02/07/2014

Das 5. Internationale ISG-Symposium 2014 widmete sich vom 12. bis 14.06.2014 dem Thema der Lebensqualität in historischen und neuen Stadtzentren und stellte dabei das Wohnen in den Mittelpunkt

02/07/2014

TeilnehmerInnen der ISG-Tagung im Hof des Volkskundemuseums in Graz

©: Stadt Graz

Vorträge im 'Heimatsaal' des Volkskundemuseums

©: ISG - Internationales Städteforum Graz

Diskussion mit Stadtbaudirektor Werle

©: ISG - Internationales Städteforum Graz

Während im vergangenen Jahr Bauen, Wohnen und Infrastruktur an den Rändern der Stadt im Zentrum der Betrachtung standen, so war es beim diesjährigen Symposium das Zentrum selbst als (wieder) zu entdeckender Lebensraum in der Stadt. Sind die Innenstädte und Gründerzeitviertel überhaupt für diesen Zweck heute noch geeignet, was bedeutet soziale „Durchmischung“ und bieten historische und moderne Zentren genügend Potenzial, um auf geänderte Lebensweisen strukturell zu reagieren? Diese und viele andere interessante Fragen wurden von den Referenten aufgeworfen und aus sehr unterschiedlichen Perspektiven bewertet und beantwortet.

Das mittlerweile 5. Symposium des Internationalen Städteforums in Graz (ISG) war diesmal Fragen der idealen Wohn-Stadt gewidmet: hochkarätige Experten, u.a. aus Österreich, der Schweiz, Deutschland und Slowenien, referierten im dicht mit Hörern besetzten Heimatsaal des Volkskundemuseums ihre Positionen, illustriert mit Beispielen aus Praxis und Theorie.

Lernen von New Lumpur und São Angeles
Den Auftakt zum Vortragsreigen machte der Wiener Architekturjournalist Wojciech Czaja in einer globalen Tour d’Horizon mit Lernen von New Lumpur und São Angeles. Die großen Megacities der Welt laborieren entsprechend ihrem Maßstäben eben an besonders großen Problemen; ein Umdenken zeichnet sich angesichts verstopfter Straßen und alltäglichen Smogs ab: Megastädte, die unter massiver Verkehrsbelastung leiden, setzen weltweit Anreize, die Einwohner wieder zum Zufußgehen zu animieren. Das gilt für Los Angeles ebenso wie New York. Seit 2009 ist der Times Square in Manhattan verkehrsberuhigt und Menschen können heute auf Bänken ohne Konsumzwang Erholung finden, wo sich früher Autos stauten. Selbst in der kalifornischen Metropole L.A., wo vor wenigen Jahrzehnten der öffentliche Verkehr fast gänzlich demontiert worden war, findet ein Umdenken statt, erklärt Czaja: „Im Verkehrs- und Stadtplanungskonzept ‚Recode L.A.‘ ist festgehalten, dass in den kommenden Jahren ein Teil der Straßen und Fahrspuren zu Radwegen und Fußgängerzonen umgebaut werden soll.“ Schnelle und günstige öffentliche Verkehrsysteme, Grünräume und Zonen für gemeinschaftliche Aktivitäten sowie Urban Gardening sind nur einige der Schlagworte, die diese Änderungsprozesse skizzieren sollen.

Im Zentrum wohnen: ALLEIN!
Der Architekturprofessor Wolfgang Christ von der Bauhaus-Universität Weimar widmete sich mit Im Zentrum wohnen: ALLEIN! Thesen zur Zukunft von Haus, Straße und Quartier einem heiklen Aspekt. Er beschrieb den zunehmenden Trend zum Bau von luxuriösen Wohnprojekten unmittelbar bei den Zentren, deren Immobilien sich an ein betuchtes Publikum mit Hang zum exklusivem Ambiente richten. Diese können aber gleichzeitig den lebendig gewachsenen Charakter von Innenstädten massiv verändern und nicht selten mit negativen Auswirkungen beeinträchtigen, wie Christ ausführte: „Man fährt mit dem Pkw bis vor die Wohnungstüre. Die Erdgeschoßzonen sind an diesen Luxus-Dominions oft blind und demonstrieren die Abkehr vom öffentlichen Raum.“ Seine These: „Die Gartenstadt hatte in der Erhöhung der Wohnqualität für die breiten Massen noch eine Vision, die gegenwärtige Renaissance der Mitte folgt dagegen keinem Masterplan.“

Wohnen im Mittelpunkt
Den soziologischen Aspekt dieser Entwicklung schilderte Jens Dangschat vom Institut für Soziologie, TU Wien, mit seiner Betrachtung des Phänomens Wohnen im Mittelpunkt. Dem häufig kritisierten Trend zur Gentrifizierung entgegen steht das politisch angestrebte Ideal der sozialen Durchmischung, das jedoch allein noch kein Garant für harmonisches und kreatives Zusammenleben ist, wie Dangschat ausführte. Assimilation und Reethnisierung sind dabei die Pole, zwischen denen die Mentalität von Gebieten mit Migrationszustrom pendelt. Der übergroßen Gläubigkeit in die selbststeuernde Intelligenz technischer Systeme und der Analyse von Big Data-Strömen von Smart City Konzepten begegnet Dangschat ebenfalls mit Skepsis: „Es geht in einer Stadt um das Zusammenleben von Menschen, das niemals gänzlich rational, plan- und berechenbar vor sich gehen kann.“

Potenzial Dichte – Leben in gründerzeitlichen Stadtquartieren
Mit der Situation in einzelnen Städten befassten sich die beiden folgenden Beiträge: Verena Mörkl vom Architekturbüro SUPERBLOCK beschrieb in Potenzial Dichte – Leben in gründerzeitlichen Stadtquartieren konkrete Projekte in Wiener Bezirken außerhalb des Gürtels: Auf die Abwanderungsprozesse der 1970er Jahre folgte aufgrund günstiger Mietpreise eine massive Zuwanderung von Migranten. Die Bevölkerungsdichte ist in diesen Vierteln durchgängig sehr hoch; Aufstockungen und Dachausbauten sind notwendig und an der Tagesordnung. Die Strategie der Stadt Wien setzt auf Blocksanierungen, die nicht nur Substanz schonend vorgenommen, sondern auch ökologischen Gesichtspunkten gerecht zu werden versuchen. Dabei darf die (Neu-)Schaffung von mehr öffentlichem Raum nicht „übersehen“ werden, ergänzte Mörkl.

Weiterarbeiten am historischen Stadtkern
Über den sensiblen Umgang mit der tradierten Substanz am Beispiel einer süddeutschen Mittelstadt berichtete Renate Preßlein-Lehle, Stadtbaurätin von Ingolstadt, mit dem Referat Weiterarbeiten am historischen Stadtkern. Die Verkehrsberuhigung und damit lebenswerte Gestaltung der Innenstadt erfordert eine sorgfältige Balance, denn ohne Geschäftsinfrastruktur und Parkmöglichkeiten in Laufweite sind diese Wohnlagen für junge Familien nur bedingt interessant, erläuterte Preßlein-Lehle. Gleichzeitig gelte es wertvolle Gebäude zu schützen und unter Wahrung der Substanz zu revitalisieren, um den geschlossenen Charakter einer historischen Altstadt zu bewahren.

Der Beitrag von LH-Stv. Siegfried Schrittwieser, der von Harald Bergmann vorgetragen wurde, widmet sich den Problemen von Abwanderung aus Randregionen, Mobilität und Wohnbauförderung. Auf launige Weise schilderte Eduard Müller, Vorsitzender von ICOMOS Schweiz, die Rolle des „Genius loci“, der den besonderen Reiz von Wohnlagen in Altstädten ausmacht. In dieselbe Richtung argumentierten Daniela Freitag und Christian Probst von der Welterbekulturstelle der Stadt Graz zum Umgang mit dem kulturellen Erbe, das schließlich nicht menschenfrei und touristenfreundlich musealisiert werden soll, sondern in dem sich eben „richtiges“ Leben abspielen soll.

Urbane Wohnqualitäten neu entdecken
Andrea Krupski von Mansberg berichtete in Vertretung des Oberbaudirektors von Hamburg Jörn Walter in Urbane Wohnqualitäten neu entdecken: Identität, Atmosphäre und kurze Wege am Beispiel Hamburg, wie die Belebung der Innenstädte gelingen kann. Die Hansestadt strebt eine Fokussierung der Mitte an, um den Bevölkerungszuwachs zu bewältigen: Die Innenstadt und der ehemalige Hafen werden als vorrangige Flächen mit Wohnbaupotenzial entwickelt; die Verdichtung weiterer Viertel in zentrumsnahen Lagen ist ein weiterer Teil der Strategie. Eine gut durchmischte Nutzung der Gebäudeblöcke ist dabei ein wesentlicher Bestandteil des Masterplans.

Smart City Graz und Graz-Reininghaus
Stadtbaudirektor Bertram Werle beschäftigte in seinem Vortrag mit der Entwicklung von einstigen Industriegebieten in Graz zu lebenswerten Wohngebieten anhand der aktuellen Beispiele Smart City Graz in der Waagner-Biro-Straße sowie des Brauereigeländes Reininghaus, wo ein neuer Stadtteil entstehen soll. Hier werden in naher Zukunft Quartiere mit urbanem Nutzungsmix – Wohnen, Arbeiten, Bildung, Naherholung, Kultur- und Freizeitangebote in nächster Nähe – errichtet. Für deren Funktionieren ist eine gute Anbindung an den öffentlichen Verkehr eine zentrale Voraussetzung. Nachhaltige, energieeffiziente und ressourcenschonende Bauweisen sind, so Wehrle, wichtige Anliegen modernen Bauens auf dem Weg zur Umsetzung dieser neuen Stadtteilzentren.

Die anschließende lebhafte Diskussion, moderiert von Wojciech Czaja, dauerte bis in den frühen Abend und musste trotz vieler interessanter Facetten schließlich ein Ende finden. Die Exkursion am Samstag führte nach Slowenien, wo anhand von Celje die besprochenen Phänomene vor Ort betrachtet werden konnten: Viele Bewohner aus dem Umfeld der slowenischen Stadt ziehen (wieder) ins Zentrum, weil sie sich angesichts der Wirtschaftskrise und sinkender Einkommen das Fertigbauen oder den Erhalt ihrer Einfamilienhäuser nicht mehr leisten können.

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