Als Architektur- oder Kunststudierende - nach Besuch der oben genannten architekturtheoretischen Seminaren - begibt man sich auf die Suche nach diesem besonderen Ort. Mit offenen Augen erkundet man die Welt, sucht ihn (den Genius Loci) selbst in den entlegensten Winkeln der Stadt oder am Land. Auch die Akropolis, die von Le Corbusier (Ausblick auf eine Architektur, 1923) bewundert wurde, wird gerne aufgesucht, um die Klarheit, Offenheit und Freiheit der modernen Architektur zu verstehen. Und auch dort könnte der Genius Loci schon des Öfteren gefunden worden sein.
In einem ganz anderen Werk (Architecture without Architects, 1964) argumentiert Bernard Rudofsky, dass die moderne Architektur jedoch den Bezug zum Menschen verloren hätte und dass Menschen ihre Umwelt möglichst individuell und selbstbestimmt gestalten sollten.
Wahrscheinlich ist es für viele Architektur- und Raumschaffende ein Weg der Mitte. Es ist die Kunst, den Spagat zwischen „Design - Prinzipien“ und einer Gestaltung, die jene Individualität und Freiheit ermöglicht, die eine komplexe Gesellschaft, wie die unsere braucht, zu schaffen.
Im Laufe der Jahre kam auch ich ganz klar zur Meinung, dass es nicht immer gebaute oder künstlich kreierte Zonen oder Quartiere braucht, um einen Ort aufleben zu lassen: Es sind die Zwischenräume, die öffentlichen Zonen, die Orte, die Plätze wo sich Menschen eben gerne aufhalten. Sie tun Dinge, die sie als Gesellschaft eben tun, ungezwungen, gemeinsam: Sie plaudern, essen, lachen, weinen und singen. Verbringen einfach Zeit an einem Ort, der sich für sie gut anfühlt.
Wann aber hat ein Ort nun dieses „Genius Loci“? Wann ist er etwas besonders, hat Atmosphäre, ist schön und einladend? Lässt er sich künstlich heraufbeschwören, entwerfen oder hat er immer mit der Geschichte eines Ortes selbst zu tun?
Die Antworten auf diese Fragen sind vielfältig. Nur schwierig finden wir sie rationell und analytisch. Ein Versuch aus der Beobachtung zeigt aber, dass es oft Orte mit Geschichte (oder mit Gebäuden mit Geschichte) sind, die dieses Gefühl in uns hervorrufen. Sie erinnern uns gewissermaßen an die „guten, alten“ Zeiten und wecken in uns eine Sehnsucht – vielleicht nach Langsamkeit, Beständigkeit oder aber nach Ruhe, die solche Orte ausstrahlen. Historische Gebäudeensembles säumen oft öffentlich benutzbare Zonen, in denen wir uns gerne aufhalten. Hier kann und darf man sich (oft) konsumfrei bewegen und befindet sich dennoch in einer Art „Raumgefäß“, das uns in Sicherheit wiegt, uns aufatmen lässt. Das Pendant dazu ist die wilde, raue Natur, die zwar auch gerne romantisch dargestellt wird, uns aber nicht dieses sichere Umfeld bieten kann.
„Kunstgenuss und Lebenslust“ – mit diesen Worten wird das wohl größte, urbane Wohnzimmer Wiens, das Museums Quartier beschrieben. Es bietet den Wiener*innen und auch deren Besucher*innen kulturelle Einrichtungen, Cafés und Shops und ist gleichzeitig auch Ruhezone – mitten in der Stadt. Als urbaner Innenhof, gesäumt durch historische Gebäude aus dem 18. und 19. Jahrhundert und moderner Museumsarchitektur ist es ein Ort, an dem man sich wohlfühlen kann. Es ist ein urbaner Ort, der für viele dennoch eine gemütliche Atmosphäre hat. Hier könnte man den Genius Loci finden.
Vor mehr als zwei Jahren, habe ich dieses besondere Gefühl dort wahrgenommen, wo ich es am wenigsten erwartet hätte: zwischen Donau und Wienerwald in der Marktgemeinde St. Andrä-Wördern habe ich einen Dorfplatz gefunden.
Dorfplätze, gibt es die überhaupt noch?
Jeder Ort, jedes Grätzl und Quartier braucht ein Zentrum. Einen Ort für die Gesellschaft, für die Menschen, die dort leben. Einen Ort, wo sich jeder frei und unbeschwert bewegen darf, am besten ohne Konsumzwang. Diesen Ort beschreibt der Soziologe Ray Oldenburg als „dritten Ort“. Ein Ort, der neben dem First Place (Zuhause), Second Place (Arbeit), Ausgleich und Ruhe ermöglicht. Es sind Begegnungsorte, wo Austausch stattfindet, Ideen gefunden und ausgetauscht und das Gemeinschaftsgefühl gestärkt wird. Neben den klassischen „dritten Orten“, wie Cafés, Museen oder Bibliotheken oder z.B. das Museumsquartier in Wien, können auch ganz andere Orte, wie z.B. öffentliche Plätze, das Dorffest oder ein Vereinslokal dritte Orte sein.
Diese dritten Orte verschwinden leider zunehmend aus unseren Lebensräumen. Nicht ohne Grund spricht man sowohl in Stadt, wie am Land vom „Sterben der Geschäftsstrassen und Wirtshäuser“. Plätze, die vor etlichen Jahren noch Treffpunkt für die Kommune waren, sei es am Land oder im Grätzl, gibt es (fast) nicht mehr. Einsamkeit und Isolation prägen unsere Gesellschaft.
Gerade deshalb braucht es viel mehr solche „dritte Orte“. Einerseits um soziale Treffpunkte zu ermöglichen und der zunehmenden Vereinsamung des Individuums entgegenzuwirken, andererseits um Dörfer, Städte und Marktgemeinden im wahrsten Sinne wieder aufleben zu lassen. Es ist wichtig, dass Menschen wieder zusammengebracht werden und Leben in den Straßen und auf die Plätze zurückkehrt. Diese wichtige Funktion eines Ortes muss und darf nicht ausgelagert werden an die Peripherie, in dezentrale, nur mit dem Auto erreichbare Shoppingmalls und Einkaufszentren. Das Wuchern solcher an den (dezentralen) Ortsrändern ist nicht förderlich dafür, dass Menschen im (zentralen) Ort ihre Freizeit verbringen. Städte werden zu „Schlafstädten“, wo es nicht nur nachts ruhig ist.
Wördern hat vor einigen Jahren sein dörfliches Zentrum bekommen. Hier ist es nie ruhig. Es ist ein Ort, der offen ist und so breit aufgestellt, dass er sowohl von Zugezogenen, als auch Einheimischen angenommen wird. Ein Ort für den Ort und seine Besucher sozusagen. Er erfüllt Funktionen, die es vielleicht einmal gab, auf jeden Fall, aber inspiriert er mit dem, was er für seine Bewohner*innen bietet: Raum zum Leben, Singen, Lachen und Miteinander sein.
Der Dorfplatz in Wördern: Zentrum für kooperatives Arbeiten und Leben
Es muss nicht immer etwas neues geschaffen werden, um einen einprägsamen Ort zu schaffen. Oft genügt der Ort an sich, der viel Potential in sich birgt und nur darauf wartet benutzt zu werden. So ähnlich begann die Geschichte des heutigen Dorfplatzes in Wördern. Die Initiator*innen des Dorfplatzes, mussten wohl auch dieses besondere Gefühl haben, als sie den leerstehenden Hof entdeckt haben. Lang hat es nach dieser Entdeckung nicht gedauert und eine Gruppe engagierter Menschen steckte 2015 ihre Köpfe zusammen und begann nachzudenken. Wördern sollte nicht mehr ohne Zentrum, ohne Treffpunkt sein! Der Vierkanter, der einmal ein Gestüt gewesen war, bot räumlich mit seinem Hof genau diesen Platz, dieses Zentrum. Ein Ort der Begegnung sollte geschaffen werden für St. Andrä-Wördern. Ein soziales Zentrum, ein dritter Ort für alle. Etwas sehr profanes also, was jeder braucht und was jeden betrifft.
Der Grundgedanke der Gründer*innen war, einen Platz für ein Miteinander zu schaffen. Und das Sichtbarmachen, was es schon gibt: unterschiedliches Handwerk, vielfältige Berufe, Kultur, Geselligkeit und ein gegenseitiges Versorgen – daher war die Idee, ein gutes Mittagessen kochen zu wollen, schon von Anbeginn ganz klar. Regional, saisonal und frisch sollte es sein und erschwinglich für alle, ganz nach dem Motto: „In der Hofküche isst jeder gut!“
Diese Ideen gefielen dem Besitzer des ehemaligen Novotnyhof, einem Landwirt aus dem Ort, so gut, dass er sich mit den Interessierten einigte. Er vermietete an die Gründer*innen dieses sozioökonomischen Projekts, da sie was „Gescheites“ dort machen. Bei der Alternative hätte es sich um ein klassisches Immobilienprojekt gehandelt. Das längliche Grundstück könnte ideal mit Reihenhäusern besetzt und gut ausgenutzt worden sein. Nochmal Glück gehabt, Novotnyhof!
Herausforderungen und Entwicklungen
Wie bei jedem visionären Projekt gab es große Herausforderungen bei der Abwicklungsplanung und Umsetzung zu bewältigen. Kritische Punkte bei der Entwicklung dieses Projekts waren einerseits die Finanzierung, aber auch die erforderliche Betriebsanlagengenehmigung. Förderungen konnten nur für Neuankäufe lukriert werden und da mehreres im Dorfplatz recycelt, wiederverwertet oder einer neuen Nutzung zugeführt wurde, waren manche Förderungen somit gar nicht möglich. Viele der Gegenstände haben eine Geschichte und ebernso viele Menschen ihren Bezug dazu. Auch der Aspekt der Vorfinanzierung darf nicht unterschätzt werden und fordert grosses persönliches Engagement und auch finanzielle Mittel, die auf- und eingebracht wurden. Die baulichen und strukturellen Adaptierungen des Bestandsobjektes aus 1900 konnten zum großen Teil durch kooperativen Selbstbau verwirklicht werden. Begleitet wurde die Abwicklung von dem Architektenteam Johanna Aufner + Alexander Mayer. So konnte trotz verschiedener Fenster aus unterschiedlichsten Quellen, ein harmonisches Gesamtbild geschaffen werden. Die Entscheidung, mit dem Architektenteam zu arbeiten, hat sich auch für Stefan, einen Mitbegründer, bewährt, da jeder Mieter diese Gestaltung sonst selbst in die Hand nehmen hätte müssen. Hinter dieser einheitlichen Fassade tummelt sich jetzt die Vielfalt: seit 2015 sind unterschiedlichste (Kunst-)Handwerker*innen eingemietet. Es gibt 11 kleine Werkstätten, die Kunstarkaden, ein Gemeinschaftsbüro mit CoWorkingSpace, die Hofküche und viele Kleinprojekte wie Repair Café, Foodsaver und Kistlgärten.
Alt und Jung, Handwerk und Dienstleistung, Foodcoop und soziale Projekte, Kochbegeisterung und Heißhunger treffen am Dorfplatz aufeinander. Auch an Veranstaltungen mangelt es nicht: Vom Kunsthandwerkmarkt, über die Tage des offenen Ateliers bis zum alternativen Leopolidmarkt, der weit über die Gemeindegrenzen hinaus an Bekanntheit errungen hat, findet man alles, was man für ein glückliches Dorfleben braucht.
So glücklich alle sind, gibt es doch auch im laufenden Betrieb viele Herausforderungen, die gelöst werden wollen und Konzepte, die nachgeschärft werden müssen. Die Finanzierung muss durch ein schlüssiges Vermieterkonzept, Förderungen und Privatpersonen organisiert werden. Parallel zu den Vermietungen der Werkstätten und Ateliers gibt es auch einen Kulturbetrieb. Die Hofküche, die seit 2018 betrieben wird, bietet als Raum auch verschiedene Möglichkeiten der Nutzung. So kann sie für Feiern, Firmenevents, Parties oder Vorträge und Präsentationen - auf Wunsch mit Catering - gemietet werden. Der Verein „Grenzenlos“ - ein engagierter Verein in St. Andrä-Wördern - nutzt diese Räumlichkeiten auch für seine eigenen Veranstaltungen, wie z.B. „Grenzenlos Kochen“.
So ein Ort, wo vieles möglich ist und ermöglicht wird, bedarf aber auch Regeln fürs Miteinander. Mit so einem Ort meint Stefan, muss man erst umgehen lernen. Man muss verstehen, warum es beispielsweise in der Hofküche „nur ein Gericht“ gibt und die Fahrspielzeuge, die sich Kinder vor Ort kostenfrei ausborgen können, wieder in die improvisierte Garage zurückgeschoben werden wollen. Mittlerweile gibt es ein paar wenige Schilder, die auf ein paar dieser Benutzer*innenregeln hinweisen und - es funktioniert. Orte wie diese bedürfen die Beschäftigung mit ihnen, bedürfen den genauen Blick, das Verstehen und das Mittragen, damit gesamtseitlich die Abläufe und Prozesse funktionieren können. Es handelt sich nicht um das „fullservice“ Programm, wie einige von uns gewohnt sind. Vielmehr ist Mitmachen Programm.
Das Bewegen im Aussen soll frei, aber selbstverantwortlich sein. Der öffentliche Raum braucht Verantwortung, braucht Verständnis und ein wenig Mithilfe durch alle Nutzer*innen. Es ist ein Geben und Nehmen. Das, was die Nutzer*innen bekommen, ist im Vergleich zu dem kleinen Preis, den sie zahlen, sehr viel.
Ausblick
Mittlerweile bekommt der Dorfplatz zahlreiche Ankerkennungen, nicht in Form von hoch dotierten Preisgeldern, sondern inhaltlicher Natur. Zu Gründungszeiten gab es viele Möglichkeiten noch nicht und auch nachhaltige Projekte wurden lange nicht so gehypt. Erst jetzt werden Veranstaltungen, wie „Wunderwerk - Das Fest für Jung & Alt“ beim Wettbewerb von „Green Events Austria“ nominiert. Der Vorbildcharakter und die praktische Umsetzung von Nachhaltigkeit werden gelobt. Auch die Förderschienen werden vielfältiger und breiter und Projekte wie dieses erfahren immer mehr Möglichkeiten zur Partizipation.
Sozioökonomische Modelle, wie der Dorfplatz zeigen, dass solche Projekte wichtig sind. Für uns, die Gesellschaft im Dorf und seine nachhaltige Entwicklung. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass Fördermöglichkeiten aktuell nicht zur Bestandssicherung von Pionierprojekten, wie dem Dorfplatz in Wördern eingesetzt werden, sondern für jene Projekte, die jetzt damit beginnen. Auch dazu werden die Gründer*innen vom Dorfplatz ihre Stimme erheben.
Und damit noch mehr Mitglieder und Unterstützer*innen das Projekt gemeinsam mittragen, begibt man sich aktuell in einen Transformationsprozess, der mehr Öffnung mit sich ziehen soll. Eine Öffnung für Menschen, Organisationen, Firmen und Sponsoren, die mittels der Aktion „Dorfplatz Friends“ das Projekt mittragen und dem Dorfplatz finanziell unter die Arme greifen sollen.
Als Gegenzug gibts es ein großes Fest und das Versprechen, sich weiterhin um die soziale Ausrichtung des Dorfplatzes zu kümmern. Dieses Öffnen geht einher mit dem Nutzen für die Öffentlichkeit. Und um deren Genius Loci geht’s schließlich auch.