den Baurechnungen von 1551 (der „alte Turn, dadurch man auf di Kazn get“) erhärtet die Annahme, dass damals sowohl Turm als auch Bollwerk nebeneinander bestanden. Erst dem Um- bzw. Neubau des Kavaliers ab 1570 dürfte dieser Turm dann gewichen sein.
An der östlichen Grenze der Stadterweiterung verliefen die Stadtmauer von 1339 und die Zwingermauer von 1441 zwischen den heutigen Häuserzeilen Burggasse und Burgring. Wenn man heute die Höfe von Burggasse 7 oder 9 betritt, ist man im zweiten Kellergeschoß der Burgring-Häuser. Als ab 1550 eine Kurtine der neuen italienischen Form von der „Katze“ in Richtung der neuen Bastei östlich der Burg gebaut wurde, hat man die Zwingermauer von 1441 zwar verstärkt oder erhöht und teilweise niedergelegt, aber ihre Linie im Wesentlichen beibehalten. Auch der Turm in der Mitte der Mauer ist noch bei Stier 1657 zu sehen. Die schon erwähnte „Daguerreotypie“ der Gebrüder Rospini, 1840 vom Dach der ehemaligen Leonhardi-Kirche aufgenommen (Bild 8), lenkt unseren Blick auf die damalige Situation. Der Höhenunterschied von der Burggasse zum späteren Burgring ist eindrucksvoll wiedergegeben, die einzelnen Mauerteile sind aber nicht eindeutig zuzuordnen.
An tatsächlichen Resten finden sich im Keller der Häuser Burgring 10 und 12 Spolien dieses Mauerzuges (Bild 9). Spuren der Ringmauer von 1339 sind in den Hinterhöfen der Häuser Burggasse 9 und 11 in den Parzellengrenzen und in Form von Stützmauern zu erahnen (Bild 10); an einigen Stellen machen mächtige Fundamente ihr teilweises Weiterbestehen wahrscheinlich.
Wir schließen unseren Rundgang nun mit dem Anschluss der Stadtmauer an das Burgtor, das 1339 bereits fertig gewesen sein muss, und 1401 als „tor gegen der Greatz“ genannt wird. Bild 10 zeigt den Blick von außen auf die beiden gotischen Torbögen. Wenn die Errichtung des Tores manchmal in das 15. Jh. und in die Zeit Friedrichs III. datiert wird, so liegt dabei wohl ein Missverständnis vor. Wie bei Stier in Bild 1 gut erkennbar, wurde 1441 vor das Burgtor in der Art einer Schikane verschränkt ein Kammertor der Zwingermauer gesetzt, das aber in der Mitte des 16. Jhs dem Bau der Kurtinen und Basteien zum Opfer fiel. Die Karte von 1829 nennt dieses über Eck zur Brücke über den Stadtgraben geführte Straßenstück noch „Vor dem Burgthor“.
In der nächsten Folge möchte ich die Stadtmauern im Nordost-Bereich der Stadt beschreiben. Sie sind in einigen Gebäuden des Burg-Komplexes noch erhalten, der ja gerade aufwändig restauriert und zugänglich gemacht wird. Viel Vergnügen und bis zum nächsten Mal!