30/04/2025

In Filmen ist das Zuhause eines Charakters mehr, als nur Kulisse im Hintergrund. Wohnort und Lebensart sind ein Spiegel der Handlung und erzählen uns viel über die dargestellten Personen. Filme, die menschliche Situationen zeigen, haben immer auch Wohnen als Thema. Selbst, wenn man den Ort nicht explizit sieht, Menschen wohnen: ob in einem chaotischen Loft, auf der Straße, in einem Lehmhaus oder einem Palast. Jedes Set bringt seine eigene Stimmung und hilft, psychologische Lage und soziale Dimensionen der Charaktere deutlich zu machen. Der folgende Einblick in die Diagonale 25’ erläutert, wie Einrichtung, Wohnlage und Architektur des Hauses im Film genutzt werden, um Persönlichkeiten der Charaktere und die Entwicklung der Handlung zu verdeutlichen. Wie Räume zu stillen, aber aussagekräftigen Erzählern werden.

30/04/2025

Wenn du Angst hast, nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst, diagonale '25, © Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion

Das Haus

Die Hauptkulisse im Film Mond (1) ist ein Haus in Jordanien. Sarah soll dort jungen Frauen Mixed Martial Arts (kurz MMA) lehren. Es geht eindeutig in europäischer Traditionslinie auf die griechische Antike zurück, welche die französische Kolonialmacht als Prestige und Anzeichen von Reichtum etabliert hat. Weiße Statuen im Garten, dorische Säulen, Arkadengänge, Pilaster. Schon von außen schreit es danach, mit Komplimenten überschüttet werden zu wollen. »Your house is amazing!«, sagt Sarah dem Bruder, ihrem Auftraggeber, als er sie an der Tür begrüßt.

Das gesamte Haus ist verwinkelt, die Kamera bewegt sich so, dass die Orientierung nicht klar nachzuvollziehen ist. Jeder Fremde würde sich alleine verirren. Der Keller, in dem Sarah den Schwestern MMA lehren soll, ist kahl ausgestattet, unsaniert, altmodisch. Dieser Raum ist nicht wichtig oder zumindest nicht wichtig genug. Lange dunkle Gänge trennen den Keller von den repräsentativen Räumen.

Die privaten Räume sind im Obergeschoss, welches Sarah nicht betreten darf. Sie sind durch eine Marmorstiege mit vergoldetem Geländer vom Untergeschoß getrennt. Der Steinboden lässt keinen Schritt ungehört, das Hallen trägt die Laute weiter, als Sarah es sich wünscht. Die wenigen Zimmer, in denen die Schwestern leben und in die Sarah Einblick hat, sind in rosa Lichttönen und mit prinzessinnenhaften Möbeln ausgestattet. Ausnahme ist das Zimmer der geheim gehaltenen vierten Schwester, die aus den Stereotypen ausbricht. Je weiter Sarah in das Haus vordringt, desto näher kommt sie an die familiären Geheimnisse und in eine (lebens-)gefährliche Situation.

Die Architektur und Regelung der Wohnsituation festigen hier die Hierarchisierung der Geschlechterrollen in ein patriarchales System. Männer bestimmen das Leben der Frauen im Haus. Die »wichtigen«, öffentlichen, repräsentativen Räume sind stereotypisch männlich konnotiert, während Räume, in denen Frauen wohnen, typisch weiblichen Geschlechterrollen entsprechen.

Der Gemeindebau

Eine 180-Grad-Drehung bringt uns nach Wien in den Gemeindebau, wo immer noch Familienleben thematisiert wird. In Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst (2) sind Anna und ihre Kollegin Mara die beiden Außenseiterinnen in ihrer Klasse im zweiten Bezirk. Obwohl sie beide im Gemeindebau wohnen, unterscheiden sich ihre Situationen. Gemeindebau ist eben nicht gleich Gemeindebau, Floridsdorf ist nicht gleich Alterlaa.

Dass Anna mit 12 Jahren noch mit ihrer Mutter in einem Bett schläft, könnte anfangs als Anhänglichkeitsproblem interpretiert werden. Als sich ihr Alltag für uns öffnet, wird jedoch klar, dass es sich um ein monetäres Problem handelt, welches die beiden in der Einzimmerwohnung hält. Die Dusche ist neben der Küche, das Bad klein und dunkel. Die Abgrenzung zum Schlafzimmer schafft eine klappbare Akkordeontür aus Plastik. Es gibt einen Balkon und ein runder Tisch steht in der Mitte des Wohnraumes. Die Rundung des Tisches ist nicht nur praktisch, um daran vorbeizukommen, es lädt auch zu Kommunikation ein und ist in vielen Szenen ein wichtiger Kontaktpunkt der beiden. Der enge Wohnraum setzt ihre Beziehung unter Druck, die Bedürfnisse der beiden kollidieren und es geht immer darum, dass sich eine von beiden durchsetzt.

Seit dem Biopic 27 Stories (3) über den Wohnpark aus den 70er Jahren, ist Alterlaa wieder ein heißes Gesprächsthema, auch unter Filmschaffenden. Nicht nur gibt die Architektur mit ihren unverwechselbaren Türmen, die aus dem Nichts in den Himmel ragen, und den grünen Parkanlagen eine perfekte Kulisse, auch die kulturellen, inhaltlichen Werte des Ortes unterstützen die Handlungen. In Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst (2), spielt Alterlaa die Rolle eines modernen, freundlichen, hippen Wohnhauses, in dem Annas Schulkollegin Mara mit ihrem Vater, einem trans Mann, wohnt. Sie hat ihr eigenes Zimmer, das sie mit Postern an der Wand ganz zu ihrem gemacht hat. Mara lebt und wohnt, so wie sie will, und damit im genauen Gegenteil zu Anna, die erstmals versucht, sich in der neuen Schule im 2. Bezirk an ihre anderen Mitschülerinnen anzupassen.

Auch die reale örtliche Lage der beiden Wohngebiete spiegelt ihre gegensätzliche Situation: Während Alterlaa im Süden Wiens angelegt ist, befindet sich Floridsdorf am anderen Ende der Stadt, im Norden. Dazwischen liegt die innere Stadt, der Ort, an dem sie zusammen in die Schule gehen. Als sich die Beziehung der beiden von Kolleginnen zu Freundinnen wandelt, die sich ihre größten Geheimnisse erzählen, wird Maras Wohnung auch für Anna ein Ort, an dem sie mit Kleidung experimentieren und sich selbst ausdrücken kann.

In Preiswerte Lösung für ein besseres Leben (4) findet eine weitere Anna in Alterlaa einen Zufluchtsort in der Wohnung ihrer Doppelgängerin Michelle. Eigentlich plant Anna gerade, mit ihrem Partner zusammenzuziehen, doch die Situation überfordert sie. Die Gegensätzlichkeit der gewünschten Lebenslagen spiegelt sich in den Wohnräumen: Ein Einfamilienhaus bedeutet (zumindest in seiner konservativen Erwartung) ein Kind und eine lebenslange Bindung. Der Wohnbau hingegen lässt vieles offen und gibt Entscheidungsfreiheit: Man ist eine*r unter Vielen – wie bei Ikea. Dort arbeitet auch Michelle und genießt die Anonymität ihrer Identität, denn nicht einmal ihre Kolleg*innen kennen sie.

Die Traumwelt

Ganz anderes zeigt Ganaël Dumreicher uns seine Traumwelt, in der eine Frau auf einem Asteroiden wohnt, der ein Frauenkopf ist. Anders als der traditionelle Sci-Fi-Film thematisiert The Women Who’s Head Was an Asteroid (5) nicht die technischen Errungenschaften der Menschheit und zeigt, wie sie in Raumschiffen wohnen und ihren Alltag an technische Gegenstände binden. Er erzählt die Geschichte einer Frau, die in simplen Verhältnissen in einem Asteroiden lebt. Das Innere des Planeten erinnert an einen Uterus, ein pulsierendes Lebewesen, in dem alles weich ist. Die einzigen Gegenstände, die sie zum Leben und Wohnen braucht, sind rural und altmodisch: ein Radio, eine vergoldete Schüssel und feines Werkzeug, welches sie vorsichtig in eine Stoffserviette und dann in einen Holzkorb legt. Mit bedachten Schritten bewegt sie sich langsam durch das Innere bis zu einer verdeckten Türe, die sie über die Nase des Asteroiden an die Oberfläche des Planeten bringt. Dort pflegt sie mit ihren Werkzeugen die Blumen, die wie Pickel auf dem Asteroiden wachsen, pflückt vorsichtig die einzelnen Blätter mit einer Pinzette und legt sie in die Schüssel.

Die Frau spricht nicht, ihr Charakter spiegelt sich für uns in dem, was sie tut und was ihre Umgebung über sie aussagt. Ihre Bewegungen sind sanft und bedacht, so weich wie der Körper, in dem sie lebt. Sie sind eins geworden – in tiefer Verbundenheit lebt sie mit dem Wohnraum, der zugleich ihr Lebensraum ist und ihren Alltag formt. In seinem Kurzfilm, der die Problematik von Besitzansprüchen im Weltall thematisiert, öffnet Dumreicher neue Gedankenwelt und lässt uns davon träumen, selbst frei von Technik und Monopolen im Einklang mit unserem Planeten zu leben. Nur vielleicht nicht ganz so einsam.

Die Stimme des Zimmers

Wenn wir unsere eigenen vier Wände gestalten, drücken wir in jeder Tätigkeit, mit jedem Möbelstück und Handgriff etwas über uns aus. Selbst wenn wir uns entscheiden, nichts zu tun, tun wir etwas. Die Wände sprechen für uns. Filmemacher*innen nutzen dies für ihre Charaktere, um uns Inhalte zu erläutern, die oft nicht mehr ausgesprochen werden müssen. Der Charakter im Film ist genauso stark durch seine Worte und Handlungen bestimmt, wie über seinen Hintergrund. Wäre Rick noch Rick, säße er nicht in seinem Café Americain im verwahrlosten Casablanca? Wir Zuseher*innen fühlen uns binnen Sekunden in die Situationen hinein, selbst wenn wir es anfangs nicht einmal bewusst sehen. Brauchen wir auch nicht, der Raum erzählt uns still und heimlich alles, was wir wissen müssen.

____________Fußnoten

(1) Mond Spielfilm, AT 2024, Ausgezeichnet bei der Diagonale mit »Beste künstlerische Montage Spielfilm« und dem Diagonale-Schauspielpreis für Florentina Holzinger

(2) Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst Spielfilm, AT 2025, Ausgezeichnet bei der Diagonale mit dem Thomas Pluch Spezialpreis der Jury für Marie Luise Lehner

(3) 27 Stories Spielfilm, AT 2023

(4) Preiswerte Lösung für ein besseres Leben Spielfilm kurz, AT 2025, Ausgezeichnet bei der Diagonale mit dem Thomas Pluch Preis für kurze oder mittellange Kino-Spielfilme für Leni Gruber und Alex Reinberg

(5) The Women Who’s Head Was an Asteroid Spielfilm kurz, AT/LU 2025

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