10/06/2009
10/06/2009

Buchdeckel

Tim Bentons brillante Analyse der Vortragstätigkeit Le Corbusiers.

Wir sind am Anfang der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Charles-Edouard Jeanneret hat sich soeben als Le Corbusier in Paris etabliert und möchte ein "Führer" der Modernen werden. Er sieht sich als Pilger, der aufbricht, um einen Kreuzzug zu predigen; diese seine missionarische Seite hat natürlich den praktischen Nebeneffekt, potenzielle Bauherren zu treffen - im doppelten Sinn des Wortes. Er beginnt Vorträge zu halten, was eine Methodik erfordert, und Le Corbusier ist auch ein genialer Improvisierer. Er macht sich Notizen, die er immer wieder dekliniert, und arbeitete sich – sehr auf präzise Begriffe bedacht – während der Vorträge zunächst mit Farbkreiden und Kreiden zeichnend durch seine Themen. Keines ist ihm zu komplex: Autos und Großstadt, Geometrie und Schönheit, Architektur und Ornament, die materielle Welt und die Industrialisierung, Möbel, etc.
Aus diesen Vorträgen entwickelt er bald eine komplexe Theorie, die er als pädagogischen Auftrag darstellt und vor allem in der Zeitschrift Esprit Nouveau publiziert. Das schafft ihm Kontakte in ganz Europa, und später formuliert er daraus seine Bücher Urbanisme, L'Art décoratif d'aujourd'hui und La Peinture moderne (alle um 1925 herum). Eine umfassende Definition seiner Theorien enthält dann La Ville radieuse (1935).

Der Zeitrahmen von Tim Bentons Buch erstreckt sich von den frühen Jahren ab 1920 bis in die späten 1950er Jahre. Texte der Vorträge des Architekten sind kaum erhalten; manchmal gab es stenographische Notizen, die dann mit viel Mühe transkribiert wurden und - allzu selten! - mit Hilfe von Tonaufnahmen ergänzt wurden. Ab 1931 produzierte er „Filme“ – eigentlich waren es Dias, mit denen, wie er in „Propos d’urbanisme“ schrieb, das Publikum „verführen, überzeugen und aufrütteln wollte“.
Das Publikum! SEIN Publikum. Bereits 1927 waren es Tausende, 3000 oder gar 4000, vor denen er drei, vier Stunden redete. Studenten hauptsächlich: am 14. Dezember 1931 akklamierten und buhten 3000 im Pariser Saal Pleyel, ein Foto vom 4. Februar 1960 zeigt ihn vor wahrscheinlich ebenso vielen im großen Hörsaal der Pariser Sorbonne.

Seine ungeheure Anziehungskraft kam nicht von ungefähr; er hielt sich an die Regeln der klassischen Rhetorik - Logos, Ethos und Pathos – und reklamierte ganz bewusst Auctoritas, die Authentizität, die dem Architekten erst durch die Zeichnung zuwüchse. Die Zeichnung ermöglichte ihm ein demonstratives Vorgehen, war ein Nachweis, die Konkretisierung seiner Gedanken. A propos drei, vier Stunden: Zeichnungen, Skizzen und kleine Karten mit Notizen seiner Gedanken trugen ihn; die Papierrollen wurden immer länger; der Buchautor vergleicht dieses Instrumentarium mit Partituren.
Anfangs der 20er Jahre forderte er eine "neue Sachlage", einen „neuen Zeitgeist“ und eine "neue Bewegung der Ideen" in der Architektur n. b. ein. Er beobachtete die Mechanisierung und ihre Rückwirkungen auf moderne Objekte und Architekturen und empfand die Gesellschaft als im Übergang begriffen; Filme und Dias kamen gerade auf. Zu dieser Zeit waren erst wenige seiner Arbeiten gebaut, der Architekt begnügte sich daher in den Vorträgen mit Modellen. Sein argumentatives Arsenal aber hatte er bereits fertig geschmiedet.

Zum Weiterlesen empfehlen sich Bentons Rekonstruktionen der Vorträge Le Corbusiers über Urbanismus, die ihn als großartigen und begnadeten Reisenden vor der Zeit offenbaren: Brüssel (1926), Buenos Aires (zehn Vorträge 1929), Rio de Janeiro, Universität Columbia (1961), wohin ihn der Dekan "neben" Frank Lloyd Wright, Walter Gropius und Mies van der Rohe eingeladen hatte, sind u. A. näher behandelt. Der Form nach ist das Buch gut gegliedert, sehr anschaulich, mit vielen Illustrationen und Verweisen, und das Layout ist so ansprechend, dass man es gern in die Hand nimmt.

TIM BENTON
The Rhetoric of Modernism: Le Corbusier as a Lecturer.
2009, Birkhäuser Verlag AG, Basel – Boston – Berlin.
ISBN 978-3-7643-8944-4

Verfasser/in:
Maria Nievoll, Buchrezension
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
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