24/08/2009
24/08/2009

Dr. Susanne Scholl, Journalistin und Schriftstellerin, preisgekrönte ORF-Korrespondentin in Moskau.

Moderne Architektur in Moskau. Fotoquelle: www.inmoskau.de/blog

Architekturdenkmäler werden in Moskau einfach abgerissen. Im Bild das Hotel Moskwa. Fotoquelle: baunetz.de

Statue von Peter dem Großen in Moskau - ein weiteres Monument des umstrittenen Architekten und Künstlers Zurab Tsereteli. Fotoquelle: wikimedia.org

GAT wird in Zukunft etwas mehr über die Grenzen der Steiermark und Österreichs schauen, um einen Blick auf andere Wohn-, Lebens- und Architektursituationen zu werfen und startet eine lose Reihe mit Kurzinterviews. Im Mittelpunkt werden Menschen aus verschiedenen Ländern oder Österreicher, die seit geraumer Zeit im Ausland leben, stehen.

Das erste Interview führte GAT mit Susanne Scholl, Journalistin und Schriftstellerin, die von 1991 bis 1997 als ORF-Korrespondentin in Moskau lebte und nach drei Jahren in Wien dorthin zurückkehrte. Scholl gibt im Gespräch einen kleinen Einblick in die russische Welt des Wohnens und den Umgang mit dem öffentlichen Raum.

GAT: Welchen Stellenwert hat Wohnen bzw. das Zuhause in Russland?

Scholl: Einen ebenso großen wie überall anderswo auf der Welt. Zuhause bedeutet, sich zurückziehen können und unabhängig sein. Das war allerdings zu Zeiten, als man jederzeit aus der eigenen Wohnung geholt werden konnte und die Telefone abgehört wurden nicht ganz so, trotzdem waren und sind die eigenen vier Wände extrem wichtig.

GAT: In England hat jedes Haus auch Gästezimmer und Gästebäder, um Besucher aufzunehmen. Bei uns ist das weniger der Fall. Wenn man jemanden besucht, wohnt man trotzdem eher im Hotel. Spiegelt sich das Thema Gastfreundschaft im Wohnen wider?

Scholl: Die wenigsten Wohnungen haben Gästezimmer oder Gästebad und trotzdem wird man jederzeit überall aufgenommen – und wenn das eigene Schlafzimmer abgetreten werden muss.

GAT: Viele Ausländer, die Ende der 1980er / Anfang der 1990er-Jahre nach Moskau kamen, lebten im Hotel oder großen Wohnanlagen, also kein Luxus aber doch sehr privilegiert?

Scholl: Auch ich habe in einer solchen Anlage gewohnt. Die größte Unannehmlichkeit in den 1990er Jahren war die Tatsache, dass es im Sommer immer ein paar Wochen lang kein heißes Wasser gab – aber sonst waren und sind wir Ausländer hier halt schon sehr privilegiert.

GAT: Was bedeutet Wohnqualität für die Menschen? Kann man aufgrund der großen Unterschiede zwischen Arm und Reich überhaupt eine allgemeingültige Antwort geben?

Scholl: Ja, das kann man. Wohnqualität bedeutet vor allem einmal genug Platz, dann heißes Wasser und eine funktionierende Heizung. Und dann alles, was man bei uns auch haben möchte: Waschmaschine, Geschirrspüler, etc….

GAT: Welchen Stellenwert hat der öffentliche Raum? Wird er stark bespielt, ist seine Nutzung Thema in der Bevölkerung?

Scholl: Das halbe Jahr über einen sehr starken, das andere halbe Jahr überhaupt keinen – das hat mit dem Klima zu tun. Im Sommer nutzt man ihn weidlich – der Rote Platz zum Beispiel ist sehr häufig Bühne für verschiedenste Veranstaltungen. Ebenso die verschiedenen Parks in Moskau. Im Winter dagegen findet das Leben weitgehend hinter verschlossenen Türen statt.

GAT: Geht es nur darum diesen Raum zu nutzen, oder gibt es auch Interesse ihn neu oder anders zu gestalten?

Scholl: Eine Neugestaltung des öffentlichen Raumes endet leider bisher immer im Unsäglichen - zum Beispiel die Umgestaltung des Alexandergartens an der Kreml-Mauer durch Zurab Tsereteli, der eine Art Wurschtelprater-Märchenbahn draus gemacht hat.

GAT: Sie leben seit geraumer Zeit in Russland, was hat sich im Laufe der Zeit geändert? Welchen Einfluss hat der neue Reichtum einiger Weniger auf die gebaute Landschaft?

Scholl: In Moskau gibt es einen gewaltigen Bauboom – es wird geprotzt, wo es geht. Man reißt zum Teil auch Architekturdenkmäler ab, um dann im Stil „postsowjetischer Barock“ Neues hinzustellen. Für den Alltag haben die neuen Zeiten bewirkt, dass die Familien endlich etwas weniger gezwungen sind, auf engstem Raum zusammen zu leben. Es gibt inzwischen genug Wohnungen, man kann sie mieten – wenn auch die Preise ständig steigen.

GAT: Designer und Inneneinrichter aus aller Welt werden für russische Kunden nach Paris eingeflogen, nur um z.B. Fenstergriffe auszusuchen, der Geschmack ist allerdings fraglich, obwohl die Bauherren oft sehr jung sind. Ist das in der Regel so?
Woran orientiert sich der Geschmack?

Scholl: Ja, Geschmack - nämlich guter Geschmack - ist hier irgendwie keine Kategorie. 70 Jahre Sowjetherrschaft mit ihrem verkitschten rückwärtsgewandten ästhetischen Empfinden haben leider wirklich das Meiste an Gefühl für Formen und Farben ausgerottet und davon erholt sich die Gesellschaft halt leider nur sehr langsam.

GAT: Gibt es denn ein Interesse für gute moderne Architektur? Gibt es eine russische Architekturszene?

Scholl: Ja, es gibt Interesse für gute moderne Architektur, aber der Kreis jener, die auch verstehen, was wirklich gute Architektur ist, ist leider sehr eng. Es gibt eine Szene rund um den Chef des Architekturmuseums David Sarkisian, die aber eben auch sehr klein ist und leider - was den Abriss einiger Architekturdenkmäler in Moskau betrifft, wie zum Beispiel das Militärkaufhaus oder das Hotel Moskwa am Manegeplatz - auf verlorenem Posten kämpfen.

GAT: Wir danken für das Gespräch.

Verfasser/in:
Susanne Baumann-Cox, Gespräch
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
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