„Der größte Beitrag zum Klimaschutz kann erzielt werden, wenn anstelle von Neubauten bereits bestehende Wohngebäude weitergenutzt werden.“ So lautet die wichtigste Empfehlung des Klimarats für den Bereich Bauen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Steht ein Gebäude leer, muss in einer wachsenden Stadt wie Wien neu gebaut werden – vorzugsweise am Stadtrand. Dies versiegelt nicht nur Grünraum und erzeugt viel CO2, sondern kostet auch viel Geld, und zwar doppelt. Einerseits ist der Neubau teurer als die Nutzung von Bestand, auch weil infrastrukturelle Leitungen und öffentlicher Verkehr in Neubaugebiete geführt werden müssen. Andererseits werden in der Bestandsstadt ebendiese Infrastrukturen teuer erhalten, aber nur unzureichend genutzt. Doppelte Kosten, die die Allgemeinheit trägt, und die die Mieten nach oben treiben – für das Wohnen, aber auch für Nichtwohnnutzungen. Stehen Gebäude leer, leidet auch der öffentliche Raum: Er verödet und ist weniger sicher.
Die Nutzung von Leerstand ist also nicht nur ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutz, sie spart auch Kosten und wird so zu einem wichtigen Hebel für eine effiziente Ausgabenpolitik der öffentlichen Hand, für leistbares Wohnen und leistbare Räume für kulturelle Gruppen, zivilgesellschaftliche Initiativen, Bildung und Kleingewerbe. Leerstand insbesondere im Erdgeschoß zu nutzen macht öffentliche Räume attraktiver und ist damit auch ein Beitrag zur sozialen Nachhaltigkeit.
Säumiges Wien
Die Nutzung von Leerstand ist also ein Thema von größtem öffentlichem Interesse. Umso verwunderlicher, dass in Wien Politik und Stadtverwaltung seit Jahren einen möglichst großen Bogen um dieses Thema machen. Leerstandserhebung und Leerstandsabgabe sind in der Steiermark, in Salzburg, Tirol und Vorarlberg längst Praxis – nicht so in Wien. Dabei wird in Wien die Leerstandsquote alleine im Wohnbau auf bis zu 10 % geschätzt, genauere Zahlen gibt es nicht. Warum es keine Zahlen gibt? Dafür werden keine Gründe genannt, und auch das ist ein Problem, da die Gerüchteküche so erst recht befeuert wird.
Mit einer Verfassungsänderung hat der Bund im Frühjahr 2024 das Recht zur Einhebung einer höheren, wohnraummobilisierenden Leerstandsabgabe auf die Bundesländer übertragen. Wien macht davon bis heute nicht Gebrauch. Der finanzielle Schaden, der der Allgemeinheit dadurch entsteht, ist beträchtlich, und er wächst mit jedem Tag.
Leerstand nutzen!
Eine breite Allianz Wiener und bundesweiter Architekturinstitutionen veranstaltet aktuell die dreiteilige Diskussionsreihe „Leerstand nutzen! Möglichkeiten zur Aktivierung von Leerstand in Wien“. Die Diskussionsreihe findet bezeichnenderweise im Festsaal der alten WU in Wien statt – ein Bauwerk von Karl Schwanzer, das heute zwar noch zwischengenutzt wird, aber von Abriss bedroht ist. Ziel der von großem medialem Interesse begleiteten Diskussionsreihe ist es, im Vorfeld der Wiener Landtags- und Gemeinderatswahl 2025 die Erfassung und Nutzung von Leerstand als politisches Thema zu platzieren.
Im Rahmen von drei Paneldiskussionen diskutieren derzeit Expertinnen und Experten aus Politik, Verwaltung, Architektur, Immobilienentwicklung, Forschung und Interessenvertretungen die Erfassung und Nutzung von Leerstand in Wien anhand von drei Leerstandstypologien: „Leerstand im Wohnbau“ am 23. Oktober, „Leerstand im Erdgeschoß“ am 8. November und „Leerstand im Gewerbebau“ am 27 November. Die Ergebnisse der Paneldiskussionen sollen noch vor der Wiener Landtags- und Gemeinderatswahl 2025 publiziert werden.
Den Paneldiskussionen vorangestellt war eine im September durchgeführte, nichtöffentliche Dialogveranstaltung, bei der Expertinnen und Experten aus Verwaltung, Stadtplanung, Architektur, Kultur, Forschung und Interessenvertretungen sowie Aktivistinnen und Aktivisten konsensuale Forderungen zur Erfassung und Aktivierung von Leerstand in Wien erarbeiteten. Die Forderungen wurden in einem Forderungskatalog zusammengefasst, der die inhaltliche Basis der nachfolgenden Paneldiskussionen bildete.
Zahlen, bitte!
Was sind nun diese Forderungen? Ganz grundsätzlich nennt der Forderungskatalog an erster Stelle die Notwendigkeit, den Begriff „Leerstand“ für Wien zu definieren. Denn anders als in der Steiermark, Salzburg, Tirol und Vorarlberg gibt es in der Bundeshauptstadt dazu noch keinen Konsens. Dem Vorbild der genannten Bundesländer folgend könnten auch in Wien Wohnungen, für die mehr als sechs Monate im Jahr keine Wohnsitzmeldung vorliegt, als „leerstehend“ definiert werden.2 Noch nicht erfasst wären damit allerdings alle Nicht-Wohnbauten, aber auch Formen der Mindernutzung und Zweckentfremdung. Es würde also eine umfassendere Definition von Leerstand lohnen.
Zweite Forderung des Katalogs: die datenbasierte Erfassung von Leerstand als wichtigste Grundlage jeder zielgerichteten politischen Diskussion über die Nutzung von Leerstand. Seit Jahrzehnten fehlen in Wien valide Zahlen zum Leerstand – oder sie werden schlicht nicht veröffentlicht. Für den Bereich Wohnen weist die jüngste Registerzählung der Statistik Austria in Wien rund 100.000 Wohnungen (10 % des Wohnungsbestands) ohne Haupt- oder Nebenwohnsitz aus, doch auch diese Zahl lässt keine verlässlichen Rückschlüsse auf den tatsächlichen Wohnungsleerstand zu. Leerstand sollte daher durch die Verknüpfung unterschiedlicher Datenquellen erhoben werden: Wohnungsanzahl, Wohnsitzmeldungen, Gewerbemeldungen, Energieverbrauch, Müllmengen, Abwassermengen, aber auch KI-unterstützte Leerstandserfassung per Luftbild und Infrarotaufnahme, wie sie aktuell in Deutschland erprobt wird.3 Auch das Land Salzburg zeigt gerade, dass die datenschutzkonforme Leerstandserhebung über den Stromverbrauch möglich ist.
Neben der statistischen Erhebung von Gebäudeleerstand könnte durch die Einführung einer Leerstandsmeldepflicht, wie sie bereits in Salzburg und Tirol für Wohnungen besteht, mehr Bewusstsein für die Bedeutung und auch die öffentlichen Kosten von Leerstand geschaffen werden. Auch eine Umkehr der Beweislast wäre denkbar: Wohnungseigentümerinnen und -eigentümer könnten grundsätzlich die Vermietung ihrer Immobile nachzuweisen haben – ansonsten wäre eine Leerstandsabgabe fällig.
Push and pull
Die Leerstandsabgabe ist denn auch die naheliegendste Möglichkeit, Leerstand zu sanktionieren – die Steiermark, Salzburg, Tirol und Vorarlberg machen es vor. Zusätzlich erhöht die erwähnte Verfassungsnovelle zur Einhebung einer wohnraummobilisierenden Leerstandsabgabe durch die Bundesländer den Druck, auch in Wien eine Leerstandsabgabe einzuführen. Zu diskutieren wäre jedenfalls die Höhe dieser Abgabe: Um tatsächlich wohnraummobilisierend zu sein, sollte sie ein Vielfaches der aktuell in den Bundesländern eingehobenen Leerstandsabgabe betragen. Dies sind je nach Wohnungsgröße derzeit zwischen 120 und 5.000 Euro pro Jahr4 – zu wenig, wie viele Expertinnen und Experten meinen. Denkbar wäre beispielsweise eine Leerstandsabgabe in der Höhe des marktüblichen Mietpreises – plus Lagezuschlag.
Neben der Sanktionierung von Leerstand gilt es aber auch, Pull-Faktoren zur Mobilisierung von Leerstand zu schaffen. Förderungen und steuerliche Anreize wären hier ebenso zu nennen wie eine Umbauordnung, wie sie gerade in Niedersachsen eingeführt wurde. Eine Umbauordnung könnte baurechtliche Erleichterungen für die Um- oder Nachnutzung von Bestandsbauten definieren – etwa bei Raumhöhen, Brandschutz und Absturzsicherungen, aber auch hinsichtlich Raumlüftung, Schallschutz, Barrierefreiheit, Stellplatzanzahl und vielem mehr. Eine neue Widmungskategorie C („C“ für „Commons“) im Wiener Flächenwidmungs- und Bebauungsplan könnte zusätzliche Erleichterungen für die Nutzung von Bestandsbauten durch gemeinnützige, alltagsökonomische Wirtschaftsformen schaffen. Außerdem zu prüfen wären Möglichkeiten zur Vermietung leerstehender öffentlicher Immobilien unter Marktwert bei gemeinwohlorientierten Nutzungen – derzeit ein No-Go aufgrund nationaler und EU-rechtlicher Vorgaben, da eine Vermietung unter Marktwert beihilferechtlich relevant sein kann.
Maßnahmenbündel
Leerstandserfassung, Leerstandsabgabe, Anreize: Fest steht, dass es eines koordiniert geschnürten Maßnahmenbündels bedarf, um Leerstand in Wien effektiv zu erfassen und zu nutzen. Der viel zitierte administrative Aufwand dafür ist angesichts der Mehrkosten durch Leerstand und Neubau kein Gegenargument. Vielmehr gilt es, Leerstandsnutzung gerade auch politisch positiv zu besetzen: als Weg zur leistbaren, inklusiven und nachhaltigen Stadt.
Bisherige und kommende Veranstaltungen der Diskussionsreihe „Leerstand nutzen!“:
23.10.2024, 18 Uhr: Paneldiskussion 1/ Leerstand im Wohnbau
08.11.2024, 18 Uhr: Paneldiskussion 2/ Leerstand im Erdgeschoß
27.11.2024, 18 Uhr: Paneldiskussion 3/ Leerstand in Gewerbebauten
Ort aller Veranstaltungen: alte WU, Augasse 2-6, 1090 Wien, Festsaal
Link zum Forderungskatalog