70 Bauten aus unterschiedlichen Epochen sind am 13. und 14. September in Wien geöffnet: 70 Bauten, zu erleben in ihrer Alltagsnutzung. Inklusive Dialog mit Bauherren, Architekten und Nutzern.
Open House kommt nach Wien – als erste deutschsprachige Stadt im Reigen von 23 Großstädten zwischen Melbourne und New York, die an einem Wochenende eine Vielzahl an Gebäuden öffnen, um den Bewohnern der Stadt Architektur näherzubringen und ihnen verborgene Schätze ihrer Umgebung zugänglich zu machen. Gegründet wurde die Bewegung vor mehr als 20 Jahren in London. Dort findet sich jährlich Ende September die schier unglaubliche Zahl von bis zu 250.000 Besuchern ein, die geduldig Schlange stehen, um auf das Aussichtsdeck von The Gherkin, dem berühmten Wolkenkratzer von Norman Foster, zu gelangen oder einmal einen Blick hinter die geheimnisvoll-schwarze Fassade des Ateliers eines bekannten Künstlers zu werfen.
Traditionsreiche Siedlungen und liebevoll gestaltete Wohnungen, Schulen und andere Bildungsbauten, Bürohäuser, Dachausbauten und revitalisierte Fabrikanlagen aus Backstein – all das wird es auch in Wien zu sehen geben, wenn am 13. und 14. September erstmals 70 Gebäude für Besucher geöffnet werden. In London, wo Stadtverwaltung, TV und Tageszeitungen begeisterte Kooperationspartner sind, werden heuer 845 Bauten aufgelistet, die mit Hilfe von mehr als 3000 Volonteers präsentiert werden.
Auch dem kleinen Team um Iris Kaltenegger, einer in Wien tätigen Architektin, die Open House von ihrem langjährigen Aufenthalt in London kannte, ist es gelungen, beinahe 200 Freiwillige für die Idee zu gewinnen, Besucher und Besucherinnen vor den offenen Häusern zu empfangen und zu leiten. Unvorstellbar viel Arbeit, tausende Stunden unbezahlten Engagements für Lobbying und Sponsorensuche, für Einschulungen, Recherche und die logistische Organisation der Öffnung von Gebäuden stecken in der zweijährigen Vorbereitung. Offenheit und Kooperationsbereitschaft, ja, sogar Begeisterung für das ehrgeizige Vorhaben, kam von Anfang an von der Stadt Wien und den beteiligten Ämtern. Man hatte rasch erkannt, dass es auch ein Angebot an die Wiener ist, ihre nächste Umgebung, ihr Grätzel, ihre Stadt mit ihren modernen Bauten besser kennenzulernen. Breit angelegte Initiativen wie Open House mit einem Angebot, das niederschwellig – individuell wählbar, kostenlos und ohne Anmeldung – zugänglich ist, sind geeignet, Verständnis und Akzeptanz für das zeitgenössische Weiterbauen einer Stadt zu vergrößern.
Wer Bauten 1:1 in ihrer Alltagsnutzung und im Dialog mit Bauherrn, Architekten und Nutzern erleben kann, geht nicht nur auf Tuchfühlung mit Architektur, sondern auch auf eine mitunter lustvolle Entdeckungsreise. Der Wert eines gut gestalteten gebauten Environments ist dem Nicht-Geschulten damit leichter vermittelbar als durch jede Ausstellung, Abbildung oder Architekturseite in den Medien. Mit geführten, realen Raumerlebnissen peilt die Open-House-Bewegung ihr langfristiges Ziel an, eine breite Öffentlichkeit zu ermächtigen, selbst urteilsfähig zu werden. Architektur, die etwas vermitteln soll, benötigt ihrerseits Vermittlung, meint der unumstrittene Fachmann der Architekturkommunikation, Riklef Rambow, und ist damit nicht allein. Dennoch wurde die Idee eines jährlich stattfindenden Open-House-Weekends in Wien gerade dort ziemlich distanziert aufgenommen, wo man sich über ein breiter werdendes Angebot an Architekturvermittlung freuen müsste.
Die oft gestellte Frage von Architekten wie von Vertretern von Architekturinstitutionen, ob Open House nicht das gleiche Format der Vermittlung sei wie die biennal stattfindenden Architekturtage, die es ja schon gäbe, verblüffte. Riklef Rambow zur Thematik: „Der größte Erfolg besteht darin, wenn es gelingt, die Hemmschwelle gegenüber dem Thema Architektur zu senken und zu zeigen, dass es sich individuell lohnen kann, sich damit zu beschäftigen. Gerade deshalb ist es besonders wichtig, nicht bei Einzelmaßnahmen stehen zu bleiben, sondern Angebotsnetze zu schaffen, die es dem Nutzer (Anm.: von Architekturvermittlung) erlauben, sich niederschwellig und ohne großen Aufwand eigenständig weiterzuinformieren.“ Dass dabei Fördergeber mitmachen und jede erfolgreiche Vermittlungsinitiative unterstützen müssten, versteht sich von selbst.
Städte können heute nicht mehr unter Ausschluss ihrer Bürger entwickelt werden. Qualitativ hochwertige Architektur undStadtentwicklung können in einer demokratischen Gesellschaft überhaupt nur dann entstehen, wenn es einen hinreichend breiten Konsens über die Kriterien für Qualität gibt, schreibt Rambow. Es gehe nicht darum, dass alle Beteiligten einer Meinung sind oder gar zu denselben ästhetischen Werturteilen kommen, sondern eher um einen Konsens bezüglich grundlegender Fragen der Bedeutung von Architektur und Baukultur. Erst dieser ermögliche es, in einen gesellschaftlichen Diskurs über die Gestaltung unserer gebauten Umwelt einzutreten.
Open House Wien lockt seine Besucher – ganz ohne theoretische Überfrachtung oder fachliches Esperanto – mit einem Appell an ihre Neugier und dem Versprechen erlebnisreicher Begegnungen in einer ansehnlichen Zahl von geöffneten Häusern mit großer Nutzung- und Gestaltungsvielfalt. Besichtigt werden kann der eben erst bezogene Bildungscampus Sonnwendviertel in der Nähe des neuen Hauptbahnhofes (PPAG Architekten) ebenso wie ein erstaunlich großzügiges Minihaus in der Kleingartensiedlung Neu Brasilien (Bernd Leopold & Markus Taxer), ein Bürohaus in Passivhausstandard wie Energy Base (pos architekten) oder das Frauenwohnprojekt [ro*sa] (Köb & Pollak) im 22. Bezirk. Wer will, genießt vom ersten Hochhaus der Stadt in der Herrengasse den Rundblick oder nimmt die Einladung an, im Bootshaus des Rudervereins Pirat (erbaut 1926) an der Alten Donau eine Pause einzulegen. Freunde historischer Bausubstanz überzeugen sich selbst, ob es einer Entwicklungsgesellschaft gelungen ist, die Ankerbrotfabrik schonend zu revitalisieren oder ob der erste Stahlbetonbau aus dem Jahr 1910 am Fleischmarkt 1 denkmalschutzgerecht wiederbelebt wurde. Open House lädt ein zu entdecken, wie man auch anders wohnen und arbeiten kann, und will damit anregen, sein eigenes Wohn- und Arbeitsumfeld bewusster wahrzunehmen.
Jede dieser auf direktes Erleben zielenden Initiativen der Architekturvermittlung trägt dazu bei, dass Architektur und Design zum selbstverständlichen Teil der Alltagskultur einer „wissenden“ Gesellschaft werden kann, die Gestaltungsqualitäten zu erkennen lernt. Was in skandinavischen Ländern eine lange Tradition hat und deshalb heute im öffentlichen Raum genauso wie in Wohnungen sichtbar wird, ist nicht oder zumindest nicht immer eine Frage der Kosten, sondern eine des Bewusstseins. Und das sollte ab dem Kindesalter geschult werden.