03/06/2025

Neun Minuten und dreiundvierzig Sekunden benötigen Odile, Franz und Arthur in Jean-Luc-Godards „Bande à part“ um johlend einmal quer durch alle Ausstellungsräume des Pariser Louvre und wieder hinaus ins Freie zu rennen. Damit schlagen sie den bisherigen amerikanischen Rekordhalter um zwei Sekunden, bestätigt Godards Stimme aus dem Off.1 

03/06/2025

Filmstill aus Jean-Luc Godards Film „Bande à part“, 1964. In neun Minuten und dreiundvierzig Sekunden durchlaufen Odile, Franz und Arthur alle Ausstellungsräume des Pariser Louvre.

In verschiedenen Interviews zog Carlo Ratti, Kurator der gerade eröffneten Architekturbiennale Venedig 2025, den etwas unvorteilhaften Vergleich mit Godards berühmter Filmszene. Die von ihm zusammengestellte Hauptausstellung in den Corderie könne man geübten Schrittes in etwa fünf Minuten durchlaufen; er selbst habe es getestet. Für all jene, die sich nun zumindest einige Stunden Zeit nehmen wollen, habe man von einer künstlichen Intelligenz Kurztexte zu den hunderten Exponaten der Ausstellung verfassen lassen. Lesen kann man diese nur, wenn man sich bückt, da sie knapp über dem Fußboden in Schriftgröße 20pt gesetzt sind. Will man sich als Besucher*in aber durch den gesamten Inhalt der Ausstellung mit dem Titel „Intelligens“ arbeiten, benötigt man laut Ratti eine 40-Stunden-Woche.

Um den kuratorischen Gehalt des „fraktal strukturierten Superorganismus“2 zu durchschauen, reicht ein Nachmittag aber allemal. Denn wie in dieser Kolumne schon einmal beschrieben, ist mit das Interessanteste an der Digitalisierung der Architektur die Ratlosigkeit, mit der deren Proponenten sie in Projekte umzusetzen versuchen. Darin ähnelt die Gegenwart der frühen Industrialisierung, als die Kolben von Dampfmaschinen dorische Säulen imitierten, Automobile wie Kutschen gestaltet wurden und die Bahnhofsfassaden wie jene gotischer Kathedralen; auch heute ist die technologische Veränderung anscheinend wieder zu groß, um von der Architektur bewältigt zu werden. So stolpern durch die Biennale-Hallen teils veraltete Roboter, während ihre Nachfolger bereits als Exekutivorgane durch chinesische Städte patroullieren. Unverhältnismäßige Daten- und Energiemengen werden für den 3D-Druck wenig brauchbarer Holzverbindungen aufgewendet und vielachsige Maschinenarme zeigen eindringlich, wie sie neben menschlichen Handwerkern versagen.

Curare bedeutet „sorgen“, „sich kümmern“. Sorgen heißt verantworten und entscheiden. Auf Ausstellungen übertragen bezieht sich das auf die gezeigten Werke und die Wahrung ihrer Autonomie ebenso, wie auf ihre Verwebung zu neuen Zusammenhängen. Es betrifft das Publikum und die Art wie man die Begegnung zwischen ihm und den Werken im Raum entwirft. Es bedeutet nicht, künstlich Komplexität anzuhäufen, sondern durch die Reduktion von Komplexität „dem Ganzen eine Dimension der Erahnung [hinzuzufügen], die allem einen weiteren Sinn verleiht.“3

Bei heutigen Großausstellungen hingegen scheinen Kurator*innen immer öfter diese Arbeit nicht leisten zu wollen oder zu können. So wird dort einfach alles gestellt, gehängt und gelegt, was die Suchmaschinen zu einem möglichst breit formulierten Thema finden. Nicht ohne Stolz präsentiert auch Ratti am Ende des Pressetexts zu „Intelligens“ eine Auflistung von Zahlen: „750+ participants, 280+ projects, 500+ participants in interdisciplinary teams“.

Im Taumel konzeptioneller Orientierungslosigkeit wird die Menge des Gezeigten zur zentralen Aussage. Während immer mehr Menschen unter Beliebigkeiten und Falschinformationen verschüttet werden, sendet Ratti für die bedeutendste Architekturveranstaltung der Welt einen „open call“ um den Globus, mit dem Ziel, diese zu „demokratisieren“. In wenigen Wochen mussten dann tausende Einreichungen quergelesen und bewertet werden, um daraus einige hundert auszuwählen. Diese wurden dann drei Untergruppen zugewiesen: „Natural“, „Artificial“ und „Collective Intelligence“. Eine solche Einteilung würde der fließenden Struktur der Ausstellung zwar nicht wirklich gerecht, so Ratti, doch man dachte, dass es besser sei, wenn es Kategorien gäbe.

Der große Vorteil ist, dass mit einem solchen Verfahren allen Bedenken, die vielleicht an das Ergebnis herangetragen werden könnten, vorauseilend Rechnung getragen wird: Die Ausstellung ist von unten nach oben organisiert, jede und jeder konnte sich beteiligen. In erster Linie ist es aber eine Verweigerung kuratorischer Arbeit. Diese äußert sich in Gemeinplätzen wie: Man wolle keine Antworten geben, sondern Fragen stellen, wolle den Besucher*innen auf Augenhöhe begegnen und sie selbst zu Autor*innen der Ausstellung machen – wobei man die Autor*innenschaft eigentlich ohnehin abschaffen will. Dazu bemüht man Hundertschaften an „architects, designers, mathematicians, physicists, sociologists, landscape designers, writers, cooks, coders, people dealing with fashion“.4 Tatsächliche Handlungsmöglichkeiten werden dadurch kaum aufgezeigt, aber das Publikum durch Überlastung gelähmt. Architekt*innen haben schon seit längerem ein Talent darin entwickelt, Komplexität immer dann vorzuschieben, wenn sie sich nicht festlegen wollen oder können. Wenn es aber eine Ansammlung von Expert*innen, Fachleuten, 3D-Druckern und Bakterien-Kulturen braucht um zwei Baumstämme miteinander zu verbinden, wird der Kaiser nackt.

Eben darin liegt trotz einiger interessanter Arbeiten eine der elementaren Schwächen dieser Ausstellung. In all dem Gewirr und Gewusel kann kein klarer Gedanke, keine Aussage mehr entstehen, geschweige denn vermittelt werden. Eine babylonische Sprachverwirrung lähmt die Architektur. Der letzte Abschnitt der Ausstellung trägt konsequenterweise den Titel „Out“. Und dann, nach fünf Minuten, einigen Stunden, oder einer Woche taumelt man aus dem Dunkel wieder hinaus ins Freie.

 

1 „Die neue Unübersichtlichkeit“ heißt eine Zeitdiagnose von Jürgen Habermas aus dem Jahr 1985.

2 Rattis Bezeichnung für die Ausstellung.

3 Harald Szeemann im Gespräch mit Heinz Norbert Jocks „Alles, was zum Menschsein gehört“, in: Kunstforum International, Bd. 156, Plateau der Menschheit (Kunstforum International, 2001) S.49.

4 Carlo Ratti im Gespräch mit Christele Harrouk: Exclusive Interview with Curator Carlo Ratti at Venice Architecture Biennale 2025, Archdaily, YouTube, 19. Oktober 2023, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=jxJxD16q29s (abgerufen am: 30. Mai 2025). 

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