Die Entwicklung der Siedlung
Eine Siedlung konnte sich von einem Markt zur Stadt aufschwingen, wenn sie der – dadurch auch selbst durch Steuereinnahmen profitierende – Landesherr mit den notwendigen Privilegien „begnadet“ hatte: einen eigenen Gerichtsbezirk (1240 wird ein iudex de Graetze Wakkerzil genannt), Marktrechte (z. B. die „Niederlege“, die durchreisende Kaufleute zwang, ihre Waren bis zum nächsten Tag am Markt der Stadt anzubieten), Mautrechte (z. B. eine Brückenmaut), eine eigene Münze (sie wird in Graz schon 1222 erwähnt) und schließlich die Ummauerung. Die Wehrmauer ist das bedeutendste Zeichen der Stadt nach innen und außen; sie vereint die sich freiwillig zusammengeschlossene Kaufmanns- und Handwerkergemeinschaft zur Verteidigung und trennt sie vom Umland, in dem die adeligen Grundherrn über ihre untertänigen Bauern bestimmen.
Bevor wir uns der Stadtmauer näher widmen, müssen wir uns fragen, wie Graz davor ausgesehen hat. Wie aus der Skizze oben hervorgeht, vollzog sich die Entwicklung der Ansiedlung „von oben nach unten“: Der Schloßberg und die Hochterrasse Karmeliterplatz-Pfauengarten sind schon vor über 5000 Jahren – von der Bronzezeit über die Urnenfelderzeit bis zur Hallstattzeit – besiedelt gewesen. Für die Römerzeit gibt es im Stadtzentrum nur Einzelfunde. Erst für das 9. Jh. n. Chr. ist die Nutzung der mittleren Terrasse (Hofgasse) für eine Siedlung slawischer Gruppen durch die Gräberfunde in der ehemaligen Alten Universität bewiesen. Reste einer Befestigung im Bereich der heutigen Stiegenkirche dürften dabei eine schützende Rolle gespielt haben, weil der vom slawischen „gradec“ abgeleitete Stadtname Graz auf die Reste einer Verteidigungsanlage aus der Spätantike bzw. der Völkerwanderungszeit zurückzuführen ist – die aber nicht mit „kleine Burg“ übersetzt werden kann.
Auf dem Niveau des wohl immer wieder von Überschwemmungen heimgesuchten heutigen Hauptplatzes und der Sackstraße hinterließen erst ab dem 10./11. Jahrhundert Siedler Spuren ihrer Holz- und Grubenhäuser. Für das zweite Viertel des 12. Jahrhunderts anzunehmen sind der Bau einer Burg auf dem Schloßberggipfel, die Anlage eines Meierhofes und einer Eigenkirche im Bereich der späteren „Stadtkrone“ (Burg/Dom), ebenso wie erste märktische Anfänge im Bereich von Sackstraße, Sporgasse und Hauptplatz.
Knapp nach der Mitte des 12. Jahrhunderts erfolgte durch Markgraf Otakar III. die Hauptgründung des Marktes, bestehend aus einer breiten Marktstraße, der heutigen Herrengasse. Regelmäßige, tiefe Hofstätten kennzeichnen diese Entwicklungsachse. Die Handels- und Gewerbetreibenden hatten an der Straßenfront ihre Läden (Gewölbe) oder Werkstätten, im Obergeschoß ihre Wohnungen. Dahinter waren Ställe für Vieh und Pferde oder Gärten.
Im Süden der Marktanlage errichteten gleichzeitig jüdische Kaufleute – vermutlich auch Geldgeber der Anlage – ihr durch Mauern und Nachbarhäuser umschlossenes Viertel mit den untypischen kleinen, rechteckigen Parzellen; die zum Viertel führende Marktstraße wurde 1261 deshalb auch „Judengasse“ genannt – der erste überlieferte Straßenname von Graz!
Im Westen ließ die „Kotmur“, ein alter Murarm im Verlauf der heutigen Badgasse und Raubergasse, der vielleicht auch zur Entwässerung des Gebietes vertieft worden war, gerade noch Platz für eine zweite Zeile einer Handwerkergasse, der Schmiedgasse. Sie verfügte über nicht einmal halb so tiefe Hofstätten wie der Hauptmarkt. Auf der Ostseite wird man die Grenze der Bebauung mit der Prokopigasse ansetzen können; dahinter lagen wohl noch Gärten der Bürger. Die Häuser waren noch überwiegend aus Holz gebaut.
Schnell wuchs die Anzahl der in die werdende Stadt drängenden Menschen. Die ursprüngliche Baugrenze des Marktes musste weiter nach außen gerückt werden. Im Norden umfasste sie nun auch den Reinerhof, im Westen wurde sie jenseits der nun zugeschütteten „Kotmur“, aber noch vor den Murarm gelegt, der dann „Werdbach“ hieß. Im Osten rückte man bis zum Abhang der Terrasse vor, die von den landesfürstlichen Gründen herabreichte. Und: man wollte die Stadt befestigen.
Urkundlich genannt wird die Stadtmauer erstmals im „Rationarium Styriae“ genannt, in dem der böhmische König Ottokar II. seine Einkünfte und Lasten als Herzog der Steiermark 1265-67 aufschreiben ließ. Hier werden die Einkünfte aus Münze, Maut und Gericht innerhalb der Stadtmauer genannt: „… moneta et muta et iudicium intra muros oppidi Graetzensis“. Als Steinmauer ist ihre Entstehung in die Zeit zwischen 1239 und 1251 zu setzen. Das erste Jahr entspricht dem ersten Auftreten von Minoriten in Graz, die direkt an die Stadtmauer ihr Kloster bauten (es wird selbst erst 1241 in einer Urkunde erwähnt), das zweite der Befreiung der Mönche im Reinerhof von der „Scharwache“, wozu eine Stadtmauer Voraussetzung war. Auch der Einfall der Tataren im Jahre 1241 könnte ein entscheidender Anlass gewesen sein.
Die erste „Ringmauer“ war nach der anscheinend unausrottbaren Meinung der meisten Historiker ursprünglich nur von Toren bei der Murbrücke und der Sporgasse (zwischen Nr. 16 und 17), und durch ein „Judentürlein“ bei der Frauengasse durchbrochen, eine heute unhaltbare Ansicht. Sicher war die vom Judenviertel gebildete Südfront auch schon durch ein erstes Stadttor durchbrochen. Es ist auszuschließen, dass sich eine dem Handel gewidmete und von jüdischen Kaufleuten besiedelte Markstraße durch einen Blinddarm gegenüber dem südlichen Umland abschloss; die heute nicht mehr erkennbare Verengung der Herrengasse knapp vor der Stubenberggasse ist ein weiterer Beweis für den Raum vor einem Tor.
Dasselbe gilt auch für das Sacktor, das sich ebenfalls dem von Norden kommenden Warenverkehr öffnete – die Grazer Hauptader Sackstraße-Herrengasse ist ja ein alter Verkehrsweg, wie u. a. Funde römischer Grabstellen beweisen. Das Tor wurde zwar erstmals zwischen 1372 und 1380 erwähnt, als dem Bischof Augustin von Seckau das Haus des Petrus von Preding in Graz „ante portam in Sacco“ als Wohnung eingeräumt wurde. Für mich ist es dennoch undenkbar, dass das Tor nicht schon die erste Ummauerung durchbrochen hat.
Minoritenkloster und Admonterhof sicherten die nun weiter vorgeschobene Westflanke der Ansiedlung. Der Kroisbach floss damals übrigens als Stadtgrabenbach vor der Stadtmauer in Richtung Jakominiplatz und Schönaugasse nach Südwesten ab.
Die östliche Stadtmauer hinter der Färbergasse schloss die schon 1174 genannte, vermutlich selbst befestigte Ägydikirche (heute Dom) zunächst nicht mit ein. Das wurde in den Jahren 1337-1339 korrigiert, als Herzog Otto „der Fröhliche“ den Grazern die Steuer erließt – als Gegenleistung für ihren „Stadtbau“ (d. i. Mauerbau). Das Stadtgebiet wurde durch das Vorschieben der Ostmauer und die Einbeziehung der landesfürstlichen Gründe zwischen Färbergasse, Freiheitsplatz und Ägydikirche bedeutend erweitert, und auch der Südsporn des Schloßberges mit dem Stadtturm (später „Uhrturm“) einbezogen. Bald danach werden erstmals das (innere) Paulustor und das spätere Burgtor genannt.
Der Rundgang entlang der Stadtmauer, Abschnitt 1 (Bild 1)
Damit die Skizze in Bild 1 übersichtlich bleibt, konnte die Route nicht grafisch dargestellt werden. Sie beginnt am Schloßbergplatz, wo sich die Nordfront der Stadtmauer noch gut erahnen lässt. Nachdem 1164 Markgraf Otakar III. den Mönchen des Stiftes Rein eine Hofstatt geschenkt hatte, setzte der um 1170 erbaute romanische Turm des Reinerhofs am Fuß des Schloßbergfelsens eine erste Markierung (Bild 2). Die 1995 aufgedeckte Schießscharte weist ihn als selbständiges Verteidigungselement auf, weil die eigentliche Stadtmauer erst später hier ansetzte; dass diese die nördliche Linie des Turms genau weiterführte und nicht mit der Außenmauer der späteren Prälatur identisch war, ist durch die Archäologen bestätigt worden. So zeigen auch im Pflaster bei der Sackstraße markierte Teile diese Abweichung (Bild 3).
Die von Laurenz Vandesype begonnene und von Wenzel Hollar 1635 fertiggestellte Südansicht aus der Vogelschau zeigt gut erkennbar das Sacktor (Bild 4). Nach dem Tor lief die Mauer in einem leichten Knick nach außen bis zur Mur weiter. Durch den Bau des Palais Attems ab 1702 wurde aber ein großer Teil ebenso niedergelegt wie das Sacktor selbst. Nur der den Admonterhof im Norden und Westen umschließende Teil blieb erhalten, obwohl der Nordwestecke (Bild 5) von Fluten der Mur manchmal schwer mitgespielt wurde, wie die archäologische Grabung durch Manfred Lehner 2002 ergab.
Ob hier ein Eckturm stand, ist nicht geklärt; vielleicht hat aber der Admonterhof später hier selbst als mächtiges Bollwerk gedient, wie Bild 6 andeutet (übrigens die einzige Abbildung, die die Nordfront der Grazer Stadtmauer zeigt).
Die Aufdeckung eines gotischen Fensters (siehe Markierung in Bild 7) hat schon vor Jahrzehnten die Ansicht früherer Historiker entkräftet, der Admonterhof wäre ursprünglich von der Stadtmauer nicht umfasst gewesen. Tatsächlich war auch seine ganze Westfront auf die Stadtmauer aufgesetzt gewesen. Ihr südlicherer Teil wurde am 30. März 1945 durch einen Bombentreffer zerstört, dort wurde dann eine neue Einfahrt geschaffen, über der ein admontisches Abtwappen montiert ist. Dem technisch einzigartigen Tiefgaragenbau von Kastner & Öhler in den Jahren 2001 - 2003 fiel dann der unterirdische Teil der Stadtmauer zum Opfer. Durch eine bedauerliche Fehleinschätzung des Denkmalamts wurde danach noch ein barockes Gartenportal zerstört.
Auch südlich des Admonterhofes waren prominente Bauten auf die Stadtmauer gesetzt, die dafür zwar abschnittsweise abgebrochen wurde, aber in einigen Teilen, vor allem aber in den Kellergeschoßen noch vorhanden, durch Verputz aber leider nicht zu sehen ist.
Der Ausschnitt von Andreas Trosts Stich (Bild 8) zeigt das Kloster der „Klarissen zu Allerheiligen im Paradeis“, gegründet 1602 von Erzherzog Karls II. Witwe Maria von Bayern. Kloster und Kirche umfassten beide heutigen Häuserblöcke zwischen Admonterhof und Murgasse. Schon 1411 wird von einem Spital an diesem Ort gesprochen, das der Grazer Bürger Balthasar „Egkhennperger“ dann 1451 erneuern ließ, siehe in: Badgasse 3 – Baugeschichte bzw. Murgasse 12 – Baugeschichte.
Wir sehen auf der sehr genau gezeichneten Ansicht an der Naht zum höheren Kirchenschiff einen schlanken mehreckigen Turm, wohl ein ehemaliger Wehrturm, vermutlich der 1348 genannte Wolfsturm (nach einer Familie, die als Wohltäter des oben genannten Spitals auftrat).
Vor dem Kloster liegen Gärten, und vor einer Stützmauer die erst im 17. Jh. errichtete Kurtine (Mauerfront zwischen Basteien). Die drei in Bild 8 eingefügten Fotos zeigen die heute noch wahrnehmbaren Spuren der Stadtmauer in den Erdgeschoßen.
Wir betreten dazu das Sportgeschäft am Kaiser-Franz-Josef-Kai; hier endet der Durchgang durch die vor Jahren von der Stadt dem Kaufhaus Kastner & Öhler verkaufte Admontergasse und den Paradeishof. Die Öffnung und die beiden Fenster links davon durchbrechen die ehemalige Stadtmauer (siehe auch Markierung in Bild 7).
Durch den Arkadenhof des ehemaligen Klarissinnenklosters gelangen wir in Paradeisgasse 1 zum Pub „Flann O’Brien“, in dem wir einen massiven Stadtmauerrest finden (Foto in der Mitte). Etwas weiter südlich können wir durch den schönen Hauseingang den Hof zum Haus Kaiser-Franz-Josef-Kai 2 erreichen; beim rechten Bogen der Öffnung waren 2015 noch Steinquadern zu erkennen (Foto ganz rechts).
Stadtmauern und Tore bei der Murbrücke
Ein kurzes Stück den Kaiser-Franz-Josef-Kai hinunter – und wir sind an der Erzherzog-Johann-Brücke. Die Murbrücke wird zwar erst 1361 genannt, war aber sicher mindestens 150 Jahre älter, denn noch Herzog Leopold VI. dürfte vor 1230 Graz das Privileg der „Niederlege“ erteilt haben (siehe weiter oben).
Das erste, das spätere „Innere Murtor“, stand genau zwischen den Häusern Murgasse 9 und 12, wo sich heute der Straßenquerschnitt zu einem kleinen Platz zwischen den beiden Toren erweitert; hier sollen ja 1471 Andreas Baumkircher und Andreas Greisenegger ihr Leben im Auftrag Kaiser Friedrichs III. durch Henkershand verloren haben; vorher ließ man sie „zwischen demselben thor u. dem prugkthor peichten.“
Das äußere Murtor dürfte also gleichzeitig mit dem Rondell vor der Franziskanerkirche knapp vor diesem Jahr erbaut worden sein.
Bild 9 zeigt die barocke Gestaltung der Tore um 1835, knapp vor ihrem Abbruch 1837. Genau in der Linie des inneren Murtors steht heute auch noch der turmartige Bau Franziskanerplatz 5 (Bild 10), ein ehemaliger Wehrturm, der mit einem kurzen Stück Stadtmauer den Franziskanerplatz absperrte (siehe auch Bild 8); der ursprüngliche Haupteingang in die Kirche befand sich im Mittelalter knapp innerhalb dieser Mauer. Der Wehrturm wurde 1912 umgebaut und verlor dabei sein typisches Zeltdach.
Wir beenden hier unsere erste Etappe und werden uns in einem Monat der spannenden Geschichte der Stadtmauern beim Franziskanerkloster und dem Joanneum widmen. Viel Vergnügen beim Stadtmauerspaziergang!