20/02/2011
20/02/2011

Das „Grazer Modell“, besteht aus vier Instrumenten - Stadtforum, Bebauungsleitlinien, Wettbewerbswesen und Projekttisch - und wurde von 2007 bis 2010 zur nachhaltigen Stadtentwicklung und Sicherung der Baukultur in Graz eingesetzt. Eine Evaluierung ergab, dass Stadtforum und Bebauungsrichtlinien die Erwartungen nicht erfüllen konnten, sie scheiden deshalb in Zukunft aus. (GAT berichtete)
Das Stadtforum tagte insgesamt dreimal zu den Themen „Identitäten“ (2007), „Zentrum“ (2007) und „Reininghaus-Areal“ (2008). Die Philosophin Elisabeth List verfasste als Mitglied des Stadtforums mehrere Essays, die in losen Abständen auf www.gat.st nachzulesen sind.

ELISABETH LIST
Orte und Räume. Thesen zu einer politischen Ökologie des Raumes

Wer nach der sozialen Dimension des Raumes fragt, spricht nicht die Sprache des professionellen Planers oder Architekten. Im planerischen Alltag stehen andere Fragen und Probleme auf der Tagesordnung. Es ist eher der Blick der Philosophie, der Kulturanthropologie und der Soziologie, der die Aufmerksamkeit auf die soziale Dimension des Raumes lenkt. Aus philosophischer Perspektive ist das Thema des Raumes eines, das die Frage nach dem Ort des Subjekts im Raum aufwirft, und die kulturanthropologische und historische Sicht verweist auf die gesellschaftliche Konstruiertheit dieses Raumes und damit auf die Frage nach einer politischen Ökologie des Raumes.
Das Subjekt, das einen Ort im Raum hat, ist nicht das von der Philosophie gewöhnlich vorgestellte Subjekt. Das traditionelle Vernunftsubjekt hat keinen Ort, keinen Raum, weil es als denkendendes gefasst wird, als reiner Geist gewissermaßen. Es hat keinen Raum, weil seine Leibhaftigkeit, sein Körpersein außer Betracht bleibt.
Nur ein leibhaftes, lebendiges Subjekt lässt sich situieren. Von diesem Subjekt kann vorerst konstatiert werden, dass es, wie alles Lebendige, in Bewegung ist. Leben ist Bewegung, kurz gesagt. Und Bewegung ist nicht möglich ohne Raum. Das ist auch der entscheidende Ausgangspunkt aller kulturellen Praktiken des Umgangs mit Raum. Es ist vor allem die Praxis des Bauens, durch die nicht nur Materialien in eine bestimmte Anordnung und in eine bestimmte Form gebracht, sondern zugleich auch Räume des Lebens, des Arbeitens und Wohnens geschaffen, konstruiert und angeeignet werden. Die Tätigkeit des Bauens ist immer auch eine gesellschaftliche Tätigkeit, in der nicht nur Räume abgesteckt, abgegrenzt, sondern bestimmte Formen und Chancen der Verfügung über materielle und symbolische Ressourcen festgelegt werden, und diese Form der Verfügung bedeutet in der Regel die Ausübung von Kontrolle und Macht.
Das Konstruieren von Räumen ist also notwendig eng verbunden mit ökonomischen Aktivitäten und politischen Prozessen. Es ist vielleicht ein Gemeinplatz: jedes Projekt der Architektur, des Wohnbaus oder der Stadtplanung ist immer auch ein ökonomisches und ein politisches Projekt. Es ist eingebunden in einen weiteren Horizont der ökonomischen Aneignung von Lebensressourcen und in einen Kontext von politischen Entscheidungen, von Entscheidungen über Macht.
Im ersten Überblick kann man so ein Bild in konzentrischen Kreisen zeichnen: Im Zentrum steht das leibhaftige, lebendige Individuum, existenziell hineingestellt in ein räumlich und zeitlich bestimmtes Hier und Jetzt. Es hat, so es bestehen kann, seinen Ort in dieser Welt. Dieser Ort fällt ihm nicht wie ein Geschenk der Natur in den Schoß, sondern ist das Ergebnis seiner eigenen Tätigkeit innerhalb der Kultur, in der es sich vorfindet.

Leiblichkeit: Subjektivität als Manifestation des Lebendigen.

In den philosophischen Theorien und Konzepten des Subjekts kommt die Dimension des Raums nicht vor. Kants Analyse von Erfahrungen von Raum und Zeit als Leistungen des Subjekts wurden von den Biologen Jakob von Uexküll und Viktor v. Weizsäcker auf ihre Basis in der Evolution von Leben zurückgeführt. Das Lebendige erscheint aus dieser Perspektive als eine Erscheinungsweise von Subjektivität. Das fundamentale Merkmal des so verstandenen Lebendigen ist, wie von Weizsäcker sagt, spontane Selbstbewegung.
Selbstbewegung als Grundstruktur von Subjektivität manifestiert sich als Bewegung im Raum. Sie hat, wenn sie nicht unwillkürlich oder reflexartig zustande kommt, Aktcharakter. Sie ist Ausdruck von "Responsivität"(1), das heißt der Fähigkeit, auf die Gegebenheiten der Umwelt zu antworten, sich zur Umwelt zu verhalten. Aufgrund dieser Fähigkeit entwickelt sich schließlich, wenn die Fähigkeit zur Symbolisierung hinzukommt, eine Unterscheidung der Wahrnehmung von Subjekt und Objekt, von Selbst und Anderen, von Ich und Nicht-Ich und damit auch der Wahrnehmung des Ich und des Raums, in dem es sich bewegt. Eben weil sich Lebendigsein als Fähigkeit zur Selbstbewegung manifestiert, bedeutet Subjekt-Sein immer auch im Raume sein. Dies ist ausdrücklich in Merleau-Pontys Analyse des Leibs als Medium des Weltbezugs mitgesagt. Leiblichkeit als Zur-Welt-Sein schließt das Im-Raume-sein notwendig in sich.
Das Zur-Welt-Sein, von dem der Phänomenologe Merleau-Ponty spricht, bedeutet Bewegung zur Welt hin, es ist die Bewegung des Lebendigen in seinen Funktionskreisen von Nahrungssuche, Flucht vor Gefahren und dem Begehren des Anderen, das heißt, in seiner Bewegung auf die anderen hin. Wie wird aus dem dergestalt gelebten Raum "gebaute Welt", der "Weltenbau", etwa die Welt der Metaphysiker oder Physiker, die Welt der Architekten? Die Form des Tätigseins, auf die der Metaphysiker oder der Physiker gerichtet ist, reduziert den Raum auf Gedachtes und Konstruiertes. Aus ihr spricht der Wille zur Bemächtigung, zur Aneignung des Raums durch Planung und Kontrolle. Sie präsentiert sich zugleich als Ausdruck von Objektivität, Rationalität und Universalität. Das heißt, die Vorstellung vom Raum, die sie vorgeben, sind die, die gemeinhin definieren, was der Raum „in Wirklichkeit“ ist. Es sind eben diese Vorstellungen von Raum, die die Kultur der Moderne weitgehend bestimmen.

Die Genese der Raumerfahrung

Die Analyse der wichtigsten Begriffe und Metaphern der Alltagssprache zeigt, dass die Erfahrung des eigenen Körpers für die Art und Weise, wie wir die Dinge der Welt ordnen, grundlegend ist. Der Linguist George Lakoff und der Philosoph Mark Johnson haben die ersten Vorstellungen oder Vorstellungsschemata, die die Orientierung in der Umwelt leiten und das Bild von der Umwelt prägen, untersucht (2).
Eine Vorstellung von Raum, losgelöst von der eigenen leiblichen Erfahrung, erwirbt das Kind in der Schule. Die Relativierung des Raums in der Moderne.

Der historische Übergang von der absolutistischen zu einer relativistischen Raumauffassung in den Naturwissenschaften stellt eine Soziologie des Raums vor ein Problem. Wie angedeutet, ist die Vorstellung des Kindes, aber auch des Alltagsdenkens absolutistisch. Die ontologische Annahme eines einen, unbeweglichen und für alle gleichermaßen existierenden Raums entspricht der Alltagsvorstellung, „im Raum zu leben“. Heute muss man, so Martina Löw in ihrem Buch Raumsoziologie (3), jedoch davon ausgehen, dass die Raumvorstellungen auch des Alltags dabei sind, sich zu ändern.
Martina Löw verweist zunächst auf einige empirische Befunde der Raumwahrnehmung, die eine relativistische Revision des Raumbegriffs auch für die Soziologie dringend nahe legt. Das sind Befunde aus dem Bildungs- und Sozialisationsprozess, Erfahrungen von „verinselter Vergesellschaftung“, Erfahrungen mit dem Zusammenhang von Raumvorstellung und Geschlecht und von besonderer Bedeutungen schließlich die Erfahrungen bei der Nutzung der neuen Datentechnologien, z.B. die Erfahrungen mit virtuellen Räumen.
1) Der Befund des Bildungs- und Sozialisationsprozesses besagt, dass die Schule der Ort ist, an dem Kinder und Jugendliche einen ersten und als verbindlich vermittelten Raumbegriff erwerben. Es ist in der Regel noch der absolutistische euklidische Raumbegriff, auf den sie regelrecht gedrillt werden. Die entscheidende Einsicht, die der Blick auf die schulische Sozialisation ergibt, ist die, dass der Raumbegriff, mit dem Kinder oder Jugendliche die Schule verlassen, nichts „von Natur gegebenes“ ist, sondern das Ergebnis der Indoktrination, also Ergebnis sozialen Handelns. Das gilt auch für den Raumbegriff der Kultur, in der sie leben – vom Raumbegriff der Wissenschaften, der Künste, der Architektur.
2) Was meint der Befund „verinselter Vergesellschaftung“? Er besagt, dass die modernen Lebensverhältnisse zu einer räumlichen und zeitlichen Trennung verschiedener Lebensvollzüge geführt haben. Wir haben uns mittlerweile schon daran gewöhnt, dass die Räume des Wohnens, der Ausbildung, das heißt die Schule, und der Raum für Freizeitaktivitäten voneinander räumlich getrennt sind. Kinder werden im Auto oder Bussen zu diesen verschiedenen Orten gebracht, und sie haben keine Vorstellung von den Räumen, die dazwischen liegen.
3) Die Geschlechtsspezifik von Raumerfahrungen wurde häufig damit begründet, dass Mädchen in Tests über räumliches Orientierungsvermögen schlechter abschneiden als Buben. Für diese Unterschiede sind aber nicht Unterschiede der Begabung verantwortlich, sondern eine durch Erziehung reproduzierte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die den Mädchen und Frauen einen Ort im Binnenraum des Hauses und der Familie zuweisen, im Bereich des Privaten, während die Domäne der größeren Räume der Öffentlichkeit den Buben vorbehalten bleibt. Aus dieser Beobachtung kann man schließen, dass nicht nur Bilder von Räumen sozial vermittelt werden, sondern dass die Räume selbst real sozial konstruiert sind, wobei diese Konstruktion immer einer bestimmten Politik des Raumes folgt.
Es ist die Vorstellung vom absoluten Raum, die die Schule vermittelt, und damit die Vorstellung vom Raum als Behälter, die bis heute die dominante Vorstellung vom Raum ist(4). Diese Vorstellung war schon zu Newtons Zeiten nicht unangefochten. Leibniz stellte der Idee eines absoluten Raums einen relativistischen Raumbegriff gegenüber. Immanuel Kant versuchte die Idee des absoluten Raums zu retten mit der These, Raum sei kein wirklicher Gegenstand, . . . sondern bloß die Form der äußeren Anschauung.(5) Die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie durch Bernhard Riemann (1826 – 1866) führte zur endgültigen Zurückweisung der absolutistischen Raumvorstellungen und zur relativistischen Neubegründung der Physik durch Albert Einstein (6).
Nachhaltige Wirkung auf Vorstellung vom Raum hat der Umgang mit den neuen Datentechnologien. Der „Cyberspace“, vor 20 Jahren geboren in der Welt der Science Fiction, ist eine ganz neue Form von Raum – es ist virtueller Raum, von „virtual reality“. Kinder, die täglich Stunden vor dem Bildschirm ihres Computers sitzen, entwickeln ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit und insbesondere zum Raum. Welche Auswirkungen haben die neuen Erfahrungen mit virtuellen Räumen auf die Vorstellung von Raum in der Gegenwart?

Raum und Gesellschaft, Subjekt und Identität

Was wir vorfinden, ist zunächst unser Körper, für uns Erwachsene ebenso wie für das Kind. Aus den gelernten und geübten Weisen des Umgangs mit uns selbst, den Objekten und Menschen um uns formt sich schließlich das Bild, das wir uns von uns selbst machen. Die Beziehung von Raum, Subjekt, Identität und Gesellschaft entsteht, erhält und transformiert sich durch Bewegung, zunächst, aber keineswegs nur ausschließlich im Medium des Leiblichen. Es ist Bewegung, in der sich spontane Lebendigkeit äußert; ebenso ist es die innere Bewegung der Emotion, die unsere affektive Befindlichkeit hervorbringt und dem Gefühlsraum, in dem wir leben, seine Konturen gibt. Besonders bedeutsam schließlich für die Formung von Identitäten und Räumen ist die Wahrnehmung, insbesondere die visuelle Wahrnehmung. Sie erzeugt Bilder vom Selbst und der Welt. Der Mikroraum leibhaften Existierens ist begrenzt und kontrolliert durch die Makrostrukturen der Gesellschaft und ihre Institutionen.

Die großen Räume und ihre Ordnung

Das Subjekt allein ist nicht in der Lage, Beziehungen zwischen sich und den es umgebenden Räumen zu stiften —, das ist nur möglich innerhalb der sozialen und symbolischen Ordnung der Gesellschaft. Das gilt für die ersten Räume des Lebens, die Mikroräume des privaten Lebens ebenso wie für die großen Räume. Raum — das bedeutet aus einer Makroperspektive den planetarischen Raum, unser Ökosystem mit seinen Territorien, Wasserflächen, Lufträumen - mit allem, was diese Räume an materiellen Reichtümern enthalten. Diese Reichtümer sind durch die Expansion des marktwirtschaftlichen und industriellen Systems zu umkämpften Ressourcen ökonomischer Verfügung und zum Streitpunkt im Kampf um Ansprüche auf ihre Nutzung und Verteilung geworden.
Die Tendenzen der Beschleunigung der ökonomischen Prozesse und der Individualisierung der Lebensformen, die moderne Gesellschaften prägen, erzeugen eine wachsende Spannung zwischen der Vergesellschaftung globalisierter ökonomischer Systeme und lokal gebundener Lebenswelten. Diese Spannung ist das Kernproblem einer Ökologie des Raumes in der Gegenwart, sie liegt der wachsenden Kluft zwischen Armut und Reichtum zugrunde.

Orte und Nichtorte im Zeitalter der Globalisierung

Der Sozialökologe Uri Bronfenbrenner unterscheidet drei Typen von Räumen: Mikroräume, Mesoräume und Makroräume(7). In der Zeit, als er dies schrieb, waren Makroräume solche, die man nur theoretisch in Modelle fassen konnte, ohne sie konkret zu betreten. Das hat sich durch die revolutionären Entwicklungen am Ende des 20. Jahrhunderts geändert. Das entscheidende Datum ist das Jahr 1989. Durch den Zerfall der Sowjetunion entstand ein weltweit operierendes System einer globalen Marktwirtschaft unter dem Vorzeichen des Neoliberalismus. Parallel dazu entwickelte sich ein weltweites System elektronischer Vernetzung von Daten, das völlig neue Möglichkeiten des wirtschaftlichen Agierens und der Kommunikation eröffnete. Beide zusammen führten zum Globalwerden wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und kultureller Aktivitäten und zugleich zu einer sich verschärfenden Ungleichheit von Lebenschancen.
Durch die Globalisierung der Ökonomie, die Hochtechnologien des Verkehrs und die Datentechnologien ist der gesamte planetarische Raum menschlichen Aktivitäten verfügbar geworden. Verfügbar, aber für wen? Marc Augé geht aus von einem Gegensatz von Orten und Nichtorten. In den Augen des Ethnographen ist ein Ort „ein Raum, von dem etwas von den individuellen und kollektiven Identitäten ablesbar ist, von den Beziehungen zwischen den einen und den anderen, und von ihrer gemeinsamen Geschichte“(8). Einfacher gesagt, ein Ort ist ein Raum, in dem Menschen leben und leben können, in eben dem Sinne, in dem ich eingangs den grundlegenden Zusammenhang von Leben, Bewegung und Raum hervorgehoben habe. Die Bereiche von Nichtorten beschränken sich nicht auf die Zonen des Verkehrs, auch Supermärkte, Einkaufszentren sind Nichtorte dieser Art. Sie scheinen ein fester Bestandteil der postindustriellen Städte zu sein. Die durch die Kalküle der neoliberalen Ökonomie diktierte Verfügung über Räume ist so gesehen lebensfeindlich. Augé spricht nicht von den Millionen, die durch die Prozesse der ökonomischen Beschleunigung und Konzentration ihre angestammten Lebensräume verloren haben. Die Flüchtlingslager und die Slums der Megastädte sind in einem ähnlichen Sinn Nichtorte, weil sie ihren Bewohnern so etwas wie Leben kaum ermöglichen.

Resumè: Zur Kritik der politischen Ökologie des Raumes

Die beschriebenen Tendenzen der Rationalisierung sind sowohl Tendenzen der realen und materialen Transformation der Gesellschaft als auch Tendenzen des Universellwerdens bestimmter Wahrnehmungsweisen die Verbreitung von Vorstellungen, die sich aus der Expansion von effizienten Instrumenten der Akkumulation von Ressourcen und Macht ergeben, sie spiegeln und vorantreiben. Um einer Kritik der politischen Ökologie des Raumes Inhalt zu geben, bedarf es einer angemessenen Sicht des Lebens in der weltpolitischen Situation und ihrer Auswirkungen auf die Formen des Lebens im Raum. Schon bei Marx ist mit materiellem Leben das leibhaftige, raum-zeitliche menschliche Existieren gemeint. Räumlich und zeitlich situiert ist menschliche Praxis deshalb, weil sie inkarnierte Praxis ist.
Die Beziehung von Körper und Gesellschaft war stets ein zentrales Problem des Zivilisationsprozesses. Denn im gelebten Körper haben die vitalen Antriebe ihren Ort: Wunsch und Begehren, Lust und Schmerz. Sie geraten in Widerspruch zu den Systemen der Herrschaft und Kontrolle, die heute planetarische, globale Dimensionen angenommen haben. Die Kontrolle der Körper ist eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren des Produktionssystems auf der Basis industrieller Arbeit. Ein ganz anderes Interesse verbindet sich mit der Kontrolle des Körpers von Frauen – das Interesse an der Kontrolle der Prozesse der Reproduktion, auch dies ein wichtiges Thema für eine Ökologie des Raumes. (9)

Spielräume, Freiheitsräume: Die Wiederentdeckung des Lokalen im Zeitalter der Globalisierung

Bisher ist in groben Zügen deutlich geworden, wie die drei Kreise einer Ökologie des Raumes miteinander verbunden sind. Der erste Kreis ist der Ort des lebendigen Körpers im Raum, der zweite meint die soziale Dimension seiner Wahrnehmung und der dritte die Dimensionen der materiellen und ideellen Ressourcen und ihre Verteilung in der Weltgesellschaft.
Globalisierung bedeutet im Kern das Totalwerden der Kontrolle von Räumen im planetarischen Maßstab, und dieses Totalwerden vollzieht sich im Namen der Freiheit. Ähnlich ambivalent wie am Beginn der Moderne sind die auch neuen Unternehmungen der Aneignung von Räumen in der Phase des Globalwerdens von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, in der Form einer grenzenlosen, jedenfalls grenzüberschreitenden Waren- und Geldwirtschaft und Migration.
Der virtuellen Omnipräsenz der "global players" steht heute eine wachsende Zahl derer gegenüber, die keinen Ort mehr haben, die sich nirgendwo mehr zugehörig fühlen können. Auf diesem Hintergrund erhält schließlich jene Konstellation von Raum und Sozialität an Bedeutung, in denen sich das konkrete Leben wirklich abspielt, die Dimension des Lokalen.
Das Lokale ist die Dimension, in der individuelle Lebensgeschichten und Lebenszusammenhänge entstehen. Es ist der Ort der sozialen Verknüpfung und Einbettung individueller Lebensläufe, in größere soziale und ökonomische Strukturen. Die lokalen Schauplätze des Sozialen sind auch Orte für die Prozesse der Sozialisation, mit anderen Worten, der Konstruktion sozialer Identitäten.(10)
Die Kategorie des Lokalen wäre also ein Ausgangspunkt für eine neue Theorie politischen Handelns, aber auch der Ort des Anfangs einer anderen Ökonomie, einer neuen Form des Arbeitens und des Lebens. Vor allem aber die Frage der Verfügung über Lebensressourcen und Raum muss neu gestellt werden. Denn sich im Raum bewegen zu können, ist wesentliche Voraussetzung, zugleich die Möglichkeitsbedingung und konkrete Grenze unseres Lebens.

(1) Diesen Begriff Kurt Goldsteins hat Bernhard Waldenfels systematisch entwickelt. Vgl. Bernhard Waldenfels: Antwortregister, Frankfurt am Main 1994
(2) Johnson, Marc, Lakoff, George: Metaphors we live by, Chicago-London 1980; Johnson, Marc: The Body in the Mind, Chicago 1986
(3) Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001
(4) Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, 21
(5) Kant, Immanuel: Kritik der Reinen Vernunft, 2. Aufl. 1787 71 ff., zit. Nach der Akademie Ausgabe 1968
(6) Einstein, Alfred, Infeld, L.: Die Evolution der Physik, Reinbek 1995
(7) Bronfenbrenner, Urie: Ökologische Sozialisationsforschung, Stuttgart 1976
(8) Augé, Marc, Orte und Nichtorte. In: Spaces of Solitude, ed. Roland Ritter, Klagenfurt 1997
(9) Brian Turner, The Body and Society, Oxford 1984
(10) Nigel Thrift, a.a.O., 84 -91

ZUR PERSON:
Elisabeth List (*1946) ist Univ. Prof. für Philosophie an der Universität Graz.
Lehrtätigkeit international: Norwegen, Schweiz, Deutschland.
Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie, Theorie der Sozial- und Kulturwissenschaften, Gesellschaftstheorie, Feministische Theorie, Theorien des Lebendigen, Biotechnologie und Philosophische Anthropologie, insbesondere Theorien der Leiblichkeit und Grenzerfahrungen der Leiblichkeit (Krankheit, Behinderung)

Publikationen:
Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik, Frankfurt am Main 1989
Die Präsenz des Anderen. Theorie und Geschlechterpolitik, Frankfurt am Main 1993
Grenzen der Verfügbarkeit. Die Technik, das Subjekt und das Lebendige (Wien 2001)
(Hg) Alfred Schütz, Relevanz und Handeln. Zur Phänomenologie des Alltagswissens Konstanz 2004)
Grundlagen der Kulturwissenschaften. Interdisziplinäre Kulturwissenschaften Stuttgart 2004
Vom Darstellen zum Herstellen. Eine Kulturgeschichte der Naturwissenschaften Weilerwist 2007
Ethik des Lebendigen, Weilerwist 2009

Verfasser/in:
Elisabeth List, Essay
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