Eine düstere Zukunft prognostizierten die Wiener*innen ihrem Christkindlmarkt, diesem „Überbleibsel aus der alten poetischen Zeit […] mit seinen altmodischen Buden und altmodischen Menschen“ Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Kein Jahr in dem die Feuilletonisten nicht wehmütig „an verschwundene Gestalten, abgeblühte Freuden und verklungene Jubelrufe“ eines alten Wiens erinnerten, das die Modernisierung ihrer Zeit dahingerafft habe. „Ein paar Jahre noch, und die heiteren Traditionen, auf die der ‚Christkindlmarkt‘ aufgebaut ist, werden vergessen und mit ihnen die Hütten seiner alten, geheimnisvollen Budenwelt spurlos verschwunden sein!“[1]
Weit gefehlt!, möchte man ihnen aus der Gegenwart zurufen. Und wie es sie noch gibt, die Budenwelten im heimattümelnden Kripperl-Stil. Auch hundert Jahre später strahlen sie die „gemüthliche Auffassung [aus], die gefeierte Szenerie habe sich nicht im Oriente, sondern etwa in Dornbach oder Neuwaldegg“ zugetragen. Denn was die österreichische Fußballnationalmannschaft heuer knapp verpasst hat, schafft Wien mittlerweile Jahr für Jahr spielend: Die Stadt ist Europameister der Weihnachtsmärkte. Stolz vermeldet sie auch heuer: „In kaum einer anderen Stadt in der EU gibt es mehr Weihnachtsmärkte und marktähnliche Veranstaltungen als in Wien. Dieses Jahr können Sie 14 Märkte mit insgesamt 796 Ständen, darunter 190 Gastro-Stände, besuchen.“[2]
Der Advent beginnt am vierten Sonntag vor Weihnachten. Die Vermarktung des Kommens Christi beginnt bereits drei Wochen vorher und das hat einen einfachen Grund: Geld. Die Summen erscheinen unglaublich. In einer in wenigen Stunden aufgestellten Bretterbude lassen sich auf den Wiener Weihnachtsmärkten im Durchschnitt 175.000, in Einzelfällen sogar über 1 Million Euro Umsatz machen.[3] Da scheinen Standmieten von maximal 75.000 Euro netto[4] für bis zu 41 Tage erträglich.
Bereits seit Anfang November, also mehr als sieben Wochen vor Weihnachten und nur fünf Wochen nach Sommerende, wurde deshalb allerorten für den Segen des Weihnachtsgeschäfts wieder gesägt, geschraubt und gehämmert. An touristischen Brennpunkten wie dem Rathaus, dem Stephansplatz und in Schönbrunn sind die Buden längst standardisiert und werden vom Betreiber verpachtet. Am Karlsplatz regiert hingegen nach wie vor der ländliche Freistil. Der Rückgriff auf eine vernakuläre Tradition, die zumeist ein Konstrukt ist (siehe die Geschichte des Dirndls), ermöglicht jene synthetische Droge, von der Österreich seine Gestalt als Tourismusland fast vollständig abhängig gemacht hat.
Zum Einsatz kommt die gesamte Baumarkt-Palette aus Fichten-Dielen, Polycarbonat-Tafeln, Schraubfüßen, LKW-Planen, Tischler- oder OSB-Platten, 5/8er Staffeln und jeder Menge Rustikaleffekt-Beize. Satteldächer, Pultdächer, Zeltdächer. Auch im Maßstab gibt es kaum Grenzen. Typologisch reicht die Bandbreite von den gewohnten Verkaufsständen, die kaum Platz für zwei Beschäftigte bieten, über reine Bankomat-Buden bis hin zu wirklichen Ziegenställen und regelrechten Wirtshäusern mit beheizten Gasträumen für dutzende Personen.
Das Wort Elend bezeichnet Leid, Kummer, aber auch Armut und Not. In der Architektur führt letzteres zum "informellen Bauen", weil Menschen, die sich kein Dach über dem Kopf leisten können, Grund besetzen und sich ihre eigenen Unterkünfte bauen. Dabei wird an Material eingesetzt, was günstig oder umsonst zu bekommen ist. Deswegen könnte man auch von einer "armen" Architektur sprechen, die aber nicht selten zu erstaunlichen gestalterischen Lösungen führt. Das elende Bauen, wie es in vielen Weihnachtsmärkten zum Ausdruck kommt, setzt die "Armut" der Materialien in völliger Umkehrung ein: Je billiger der Stand zusammengezimmert ist, umso größer der Gewinn, der sich damit erzielen lässt. Die winterliche Dunkelheit, der geschickte Einsatz von Lichtgirlanden und die durch den Alkohol vernebelten Sinne schaffen jenes Spektakel, das den Blick trübt und die Portemonnaies öffnet.
Während es in der konsequent durchkommerzialisierten Stadt London praktisch keinen öffentlichen Raum mehr gibt, wird er in Wien von der Stadt zunehmend "bewirtschaftet" und an private Betreiber verpachtet. In London ist das schon am Anfang des Millenniums radikal verkleinerte Rathaus mittlerweile aus der von Norman Foster entworfenen "Zwiebel" weit nach Osten in einen ehemaligen Siemens-Showroom gezogen. Grund dafür war, dass der Foster-Bau auf kuwaitischem Grund steht, weshalb nicht nur eine hohe Miete zu zahlen war, sondern auch jegliche Versammlung vor dem Gebäude vom privaten Eigentümer verboten werden konnte.
Wie auf vielen Gebieten, agiert die Stadt Wien auch sozialräumlich wesentlich geschickter. Sie hat ihren Rathausplatz seit Jahren so vollständig der privaten Verwertung übergeben, dass er als Ort der Versammlung oder für gesellschaftlich relevante Ausstellungen[5] kaum noch zur Verfügung steht. Auf Eistraum und Herzerlbaum folgt der Silvesterpfad, im Sommer das Bike-Festival, der Zirkus Roncalli, das Open-Air-Kino und einiges mehr. Doch auch wenn die Stadt an all dem Spektakel unmittelbar nicht viel verdient, so hat es den angenehmen Nebeneffekt, dass das Volk mit Brot und Spielen ruhiggestellt wird.
Dabei verweisen die vielen Märkte auch noch auf ein anderes Paradox: Wo ist hier die Krise des Einzelhandels? Warum sind die Buden so erfolgreich, während die kleineren Geschäfte allerorten zusperren? Das liegt zum einen natürlich daran, dass öffentlicher Grund privat verwertet wird. Noch wichtiger aber ist die Nutzungsmischung: Denn einkaufen wird hier in eine sehr gewinnbringende Verbindung mit dem Konsum von Alkohol gebracht. Vielleicht wäre das die Lösung für den dahinsiechenden Einzelhandel: Verkaufsstandln in jedem Beisl, Punschhütten in jedem Geschäft.
[1] Karl Ritter von Enderes, „Vom Wiener Christkindlmarkt“, in: Dillinger`s Reise- und Fremden-Zeitung, 20. Dezember 1900.
[3] Für 2024 werden, so die Wirtschaftskammer Wien laut Artikel “WK Wien Umfrage: Wiener sind begeisterte Weihnachtsmarktbesucher - WKO“ vom 21.11.2024, für alle Wiener Weihnachtsmärkte, d.h. 796 Stände, 140 Mio. Umsatz erwartet. Laut news.ORF.at - Artikel vom 20.11.2018 “Weihnachtsgeschäft: Christkindlmärkte verdienen am meisten” wurde für den Weihnachtsmarkt am Rathausplatz 2018 allein 60 Mio. Euro Umsatz geschätzt. Mindestens die Hälfte davon, also 30 Mio. Euro entfielen auf die Gastronomie, was bei damals 18 Ständen über 1,6 Millionen Umsatz pro Stand ausmachen würde. Kein Wunder, dass es vor zwei Jahren zu Auseinandersetzungen und persönlichen Bedrohungen kam, als ein nicht berücksichtigter Standler die Familie eines Weihnachtsmarkt-Veranstalters derart bedrohte, dass dieser vorübergehend aus seiner Wohnung ausziehen musste. Nicht zuletzt aufgrund dieses Vorfalls wurde die Vergabe mittlerweile neu geregelt.
[5] Immerhin hat hier 1922 Schütte-Lihotzky im Rahmen der 4. Wiener Kleingartenausstellung ein 1:1-Modell ihrer "Kochnischen- und Spülkücheneinrichtung" ausgestellt.
Bravo! Schön auf den Punkt…
Bravo! Schön auf den Punkt gebracht!