09/07/2020

Kolumne
Filmpalast – 16

Netflix in Zeiten von Coroa

Filmkritik von Wilhelm Hengstler

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09/07/2020
©: Wilhelm Hengstler

Netflix in Zeiten von Coroa
Netflix  kannte ich zuvor nur wegen zweier bemerkenswerter Kinofilme: Roma von Cuaron und Scorseses The Irishman, beide an diesem Ort vorgestellt. Meine Streamingexistenz begann erst mit Orzak, dessen Beginn ich mit meiner Tochter verfolgte, nachdem sie meinen Fernseher mit einem Netflixaccount aufgerüstet hatte. Die Serie Orzak ist zwar im gleichnamigen US-Hinterland angesiedelt, war mir aber trotzdem zu urban. Meinem eigenen, schlechten Geschmack  überlassen, stieß ich dann mit dem Glück des Anfängers auf Vikings. Ritterfilme sind wegen ihrer Seltenheit sehenswert, und Wikingerfilme gehören irgendwie ins Genre.

Große Erzählungen
Hatte ich geglaubt, das Ende des Romans sei nahe und die Zeit der großen Erzählungen vorbei? Vikings von Michael Hirst als Writer und Showrunner belehrte mich eines Besseren. Die Serie dampft die Raubzüge der Wikinger, die sich über mehrere Jahrhunderte erstrecken, nicht ganz korrekt auf zwei Generationen ein. Aber wer wünscht sich schon Geschichtsunterricht im Unterhaltungsfernsehen? Statt dessen reflektiert Michael Hirsts Wikingersaga aus anderen Zeiten Menschheitserzählungen und Populärmythen, an deren sich „Netflixer“ bewusst oder unbewusst erinnern: Ragnar Lodbrok und seine Frau die Schildmaid Lagertha repräsentieren – Streitaxt hin, Rundschild her – ein aufstrebendes Ehepaar aus dem Mittelstand. Wie üblich verliebt sich Ragnar später in eine andere Frau, aber die Solidarität unter den Ehepartnern bleibt. Die Neugier und der Wissensdurst Ragnar Lodbroks machen ihn zu einem frühmittelalterlichen Globalisierungsgewinner, sein Hunger nach dem fruchtbaren Land im Süden erinnert an die Eroberung Nordamerikas auf Kosten der indigenen  Bevölkerung. Aus religiöser Experimentierfreude hängt er sich wie sein Gott Odin schon mal in eine Eiche – zum Glück für die Serie reißt der Strick. 

Wikinger als „role models“
Michael Hirst reißt in Vikings mit seinen Figuren zahlreiche gesellschaftliche Themen an. Sein genialer Schiffsbauer Floki  z.B. ist ein heidnischer Fundamentalist, der am Ende auf Island eine Sekte des reinen Wikingerglaubens gründet. Sie endet allerdings im Desaster, James Jones und das Massaker aus Guyana lassen grüßen. Wie Gustaf Skarsgard diesen  mörderischen Eiferer zuckend, schräg, mit kindlicher Grausamkeit spielt, ist eine Vorwegnahme von Joaquin Phoenix als „Joker". Eine andere Geschichte ist die von Ivar, dem jüngsten Sohn Ragnars, der als Krüppel unter den Wikingern eine totalitär-faschistische Herrschaft errichtet … diese Parallelen zur Zeitgeschichte finden sich nicht zufällig in den Vikings und tragen wahrscheinlich zur unbewussten Akzeptanz der Serie bei.

Strukturen   
Die Strukturen teilen die geglückten Vikings allerdings mit weniger geglückten Serien, für die allesamt gilt: „Hast du eine gesehen, hast du alle gesehen.“ Da die Protagonisten zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten agieren, ergibt sich eine atemlose Folge aus gekreuzten Handlungen. Der wiederkehrende Reigen bekannter Orte verstärkt die Heimatgefühle der Zuseher ähnlich wie die Schauspieler, die dem Publikum längst ans Herz gewachsen sind. Gleichzeitig ergibt sich der schöne, ökonomische Effekt, dass teure Locations von der Neige bis zum Überdruss genutzt werden können.   Diese Wechsel sorgen für die Spannung, mit der die Zuseher bei der Stange gehalten werden. Halb vergessene Gestalten   werden durch ihre unerwartete Wiederkehr zum Joker, der einer stockenden Handlung neue Schubkraft gibt. Die zahlreichen Konstellationen ermöglichen außerdem Schnittvarianten, deren gelegentliche Surrealität durch ein psychologisch aberwitziges Verhalten der Akteure noch verstärkt wird. 

Entgrenzte  Dauer
Serien gründen auf einem Phänomen der „entgrenzten Dauer“, was auch durch ihre Gliederung verdeutlicht wird. An Stelle  klar von einander abgegrenzter „Teile“ und „Kapitel“ werden die gleichsam organischen Bezeichnungen „Season“ und „Episode“ verwendet. Typisch für diese Entgrenzung ist, dass eine kurze „Action“ oft noch vor dem Vorspann gezeigt wird, womit man die Illusion unaufhörlicher Gegenwart verstärkt. Eine häufig sehr raffinierte, musikalische Signation und die Titelgrafik etablieren eine Erwartungshaltung und machen die Betrachter bereit für ein, bei aller Künstlichkeit, als natürlich empfundenes Erlebnis. Die Orientierung in diesem audiovisuellen Kontinuum wird erschwert durch knapp gehaltene Informationen. Das Netflix-Angebot ist weder alphabetisch noch vollständig abrufbar, Inhaltsangaben sind kursorisch. Dem „User“ werden Filme vorgeschlagen, die ihm auf Grund seiner bisherigen Wahl gefallen könnten. So praktisch diese Methode scheint, im Leben wie in der Kunst wird aus Fehlern und Irrtümern gelernt (Trial & Error). Wer selber sucht, findet vielleicht nichts, aber er hat zumindest die Chance auf Überraschungen.

Film versus Serie
Die „Seasons“ einer Serie – oft fünf und mehr – sind in noch viel mehr „Episodes“ portioniert, was einen geradezu berufsschädigenden Zeitaufwand verlangt, Schlafmangel und rote Augen inbegriffen. Ob es um visuelle, alkoholische oder andere Drogen geht, Freizeitunterhaltung scheint ohne enorme Verschwendung von Energie nicht zu haben zu sein. Filme sind zeitlich begrenzte, überschaubare Statements über die Welt, deren Richtigkeit man ad hoc diskutieren kann. Danach beschäftigt man sich mit dem nächsten Film bzw. Statement. Serien erstrecken sich dagegen in einen verlängerten Erschöpfungszustand ohne rechtes Ende. Meist enden sie nur irgendwie, eine neue Fortsetzung könnte sich ja lohnen. Ich freu' mich auf die Wiederkehr des Kinos mit seiner schärferen Trennung von Kunst und Leben.

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