Beschleunigt und verselbständigt hat sich diese Entwicklung durch die sogenannten klugen Telefone. Jene für den gesellschaftlichen Zusammenhalt immer mehr zum Problem werdende Erfindung vernichtet nicht nur den persönlichen Kontakt, sie ermöglicht auch die mobile digitale Reservierung. Das führt zur Verringerung von Begegnungen und zur Verarmung des erlebten Raums.
Warum spontan in eine Bar spazieren oder sich unverhofft auf der Straße treffen und in das nächste Kaffeehaus gehen, wenn sich Verabredungen so einfach planen lassen? Alles Zufällige, nicht Vorhersagbare ist der Wirtschaft ja an sich unheimlich, weil nicht umstandslos in bezahlbare Leistungen umsetzbar. Diese Grundeinstellung lässt sich einer immer größeren Anzahl an Menschen als Zuwachs an individuellem Komfort verkaufen. Den Lokalbetreibern kommt dies zugute. Kapazitäten können besser genutzt, die Auslastung gleichmäßiger verteilt werden. Gerade jene Betriebe mit den markigsten Sprüchen im Berliner Werbejargon wie „Rampensau! Peng, Peng Style“ – Lokale, wo einem die Tätowierungen des Personals um die Ohren fliegen – sind überhaupt nur noch für eineinhalb Stunden reservierbar. Danach wird man von einem Angestellten im FC St. Pauli Shirt mit einem Lächeln gebeten zu zahlen und zu gehen, da der gebuchte „Time-Slot“ abgelaufen sei.
Wieder wird ein Teil städtischen Lebens zurechtgestutzt und werden mit ihm die Orte beschädigt, die es ermöglichen. Die Produktion von Raum lässt sich dank Reservierung nunmehr nach dem ökonomischen Prinzip der Taktzeit1 strukturieren. Wenn es stimmt, dass Heimat ein Raum aus Zeit ist2, dann macht uns auch hier die Wirtschaft heimatlos.
Denn denen, die nicht schon Stunden im vorhinein wussten, dass sie gerade jetzt Lust auf einen weißen Spritzer und eine Zeitung haben, bleibt nur noch der Tisch neben dem Eingang zur Toilette. Besagter Sven konnte dann aber doch nicht kommen und der Großteil der vierzehnköpfigen Festgesellschaft verspätet sich um satte zwei Stunden. So sitzt man mit Frau Dr. Gartner und ihrem Mann vorerst allein im Lokal.
Wie so oft widerspricht sich die singularisierte Gesellschaft auch hier selbst. Denn der individualisierte Kommerz macht die Disziplinierung der Konsumenten notwendig, um den größtmöglichen Ertrag aus ihnen herauszuholen. Was sich also exklusiv und personalisiert anbahnt, der Empfang durch Angestellte des Lokals und die Begleitung zum Tisch, ist in Wirklichkeit Ausdruck von Geschäftssinn und Entmündigung. Das Ritual beginnt in einem dicht gedrängten Niemandsland am Eingang.3 Mit aufgesetzter Freundlichkeit verrichtet das Personal dort seine Gefühlsarbeit, fragt höflich, aber mit Nachdruck, nach Vormerkungen, lässt ordnungsgemäß gemeldete Menschen passieren und reiht die anderen in eine Schlange ein. Wenn dann mit eben erst Eingetroffenen Küsschen ausgetauscht werden, bevor diese aus unerfindlichen Gründen ohne Reservierung an einen Tisch geführt werden, durchschaut man den Betrieb. Schon am Eingang werden die Machtverhältnisse etabliert, wird die Freiheit der Gäste auf ein kontrollierbares Niveau reduziert und ihr Wille, so sie keinen Platz gebucht haben, gebrochen.
Es ist durchaus verständlich, dass bei nicht wenigen Menschen nach solchen Erfahrungen der Reservierungsdrang geradezu zwangsneurotische Züge annimmt. Verstärkt werden diese durch ein wachsendes Bedürfnis, Zufall und Spontaneität im Leben als Unsicherheitsfaktoren generell so weit als möglich auszuschalten. Alles und überall muss reserviert werden.
Auch private Anlässe lassen sich durch ihre Auslagerung in Lokale optimieren. An der Eingangstür zur Bar, zum Beisl, zum Restaurant oder zum Kaffeehaus hängt dann ein Zettel mit der Aufschrift „Privatveranstaltung“. Zugleich wird die eigene Wohnung als halböffentlicher Raum aufgegeben. Sie wird Anderen, Auswärtigen, Bekannten und selbst Freunden vorenthalten. Vorbei die Zeiten, wo man in unbekannte Viertel fuhr und sich auf der Suche nach der angegebenen Adresse verlief. Vorbei die Zeiten, da man schließlich zwei Flaschen Wein durch ein düsteres Stiegenhaus bis unters Dach trug, um einen Abend lang in eine unbekannte Zweizimmerwohnung einzutauchen, vollgeräumt mit den persönlichen Erinnerungen ihrer Bewohnerin.
Auch in größeren Haushalten waren zumindest das Wohnzimmer oder ein an die Küche angeschlossenes Esszimmer Orte, in denen Gäste empfangen wurden. Mittlerweile hat sich die aus dem angelsächsischen stammende Sitte verbreitet, private Anlässe in die Unpersönlichkeit einer „Location“ zu verlegen. Selbst wenn der Freundes- oder Freundinnenkreis überschaubar ist, werden Geburtstage oder andere Anlässe in einer gewinnorientierten Umgebung gefeiert. Das hat mehrere irritierende Wirkungen: Zum einen wird man nicht eingeladen, sondern häufig aufgefordert einen Großteil der Zeche selbst zu zahlen, obwohl umgekehrt mit großer Selbstverständlichkeit ein Geschenk erwartet wird. Das erspart den Anlassgebern also nicht nur den Aufwand der Bewirtung, sondern auch Kosten.
Zum anderen bekommt man kaum noch Einblick mehr in die Lebenswelt von Menschen, die man interessant findet, mit denen man sich verbunden fühlt. Gleichzeitig geht aber ein gewichtiger Teil der Gastfreundschaft – einer der ältesten und schönsten Bräuche der Menschheit – verloren. Sie wird kommerzialisiert. Singularitäten sind eben nicht zum Geben geboren. Nehmen erscheint wesentlich ergiebiger.
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1. Der Verband für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung e. V, kurz REFA definiert den Begriff folgendermaßen: „Taktzeit – auch Arbeitstakt oder Takt genannt – ist die Zeit, in der jeweils eine Mengeneinheit fertiggestellt wird, damit das Fließsystem die Soll-Mengenleistung erbringt“.
2. „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ ist der Titel eines Dokumentarfilms von Thomas Heise aus dem Jahr 2019.
3. Noch lässt die Planung vieler Lokale die nachträgliche Einrichtung eigener „Warteräume“ nicht zu.