Bei einem Radiointerview von Hilde Kolleritsch zum 20-jährigen Bestand der Werkgruppe Graz 1980 mit dem Titel „Gedanken über Beton” war der sonst so ruhige Architekt nach mehrmaligem Verhaspeln so aufgeregt, dass er erklärte, das nächste Mal aus dem Fenster des Bürohauses in der Grillparzerstraße zu springen, wenn die Interviewerin nicht zufrieden ist. Es kam nicht dazu, das Interview ging ohne Probleme auf Sendung.
Hermann Pichler bevorzugte mit den Händen zu reden – mit dem 6B Stift in der Hand. Das war sein Metier. Mit wenigen Strichen eine Raumidee zum Ausdruck zu bringen, die das Potenzial zu einer architektonischen Ausformung in sich trug. Ob kleine Bauaufgaben oder große Projekte wie die Terrassenhaussiedlung zu entwerfen waren, er widmete sich mit Sorgfalt jeder Aufgabe. Zugleich pflegte er den Kontakt mit den Auftraggebern, die ihm voll vertrauten. Vertrauen ist die zweitwichtigste Anforderung an einen Architekten, die neben der fachlichen Kompetenz entscheidend ist.
Diese Kompetenz hatte er schon als Absolvent der HTL in Villach mit Abschluss 1953, zugleich mit seinem Klassenkollegen Günther Domenig. Am 02.07.1933 in Straßburg im Gurktal geboren, führte ihn das technische Interesse nach Villach, daraufhin zum Studium der Architektur nach Graz. Zeichnen stand auch in der Ausbildung im Vordergrund, selbst Lehrer wie Friedrich Zotter zeichneten noch mithilfe von Dreiecken und Kreide an der Tafel.
Nach Erlangung des Diploms 1959 zog es ihn zum Praktizieren in das bekannte Architekturbüro Hannes Lintl nach Wien. Bei eigenständigen Wettbewerbsbearbeitungen, teilweise mit Günther Domenig, Michael Zotter und Friedrich Groß-Rannsbach, stellten sich erste Erfolge ein. Ein Studentenwohnheim in Wien als Zweischeibenhaus, analog zu deutschen Projekten dieser Zeit, erhielt den ersten Preis, wurde aber nicht an einen „Grazer” vergeben.
In diese Zeit fiel die Gründung des Forum Stadtpark, die avantgardistische Künstlervereinigung, die Werner Hollomey mit aus der Taufe hob, als Sammelbecken junger Architekten. Naheliegend war es, die Kräfte zu bündeln, und so begründeten wir, Friedrich Groß-Rannsbach, Hermann Pichler, Werner Hollomey und ich 1959 die WERKGRUPPE GRAZ.
Die neu eingerichtete Österreichische Studentenförderungsstiftung war auf uns aufmerksam geworden und beauftragte uns mit der Planung des Studentenheimes am Hafnerriegel. Das 19-geschossige Haus, zur Planungszeit das größte Hochhaus in Graz, wurde mit seiner spindelförmigen Anordnung eigenständiger Wohneinheiten um einen zentralen Kern und seiner äußeren plastischen Feuertreppe zu einem Leitprojekt unserer Planungsphilosophie. Zugleich war es das erste Beispiel eines Sichtbetonbaus in Graz, der dem Stil des Brutalismus zuzurechnen ist.
Mit dem Gewinn des Wettbewerbes für das Studentenhaus und die Mensa der Universität Graz wurde unser Büro gefestigt, ein weiteres Studentenheim in Kroisbach zeigt mit seinem strengen Aufbau und der inneren Dynamisierung durch eine offene Halle mit einer viertelkreisfähigen Drehung der Treppe deutlich die Handschrift von Hermann Pichler.
Als nächste wichtige Bauaufgaben der Nachkriegszeit erwiesen sich infrastrukturelle Projekte des Bildungswesens, der Gesundheitsvorsorge, des Sportes und der kommunalen Ausstattung mit Mehrzweckhallen, die eine Reihe steirischer Gemeinden beauftragten. Beispielhaft waren das die Doppelhauptschule Kapfenberg-Walfersam mit Sporthalle, die Allgemein Bildende Höhere Schule in Fürstenfeld, einschließlich der Sanierung des Altgebäudes, die 1. Chirurgische Klinik am Universitätsklinikum Graz und die Koralmhalle Deutschlandsberg. In kooperativer Zusammenarbeit im Team, nach dem Vorbild der von mir besuchten Seminare von Konrad Wachsmann in Salzburg, wurden die Raumkonzepte entwickelt. Dabei spielten die morgendlichen Zusammenkünfte, teilweise mit Mitarbeitern, bei einem „Türkischen” – von Milica, Schülerin von Prof. Raunikar in der Plečnik-Stadt Ljubljana, zubereitet – eine wichtige Rolle. Über Skizzen, immer wieder von Hermann Pichler eingebracht, wurde ein Strukturentwurf erstellt, der in einem ersten Arbeitsmodell überprüft wurde. Stets stand der soziale Aspekt im Vordergrund, der vom Kleinen zum Großen in ein sinnlich wahrnehmbares Raumbild gegossen wurde. Dabei war es unser Interesse, die Wünsche der Nutzer zu erfüllen, mit denen wir einen virtuellen Dialog führten. Gerade die Einfühlung in Lebensprozesse deckte Konfliktzonen auf, die wir nach dem Vorbild der „Grazer Doppelwendeltreppe” als „staircase of reconciliation” – die Vereinigung der Gegensätze – zu bewältigen versuchten.
Ob im nahen Caféhaus unseres Büros in der Grillparzerstraße, auf Studienreisen oder beim Freundesbesuch von Alois Hergouth in Sladka Gora war Hermann immer ein sehr gesprächsfreudiger Partner, der durch sein weites Interesse an aktuellen Entwicklungen unseren Horizont über die Architektur hinaus erweitere. Dies realisierten wir durch die jährliche Herausgabe von moderner Lyrik, die als Edition über 25 Jahre zahlreiche Freunde hatte und Eingang in Bibliotheken in der ganzen Welt gefunden hat.
Schließlich wurde der Wohnbau ein Schwerpunkt unserer Arbeit, da die Vorsorge für menschengerechte Wohnverhältnisse uns ein besonderes Anliegen war. Wir vier hatten Familien gegründet, daher verbanden wir programmatische Forderungen mit persönlichen Wünschen, die wir auch in von uns geplanten Wohnbauten zu erfüllen versuchten. Hermann Pichler wurde Bewohner der Terrassenhaussiedlung der ersten Stunde, wobei er eine die Gesamtanlage überblickende Dachterrassenwohnung schon am Modell als Wohnwunsch im Auge hatte.
Aber es war 1963, für Hermann vier Jahre nach Studienabschluss, noch ein weiter Weg bis zum Zustandekommen des Opus Magnum unseres Büros, der Terrassenhaussiedlung-St.Peter. Ein erster städtebaulicher Wettbewerb für die Stadterweiterung von Innsbruck-Völs bot die Gelegenheit, über ein einziges Objekt hinaus eine große Wohnanlage zu planen, die die Landschaft einbezog. In mehreren gekrümmten Clustern über einem Netz von Wasserläufen, die einen schon teils vorhandenen Teich speisten, wurde ein höhenabgestuftes Wohngebäude verwirklicht, das von zentralen Fixpunkten mit Liften aus, die flexiblen Wohneinheiten erschloss. Um den fließenden Verkehr fernzuhalten, wurde in nachhaltiger Weise der Aushub zur Errichtung eines Garagenhügels mit Atriumhäusern genutzt. Ein Hochhaus für Singles, eine Kirche sowie eine Primärschule bildeten einen einladenden Platzbereich. Dem Projekt wurde trotz fachlicher Anerkennung von Friedrich Achleitner ein Preis versagt, doch hatten wir geradezu ein „Manifest zukünftigen Wohnbaus” in die Welt gesetzt, das wir zwei Jahre später bei der in Eigenverantwortung geplanten Terrassenhaussiedlung umsetzen konnten. Gerade Hermann Pichler hat unter Einbeziehung des engagierten Studenten Bernhard Hafner in der plastischen Durchformung der Bauelemente jenes Proportionsgefühl zur Geltung gebracht, das ihn auszeichnete.
Die Terrassenhaussiedlung ist nach fast 50-jähriger Nutzung ein „Meilenstein“ österreichischer Wohnbauarchitektur. Oftmalig publiziert, ist sie in ihrem strukturellen Aufbau - Primär-, Sekundär- und Tertiärstruktur - eine aus der Architekturdiskussion der 60er-Jahre hervorgegangene „gebaute Utopie“. Einzigartig ist im europäischen Kontext das Maß der Mitbestimmung der Bewohner, die im Planungsprozess und bis heute in Selbstverwaltung dem Projekt ihren Stempel aufdrücken. Die Republik Österreich hat durch Stellung unter Denkmalschutz dieser Auszeichnung für die Bewohner Rechnung getragen.
Über Österreich hinaus hat Pichler an mehreren Projekten maßgeblich mitgewirkt, die wir im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft als „Planconsult Austria” gemeinsam mit Pablo Golger, Wolfgang Kapfhammer, Johannes Wegen und Gerd Koßdorff realisierten.
Als sich nach 30-jähriger Tätigkeit im Team die einzelnen Partner in freundschaftlicher Weise trennten, hat Hermann Pichler unter Mitarbeit von Manfred Mayer und anderen zahlreiche Projekte realisiert, wobei die Stadt Frohnleiten ihn mit der Planung wichtiger kommunaler Anlagen wie Rathaus, Sporthalle, ehemaliges Kurhaus und die Tiefgarage am Hauptplatz betraute. Auch Wohnanlagen und ein Hotelbau standen am Programm.
Da wir als Team der Werkgruppe prinzipiell keine Einfamilienhäuser planten, weil wir die individuelle Handschrift als besonders wichtig ansahen, hat Hermann Pichler für Freunde einige sehr signifikante Wohndomizile geplant. Hervorzuheben ist das Haus Pischl in Graz, das mit seinem zentralen Wohnbereich und abgesengtem Kaminplatz das „Haus im Haus Prinzip” der Terrassenhaussiedlung abbildete.
Hermann Pichler wurden zahlreiche Preise zuteil, als besondere Auszeichnung ist das Große Ehrenzeichen des Landes Steiermark anzusehen.
Mit Ingrid Balzer verheiratet, sind zwei erfolgreiche Söhne als Rechtsanwalt und Literaturprofessor hervorgegangen. Im Sommer zog es die Familie in den Süden, wo ein eigenes Motorboot die Erkundung zahlreicher kroatischer Inseln ermöglichte.
Seinem besonderen Hobby ging Hermann Pichler bis ins hohe Alter nach, dem Fliegenfischen. Als sich einmal eine „Fliege“ in seinem Bart verfing, weigerte er sich, diese mit Bartverlust operativ entfernen zu lassen. Erst ein empfohlener „Fischerarzt“ konnte unter fachkundiger Drehung die unbeschädigt gebliebene Fliege entfernen, womit Hermann seine „Fischerehre“ behauptete.
Hermann Pichler verstarb 90-jährig am 1. Februar 2024. Die Verabschiedung findet am Donnerstag, dem 15. Februar 2024, in der Einsegnungshalle des Grazer St. Peter Stadtfriedhofs statt.