15/06/2011
15/06/2011

Luis Fernández Galiano, Architekt, ist Professor an der Universidad Politécnica Madrid und Herausgeber der Zeitschrift Arquitecture Viva. (Foto: Institut für Gebäudelehre)

Die Revolutionsbewegung Tahrir Platz auf Facebook. (Screenshot: mg)

Allard Jolles, Architekturhistoriker und Autor ist Abteilungsleiter im Atelier des Landesarchitekten der Niederlande (www.rijksbouwmeester.nl). (Foto: Institut für Gebäudelehre)

Allard Jolles vor einem gleichermaßen humorvollen wie gelungenem Beispiel für Dichte im lokalen Kontext, dem Inntel Hotel Zaandam von WAM. (Foto: Institut für Gebäudelehre)

Der Highline-Park in New York City. (Foto: Flickr/Citoyen du Monde Inc; LINK: http://www.flickr.com/photos/citoyen_du_monde_inc/3783427612 )

Typische Zersiedelung südlich von Graz. (Foto: mg)

Hans Gangoly, Architekt und Professor für Gebäudelehre an der TU Graz. (Foto: Institut für Gebäudelehre)

Landesbaudirektor Andreas Tropper (re) mit Architekt Bernardo Secchi, Professor für Stadtplanung an der Architekturschule Venedig. (Foto: Institut für Gebäudelehre)

Fabian Hörmann, Architekt und Partner bei EM2N, Harald Grießer von der Abteilung für Landes- und Gemeindeentwicklung der Steirischen Landesregierung und der Grazer Stadtbaudirektor Bertram Werle (v. li; Foto: Institut für Gebäudelehre)

Christoph Luchsinger, Schweizer Architekt und Professor für Städtebau und Entwerfen an der TU Wien moderierte am ersten Tag des Symposiums. (Foto: Institut für Gebäudelehre)

Hubertus Adam, Kunst- und Architekturhistoriker sowie Architekturkritiker, Redakteur der Zeitschrift archithese, künstlerischer Leiter des Schweizerischen Architekturmuseums S AM in Basel und Kurator des Architekturpreises des Landes Steiermark 2010 war Moderator des zweiten Tages. (Foto: Institut für Gebäudelehre)

Judith Leclerc, Architektin in Barcelona unterrichtet Entwerfen an der ETSAB Barcelona und war als Gastprofessorin in Spanien und Kanada tätig. (Foto: Institut für Gebäudelehre)

Rüdiger Lainer, Architekt in Wien, war Professor an der Akademie der Bildenden Künste Wien, ist Vorsitzender und Mitglied mehrerer Fachbeiräte und Vorstandsmitglied von Europan Österreich. (Foto: Institut für Gebäudelehre)

Jahrelang wurde uns erklärt, in naher Zukunft würden wir alle allein in unserer Wohnung sitzen, wären über allerhand digitale Kanäle mit dem Rest der Welt verbunden und müssten uns gar nicht mehr aus dem Haus bewegen. Doch daraus ist nichts geworden. Wir wollen noch immer real mit anderen Menschen zusammen sein. Und der Ort, an dem das stattfindet, ist die Stadt. Die Öffentlichkeit der Stadt ist seit dem antiken Athen trotz aller Veränderungen die zentrale Bühne des menschlichen Zusammenlebens. Revolutionen wie in Ägypten mögen ohne Facebook oder Twitter nicht möglich gewesen sein. Das Finale, der Sieg über das autokratische Regime Mubaraks war aber nur in der Stadt, am Tahrir Platz möglich.

"Cities are Great. Density is Great. Praise Density." Im Rahmen des internationalen Symposiums "Dense Cities. Architecture for living closer together", das vom Institut für Gebäudelehre der TU Graz, Ende Mai in Graz veranstaltet wurde, beeindruckte der Madrider Architekt und Architekturprofessor Louis Fernández Galiano die Teilnehmer mit einem Manifest für urbane Dichte. Mit ausdrucksstarken Fotografien entwarf er ein Bild von Dichte und davon, wie unsere Welt ohne Verdichtung bald aussehen würde. Doch weder Galianos Vortrag noch das Symposium als Gesamtes priesen Dichte kritiklos als Allheilmittel an. Vielmehr wurde die Frage nach deren sozialer Verträglichkeit und den qualitativen Aspekten quantitativer Dichte gestellt.

Take me down to the Paradise City*
Weltweit und leider auch besonders ausgeprägt rund um Graz, stellt die Zersiedelung als Folge des unkontrollierten Flächenwachstums von Städten eine der größten Bedrohungen für unseren Planeten dar. Die Hauptursache ist ein gesellschaftliches Phänomen, die absurde irrationale Faszination der Menschen von einem Objekt: dem Haus. Multipliziert mit mehreren Millionen, ist das Einfamilienhaus unser größter Feind. Wie es aussieht, wenn beispielsweise die in den Niederlanden bis 2040 prognostizierten zusätzlichen 800.000 Haushalte in Form von Einfamilienhäusern nebeneinander gebaut würden, kann man sich leicht vorstellen. Um die ausufernde Zerstörung von Natur- und Kulturlandschaft zu bremsen, propagiert der niederländische Landesarchitekt (eine einflussreiche und medial beachtete Position, die es in Österreich leider nicht gibt) Allard Jolles Kontrast als einen möglichen Weg: Grün soll grün bleiben, im besten Fall noch grüner werden und die Stadt soll Stadt bleiben, noch urbaner werden. Ein direktes Nebeneinander von Stadt und Grünraum und im kleineren Maßstab von der belebten urbanen Straße und der ruhigen grünen Nachbarschaft soll vielfältige Lebensqualität schaffen. Der Highline-Park in New York veranschaulicht das auf eindrucksvolle Weise.

So weit ist Graz noch nicht. Allerdings sieht Hans Gangoly, Professor am Institut für Gebäudelehre der TU Graz, seit 2008 ein Zeitfenster geöffnet, in dem politische Weichenstellungen möglich sein könnten. Auch Stadtbaudirektor Bertram Werle erachtet Graz angesichts des prognostizierten starken Wachstums der Region vor einer Entscheidung: einen Dimensionssprung in Richtung Urbanität zu wagen oder in selbstverordneter Provinzialität zu verharren. Er ist sich mit Landesbaudirektor Andreas Tropper und Harald Grießer von der steirischen Landes- und Gemeindeentwicklung einig, dass es in engem Zusammenwirken der Stadt Graz und dem Umland nötig sei, Verdichtungsmechanismen aus der Stadt ins Umland auszuweiten. Bei der Definition neuer Siedlungsschwerpunkte müsse dabei verstärkt gegen "Altlasten" in den teils schon seit den Siebzigerjahren fortgeschriebenen Flächenwidmungs- und Bebauungsplänen angekämpft werden und in Graz selbst müssten längst überholte Dichtekennzahlen erhöht werden. Ein Projekt mit Modellcharakter präsentierte Fabian Hörmann von der Architektengruppe Krokodil / EM2N: Um einen gesichtslosen Siedlungsbrei zu verhindern, wurden konkrete Lösungsstrategien für ein gesteuertes qualitätsvolles Wachstum im Glatttal bei Zürich erarbeitet. Bisher freigehaltene Räume zwischen den Ortschaften werden als Entwicklungszentren begriffen und so das Zusammenwachsen der Orte zu einem Siedlungsraum mit einem Potential von 300.000 Einwohnern ermöglicht. Durch die Umschichtung von Bauland kann gleichzeitig der wertvolle Naturraum, der die Region umgibt, erhalten werden.

Wozu eigentlich Dichte?
Neben dem immensen Landverbrauch und der Verschwendung von Ressourcen bei einer nicht dichten Bebauung und den dabei entstehenden Kosten sowohl für den Einzelnen als auch die Gemeinschaft, sind es vor allem kulturelle und gesellschaftspolitische Argumente. Der erfolgreichen Tradition der europäischen Stadt folgend und entgegen dem dogmatisch-funktionalistischen Städtebau der Moderne sind es Heterogenität und die funktionale Durchmischung sowie Kompaktheit und Dichte, die einen qualitativen öffentlichen Raum und eine kulturelle Produktivität hervorbringen.

Dichte ist aber nicht alles. Darüber waren sich die Teilnehmer in den Diskussionsrunden zwischen den Vorträgen, die von Christoph Luchsinger und Hubertus Adam moderiert wurden, einig. Dichte ist kultur- und kontextspezifisch: Jeder Ort hat seinen eigenen Level an möglicher und produktiver Dichte. Zu weit gehende bauliche und soziale Verdichtung könne auch zur Unbewohnbarkeit führen. Vor allem ist Dichte nicht gleich Dichte. Ausschlaggebend ist die Intensität der Beziehungen im Raum: Soziale Beziehungen und Bewegung in der Stadt sind die Ziele, die mit verschiedenen Mitteln – Dichte ist eines davon – verfolgt werden. So gibt es Gebiete ohne eine hohe bauliche Dichte, die durch bestimmte strukturierende Elemente spezifische Dichtequalitäten aufweisen, etwa das landwirtschaftlich genutzte Hinterland der Lagune von Venedig. Der Begriff Intensität stellt deutlicher als der der Dichte den Menschen in den Mittelpunkt: Ausschlaggebend ist nicht die Masse an Baukörpern, sondern wie viele Menschen einen Raum aktiv nutzen.

Die soziale Verdichtung unserer Städte wird nicht immer ohne Konflikte ablaufen und das ist auch gut so, denn nur durch Differenz zum Anderen, durch Gegensätze, die sich aneinander reiben, passiert Entwicklung und entsteht Neues. Oder, wie Judith Leclerc es formulierte: "Density is a friction zone." Urbanität entsteht eben nicht aus Volumen, sondern aus den räumlichen und atmosphärischen Aspekten von Dichte und dem, was die Menschen daraus machen, wie auch Markus Penell und Rüdiger Lainer betonten. Stadt entsteht durch Komplexität, das Nebeneinander von Ordnung und Unordnung und vor allem durch ein nicht zu geringes Maß an Undeterminiertheit.

*) W. Axl Rose, zitiert nach Allard Jolles

VORSCHAU: Nachlese zum Symposium "Dense Cities", Teil 2
Lesen Sie nächste Woche im zweiten Teil, welche Stadtstrukturen die größte Dichte hervorbringen, was Dichtekennzahlen alles nicht sagen und warum der Gründerzeitblock noch immer fast unschlagbar ist.

Verfasser/in:
Martin Grabner, Bericht
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
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