Zu Beginn gleich in die Mitte: Das Modell eines „unendlichen Gebäudes“ ist Teil eines vom steirischen herbst in Auftrag gegebenen Werks der zentralen Ausstellung Horror Patriae in der Neuen Galerie Graz. Dem 1977 in Buenos Aires geborene und in London lebende Pablo Bronstein schwebt ein imaginierter Masterplan der Stadt Graz vor. Geschuldet einer ebenfalls imaginierten Haltung gleich dem Fin de Siècle, wenn nicht der Décadence, nach der auch é schon alles wurscht sein könnte. Die Innenstadt von Graz ist nach diesem Gipsmodell in ein einziges totales Gebäude verbackt (sic.), das wie eine riesige Cremetorte anmutet, dekoriert mit Rosetten, Halbsäulen und Pilastern aller Stilrichtungen. Die „architektonische Polemik“ ist umgeben von Plakaten mit erläuternden Zeichnungen, die etwa Archigrams Entwürfe (Kunsthaus Graz) ironisieren.
Dem Anspruch der Konstruktion eines fiktiven Heimat- oder Nationalmuseums im Kontext des Leitmotivs Horror Patriae, der Furcht nämlich vor Chauvinismen, wird die Ausstellung allein schon nach ihrem Umfang gerecht. Artefakte aus den Sammlungen und der jetzt über 200-jährigen Geschichte des Universalmuseums Joanneum–Neue und Alte Galerie, Schloss Trautenfels, Museum der Geschichte, Volkskunde- und Naturkundemuseum – sind mit zeitgenössischen Werken und aktuellen Auftragsarbeiten kombiniert oder denen gegenüber gestellt und werden zur oft karikierenden Erzählung eines Museums, wie man es sich wohl nicht wünschen mag.
Horror Patriae ist ein „alternatives Museum nationaler Komplexe und dunkler Fantasien“ schreiben die Kurator:innen Ekaterina Degot, David Riff, GáborThury, Pieternel Vermoortel über ihr Konzept und „Nationalmuseen sind Geisterhäuser. Gegründet von Reichen und Staaten, die längst nicht mehr existieren, dienten sie dazu, nationale Mythen zu konstruieren und zu bestätigen“. Grundlegender Bezug wird dabei genommen auf das Buch des amerikanischen Politikwissenschafters Benedict Anderson, der in Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts(1983) argumentiert, dass „alle Nationalstaaten, wie wir sie kennen, Erfindungen“ seien, und „Werke der kollektiven Vorstellungskraft des Bildungsbürgertums. Museen ebenso wie Romane, Zeitungen und Theaterstücke sind Orte dieser Konstruktionsarbeiten“ (zit. nach Presseunterlagen steirischer herbst).
So betritt man mit der Rotunde der Neuen Galerie auch gleich den Heimattempel mit einer Gedenktafel Heimatschutz (nach 1914) aus dem Grazer Volkskundemuseum und stößt auf dessen Gründer (1913) Viktor Geramb oder auf ein Werk Karl Haidings, dem Gründer des Museums Trautenfels, der bestrebt war, die traditionelle steirische Tracht zu erhalten. In einem Gemälde von Alfred Schrötter von Kristelli (1919) „erblicken drei Männer einen Engel über den Feldern“ und geht es 1946 lustig zu in einem großformatigen Ölbild von Reinhold Ludwig Krassnig, als wäre da nichts gewesen. Dessen Weinlese in idyllischer Landschaft lässt deutlich die Wimmelbilder Pieter Bruegels erkennen, die in der Zeit des spanisch habsburgischen Krieges gegen die niederländischen Protestanten entstanden.
Dem und anderen mehr sind die Homometer-Fotografien(1973) von Valie Export gegenübergestellt und die Torsi (2023) von Michèle Pagel. Mit Gips gefüllte Müllsäcke tragen die Titel White Trash Bagund stählerne Lederhosen.
Aus acht Abteilungen besteht dieses Museum im Museum. Beispielsweise jene für gemäßigten Größenwahn mit dem Gemälde eines unbekannten Künstlers aus dem 16. Jahrhundert, in dem die Allegorie Österreichs über Europa und Afrika thront. Eine Radierung von Georg Matthäus Fischer (1681) dagegen zeigt eine Landkarte der Steiermark in Form des Kriegsgottes Mars, ein 2024 aufgenommenes Video von Jan Peter Hammer das 1930 so benannte steirische Dorf Noreia. Nahe diesem soll eine Schlacht zwischen Germanen und Römern stattgefunden haben. Der Landesarchäologe Walter Schmid (1875-1961) behauptete, – inzwischen längst widerlegt – dass sich hier die gleichnamige keltische Hauptstadt befunden haben soll.
Eine Diaschau in der Station der wilden Fantasien zeigt den 1959 tatsächlich in Graz stattgefunden Festzug zum Erzherzog-Johann-Gedenkjahr. Präsentiert wurden damals die landwirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften der Region mit großteils exotisch anmutenden und nach Pseudo-Rekonstruktionen angefertigten Kostümen, wobei Tirol und das ideologisch umkämpfte Südtirol durch Ehrengäste vertreten waren. An dieser Station sind auch Fotocollagen der Moskauer Gruppe AES+F zu sehen, die schon im steirischen herbst 1997 Aufsehen erregten: Wie aus dem Prospekt eines fiktiven Reisebüros scheinen europäische Wahrzeichen hier von islamischen Architekturen überbaut zu sein.
An Denkmalen rüttelt der Grazer David Kranzelbinder, der sich auf die Suche nach den überkommen bestehenden gemacht hat. In seiner Fotostrecke befindet sich eine Statue Otto von Bismarcks in der Nähe von Mureck. Aufgestellt 1921 sollte sie die tendenzielle Zugehörigkeit zu Deutschland versinnbildlichen. Während in der Obersteiermark ein 26 Meter hohes Annabergdenkmal von 1917 heute immer noch an die „große Zeit“ der Monarchie erinnert.
Die Ausstellung abschließend und in der Sektion der braunen Flaggen versammelt: Kuriosa, Scheinbares und Zeichen von Identitäten im Wandel. Die Braune Fahne (1979) von Hannes Priesch ist nicht vordergründige Ideologiekritik, vielmehr konzeptuelle Malerei aus Dreck, Staub und Schlamm. Das Porträt eines SA-Mannes in braunem Mantel von Johannes Wohlfahrt (vor 1945) konnte nicht verkauft werden. Das Braun übermalte der Künstler nach dem Krieg mit Blau, um vielleicht doch noch einen Interessenten dafür zu finden. Ein späterer Besitzer legte Teile der braunen Uniform wieder frei und so wohl auch den Charakter des Porträtierten. Ein Sinnbild damit auch für dieses Museum „nationaler Komplexe".