Der erste Abschnitt „Auf den Spuren der Grazer Stadtmauern“ endete bei dem noch in seiner Basis erhaltenen kleinen Wehrturm am Franziskanerplatz Nr. 5. Nun untersuchen wir die Strecke bis zur Albrechtgasse, entlang des Franziskanerklosters. Wie uns die Markierung auf der Riedkarte zum Franziszeischen Kataster von 1829 (Bild 1), und das 1964 vom Wiener Künstler Otto Chmelik für das Stadtmuseum angefertigte und dort leider noch immer im 3. Stock verstaubende Stadtmodell „Graz um 1800“ (Bild 2) zeigen, verliefen an der Westfront des Klosters große Teile der Stadtmauer und der im 14. Jh. hier vorgeschobenen Zwingermauer.
Bei der Linienführung fällt auf, dass die vom Admonterhof in gerader Linie nach Südosten führende Mauer bei der heutigen Franziskanerkirche einen leichten Doppelknick zeigt. Wenn man die Grundrisse von Kloster und Kirche (Bild 3) genauer ansieht, scheint es so, als wäre die Mauer knapp vor der heutigen Orgelempore durch das Kirchenschiff gegangen. Das lässt sich aus der Baugeschichte der Kirche erklären. Dazu gibt es im Eingang zum Kreuzgang des Klosters interessante Grafiken, die schon vor vielen Jahren mein Freund Gerd Janusch vorbereitet hatte; ich kann dazu jetzt nähere Erklärungen bieten.
Wir haben schon im ersten Abschnitt gehört, dass das Datum der Errichtung der ersten Stadtmauer eng mit der Geschichte des Minoritenklosters verknüpft ist, dessen Konventbau für 1239/41 angenommen wird. Das erste Datum ergibt sich aus der urkundlichen Ersterwähnung der Minderbrüder, das zweite aus der Abhaltung einer Versammlung der Minoriten der Ordensprovinz.
Es wird davon ausgegangen, dass der Konventbau direkt an bzw. auf die Stadtmauer gesetzt wurde. Das beweisen auch die archäologischen Befunde von Manfred Lechner (Bild 4), aus denen auch erkannt werden konnte, dass nach der Übergabe des Klosters an die Franziskaner ab 1515 die aufgehenden Teile des Westflügels erneuert wurden – wobei dennoch bei den Restaurierungen auch hier noch Reste von Schießscharten aufgedeckt werden konnten. Der Schnitt zeigt sehr schön den rund 8,5 m breiten Zwingergraben und die von Lehner in das 14. Jh. datierte Zwingermauer.
Über die Entstehungszeit der Kirche war man sich bisher uneinig, man nahm an, dass Papst Alexander IV. der Kirche schon 1257 das Recht verliehen hatte, den Gläubigen Ablass (das heißt Erlass für die zeitliche Sündenstrafe) zu gewähren. Das vom Historiker Zahn auf den 4. Juni datierte Dokument konnte ich im Grazer Franziskanerarchiv einsehen und feststellen, dass darin die Brüder in Judenburg genannt sind. Und in einer Urkunde vom 1. Oktober 1257 ist eine Versammlung der Minderbrüder in Judenburg dokumentiert. Dafür fand ich dann in der Kopie einer am 24. Oktober 1265 in Graz ausgestellten Admonter Urkunde, in der die Minoriten um Vermittlung in einem Streit um Zehenten ersucht wurden, die Stellen domus fratrum minorum in Graetz und in ecclesia dictorum fratrum. Damit ist klar, dass die urkundliche Ersterwähnung der Kirche in das Jahr 1265 zu datieren ist – und dass sie an die zur gleichen Zeit erstmals schriftlich genannte Stadtmauer angebaut wurde (Skizze in Bild 5). Die schräge Lage der Kirche ergab sich wohl aus der Einzwängung zwischen zwei Wasserläufen – dem einst gleich nach der Brücke abzweigenden großen Murarm im Verlauf der Neutorgasse und der am heutigen Franziskanerplatz einst verlaufende “Kotmur”, von der wir in Abschnitt 1 schon gesprochen haben. Man könnte quasi von der Lage auf einer Insel sprechen.
Der 1265 genannte Kirchenbau bestand aus dem ersten Langhaus, das wohl noch eine flache Holzdecke aufwies. 1330 wurde dann im Osten der gotische Hochchor angebaut. Und erst als die Franziskaner 1515 die Minoriten ablösten, schritten sie sofort zum Bau des neuen Langhauses, wie wir es heute kennen. Da es um etliche Meter weiter nach Westen verlängert wurde, musste die Stadtmauer in diesem Bereich niedergelegt werden. Die Kirche reichte nun bis zu der im 14. Jh. dem ersten Befestigungsring vorgelagerten Zwingermauer. Erst um 1470 wurde dieser nun sehr exponierte Teil der Kirche durch ein mächtiges Geschütz-Rondell gesichert (Skizze in Bild 5).
Der mit einigen Schießscharten in beide Richtungen bestückte, brückenartige Übergang zu einem kaum noch sichtbaren Wehrturm in der Neutorgasse ist zweifellos ein Prunkstück der Grazer mittelalterlichen Wehrgeschichte, wie uns auch ältere Fotografien beweisen; nur ein kurzes Stück nördlich dieses Turms wurde 1967 abgerissen, um die letzte eingeschossige Gebäudeflucht des ehemaligen „Kälbernen Viertels“ durch einen Neubau zu ersetzen, der vergeblich versucht hat, durch Betonsäulen die historische Situation nachzuahmen (Bild 6).
Dass die Stadtmauer noch heute auf einer Länge von rund 110 m nicht nur auf alten Grundrissen und älteren Fotos, sondern auch in natura nachvollzogen werden kann, macht diesen Abschnitt besonders interessant. Vom Franziskanerkloster aus sind diese Teile der wehrhaften Westfront der Stadt bei Führungen zu bestaunen (Bild 7 und Bild 8); das kleine Foto zeigt dort, wo die Zwingermauer nach rund 85 Metern endet, noch eine große Öffnung, die vielleicht als Schießluke fungiert hat.
Ein bitterer Wermutstropfen ist indes der Umgang mit diesem historischen Schatz, was die Stadtmauer selbst betrifft: Im Laufe der vom Denkmalamt begleiteten Restaurierungen der letzten Jahrzehnte sind zwar Fenster, Türlaibungen, Schießscharten und andere Bauteile hervorgehoben worden, es bleibt aber unverständlich, dass die dabei in großen Abschnitten freigelegte Steinmauer selbst fast zur Gänze wieder hinter neuem Putz verschwunden ist. Glücklicherweise ist es mir gelungen, diese Überbleibsel der ersten Stadtmauer von Graz rechtzeitig zu fotografieren, sodass ich sie hier vorstellen kann (Bild 9).
Ich frage mich nun aber schon: Bedeutet Denkmalschutz nicht auch, die bewahrten Zeugen der Vergangenheit nach Möglichkeit zu präsentieren? In Graz scheint man davon nicht viel zu halten. Es wäre doch eine einzigartige Gelegenheit gewesen, an der nach Osten gewandten Rückseite des „Wakonig-Hauses“ (Andreas-Hofer-Platz 5), die in einer Höhe von bis zu 7 Metern erhaltene Stadtmauer ohne Verputz zu belassen und durch die bestehende Pforte zum „Bernhardinsaal“ zugänglich und sichtbar zu machen. Am oberen Abschluss der Mauer sind möglicherweise sogar Reste von Zinnen erkennbar gewesen (Bild 10)! Könnte man aber nicht überhaupt die hässliche, für Werbezwecke adaptierte Mauer in der Albrechtgasse abreißen und den wunderbar gestalteten Klostergarten durch einen sichtdurchlässigen Zaun wenigstens teilweise für die Öffentlichkeit erlebbar machen – was übrigens auch bei dem ebenfalls hinter einer kahlen Mauer verdeckten Garten am Bischofplatz zu wünschen wäre.
Schau doch 50,51
Danke lieber Peter für deine ausführlichen und interessanten Expertisen, die mir meine Heimatstadt näher gebracht haben. Ich bin noch nach dem Krieg an der Hand meiner Mutter auf den Markt am Franziskanerplatz gegangen, wo Standl an Standl damals noch standen. Es hatte ein mittelalterliches Flair. Durch deine Schilderungen angeregt werde ich im Frühjahr einmal eine Stadtführung machen, das habe ich mir vorgenommen.
Liebe Grüsse
Roswitha Neu