02/10/2011
02/10/2011

Veronila Kaup-Hasler. Foto: © steirischer herbst / J. J. Kucek

Veronila Kaup-Hasler. Foto: © steirischer herbst / J. J. Kucek

steirischer herbst 2011-Eröffnungsrede von Veronica Kaup-Hasler - vorgetragen am 23.09.2011, in der Helmut-List-Halle in Graz.

Sehr geehrte Damen und Herren,
die große Arbeit von Anne Teresa de Keersmaeker und Björn Schmelzer, die wir gerade gesehen haben, ist nicht nur das Ergebnis einer besonderen Zusammenarbeit zweier herausragender Ensembles und eines außergewöhnlichen Zusammentreffens von Gegenwart und Mittelalter – sie erzählt auch von der Geschichte eines Macht- und Handlungsvakuums vor dem Hintergrund einander überstürzender, zunehmend gewalttätiger historischer Ereignisse. Und sie ist eine Reflexion über Körper:
Körper von Einzelnen, Körper von Kollektiven. Was sie darstellen, wie sie sich zu dem verhalten, was die Weltläufte mit ihnen, beziehungsweise aus ihnen machen. Fundamentale und fundamentalistische Haltungen, die aufeinanderprallen.
Das Gemetzel von Cesena vor bald 650 Jahren hat der Eröffnungspremiere des steirischen herbst den Titel gegeben. Verantwortlich für das Massaker an ca. 4000 Bürgern der Stadt Cesena war Robert von Genf, den man fortan nur noch den „Henker von Cesena“ nannte. Das war im Jahr 1377 – ein Jahr darauf wurde er zum Papst gewählt -– als Clemens VII.
Das Dunkel solcher Gräuel, die Keersmaeker mit Srebrenica und vielen anderen Tragödien unserer Zeit in Verbindung bringt, ist an diesem Abend zu spüren.
Aber sicher wird man dieser Choreographie mit saloppen Vergleichen zur gegenwärtigen Weltlage nicht gerecht – und Keersmaeker und Schmelzer geht es nicht um eine einfache inhaltliche Aktualisierung. Und dennoch ist „Cesena“ sehr wohl eine Vergegenwärtigung: Als eine konkrete Auseinandersetzung mit tanzenden, singenden, vereinzelten, kollektiven Körpern. Als eine konkrete Dunkelheit, die über den Ereignissen des 14. Jahrhunderts liegt – anstatt billig erhellen zu wollen. „Die Wahrheit ist doch“, wie Anne Teresa de Keersmaeker sagt, „dass Menschen und Körper und mit ihnen auch Gesellschaften viel mehr an verstecktem Erzählstoff in sich tragen, als ihnen bewusst ist.“ Ahnungsbereiche, an denen man sehr konkret, und in diesem Fall sehr körperlich arbeiten sollte – ein wesentliches Thema von „Cesena“.
Nachdem sich der steirische herbst im vergangenen Jahr mit Virtuosität im Umgang mit Lebensrealitäten in der Kunst wie im Alltag beschäftigt hat oder ein paar Jahre davor mit Strategien zur Unglücksvermeidung – also salopp mit der Rettung der Welt – interessiert uns diesmal das Spiel mit realen und fiktiven Alternativen zum Status Quo:
Unter dem Leitmotiv „Zweite Welten“ untersuchen die eingeladenen Künstler, Theoretiker und Kuratoren utopische und parallele Welten: Von der unheimlichen Anwesenheit von Geistern über die verschobene Welt des Kranken bis hin zu Reisen in fremde Kulturen oder einfach zu versteckten Parallelwelten innerhalb unserer eigenen: Zweite Welten sind auch Möglichkeiten, etwas anders zu denken, das, was wir als erste Welt begreifen, zu hinterfragen.
Ein Zitat, das einige von Ihnen vielleicht kennen:
"Wenn es (...) Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist."
Das Zitat stammt aus Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ und ist eine der bösen Pointen seines Jahrhundertentwurfs, dass sich rund um diesen „Möglichkeitssinn“ Politik und Kulturpolitik in einer gigantischen „Parallelaktion“ sehr bürokratisch und letztlich wirklichkeitsbesessen verzetteln, während sich gleichzeitig in Liebe, Leben, Kunst, Verbrechen ungeahnte Energien und Realität gewordene Möglichkeiten auftun.
Wenn der steirische herbst in diesem Jahr „Zweite Welten“ zu seinem Leitmotiv macht, dann geht es uns auch heuer um eine gesellschaftspolitisch notwendige Beharrlichkeit: Es muss etwas anderes geben, das wir als Möglichkeit, als Alternative, als Option, Utopie befragen oder beschwören können. Vorsichtig und rein reaktiv, Schritt für Schritt in die doch immer mehr oder weniger gleiche Richtung scheinen wir die gegenwärtigen und die auf uns zukommenden Probleme ja nicht mehr lösen zu können. Die vielbeschworene „Alternativlosigkeit“ darf nicht einfach als alternativlos hingenommen werden.
Die „zweiten Welten“ im steirischen herbst 2011 sind also als gedankliche Alternativen gedacht, als Denkmodelle, als Hebel für Paradigmenwechsel, die uns plötzlich die Dinge anders sehen lassen: Den Blick, die Parameter etwas verschoben und schon geraten die Dinge ins Rutschen. Es hängt vom Standpunkt und Fokus des Betrachters ab, wie sehr im Blick auf diese Welt andere Welten hervortreten, sicht- und lesbar werden - wie bei einem Vexierbild von Arcimboldo, das Landschaft, Gesicht und eine Anhäufung von Lebensmitteln zugleich ist. Oder denken Sie an unsere Weltkarten, die Europa groß und mittig darstellen – was passiert, wenn wir andere, realistische Kartensysteme verwenden, wenn wir die Welt aus einer anderen geopolitischen Lage und Perspektive betrachten?
Aber auch die Grenzen zwischen Realem und Imaginären sind fließend, nicht eindeutig zu bestimmen und sind vor allem kulturell unterschiedlich definiert. Geister, die Seelen der Verstorbenen haben in anderen Kulturen eine nicht nur metaphorische, sondern eine zutiefst materielle und physische Gegenwart. Für den steirischen herbst ist es eine Herausforderung, sich der Frage zu stellen, was passiert, wenn wir mit den Mitteln der Kunst andere, weitere Welten wahrnehmen, beschreiben oder auch erfinden.
ZWEITE WELTEN - Das Programm des diesjährigen steirischen herbst - mit über 100 Veranstaltungen und 13 Ausstellungen - ist wieder einmal reich an sehr unterschiedlichen Weltentwürfen.
So wie man zweite Welten im Vergangen verorten kann, kann man sie auch im Zukünftigen suchen. Wir haben das kroatische Kuratorinnenkollektiv WHW (What How & For Whom / WHW), das unter anderem die Istanbul-Biennale 2009 verantwortete, eingeladen, eine Ausstellung zum diesjährigen Leitmotiv zu machen. "Zweite Welt - Where is progress progressing?“ nutzt das Potenzial möglicher und unmöglicher zweiter Welten als Projektionsfläche für imaginäre und politische Perspektivwechsel – und ist zugleich fest verwurzelt in der geopolitischen Wirklichkeit unserer Zeit. Passend für diese Dichotomie ist der Ausstellungsort: Eine weiße, helle White-Cube-Galerie oben, ein verwinkelter alter Keller darunter als Raum für wörtlich Unter-Bewusstes..
Andere Ausstellungen in diesem Jahr untersuchen heimliche und unheimliche Präsenzen in Medien, Kunst und Pop – wie im Projekt „Hauntings – Ghost Box Media“ im Kunstverein Medienturm, oder beschäftigen sich mit der Welt der Folklore im Dienst der Politik wie in der Ausstellung „Public Folklore“ im Grazer Kunstverein oder sie befragen unterschiedliche gesellschaftliche Konzepte des Zusammenlebens wie in der Ausstellung der Camera Austria. Oder sie versuchen Parallelsysteme der Macht durch Kunst und investigativen Journalismus sichtbar zu machen, wie in der diesjährigen herbst-Ausstellung von .
Der Bogen der performativen Arbeiten, die in Bezug zum Thema stehen, reicht von Lotte van den Bergs Analyse des Anderen während ihrer monatelangen Recherche in Kinshasa über das tiefe Eintauchen in die virtuelle Welt der belgischen Künstlergruppe CREW,
die den Zuschauer durch andere, technisch erzeugte Realitäten führt, bis hin zur
Science-Fiction-Choreographie der ungarischen Choreographin Eszther Salamon.
Wie jedes Jahr ist es für uns besonders wichtig, einen temporär veränderten Ort der Begegnung zwischen Künstlern und Besuchern des Festivals zu schaffen. Auch das Festivalzentrum, das von der österreichisch-slowenischen Künstlerin Marusa Sagadin entworfen wird, ist eine eigene Welt in der Welt: Als Festivaldistrikt, der sich zwischen Südtiroler Platz und Mariahilfer Platz erstreckt, spielt es mit dem Begriff der gated community, mit Einladung und Ausschluss. Es behauptet eine Stadt in der Stadt - hier findet sich alles, was eine solche braucht – ein Hotel, die Bar, den Wirt, den Club, den Laden, das Kino...

Die Fülle des Angebots verdanken wir auch der intensiven Zusammenarbeit mit lokalen Institutionen und Partnern, – im Bereich der Bildenden Kunst sind das in diesem Jahr 12 Partner, die die bildende Kunst im steirischen herbst darstellen – ein Abbild einer vielfältigen Szene, die auch in schwierigen Zeiten im und mit dem herbst herausragendes schafft. Und die der herbst in Zeiten zunehmender Monopolisierung in ihrer Vielfalt stützen will.
Aber auch dem ORF sei hier gedankt, denn mit ihm gemeinsam gibt es auch heuer ein hochkarätiges Programm zeitgenössischer Musik mit einer Fülle von Uraufführungen und zweiten Welten – im Projekt CineChamber oder auch der Konzertreihe, die Musik aus der Welt der Hauntology vorstellt.

In den nächsten vier Wochen haben Sie also die Möglichkeit in rund 100 Einzelveranstaltungen eine Fülle von künstlerischen Arbeiten mitzuerleben. Und wir sind stolz, dass es wieder gelungen ist, fast ausschließlich neue Arbeiten zu zeigen, die für oder durch den steirischen herbst entstanden sind. Wie immer mit großem Risiko – schließlich weiß man vorher nicht genau, wo der künstlerische Prozess hinführen wird. Aber wir müssen darauf bestehen, diese einzigartige Tradition des steirischen herbst zu wahren: in allen Bereichen Kunst zu ermöglichen, zur produzieren und nicht nur vorzuführen.

Verfasser/in:
Veronica Kaup-Hasler
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
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