Während in Deutschland breit und kontrovers über den Begriff des „Stadtbilds“ und dessen politische Instrumentalisierung diskutiert wird, scheint in Graz die soziale Dimension innerstädtischer Entwicklungsprozesse nicht so recht im allgemeinen Bewusstsein angekommen zu sein. An konkreten Beispielen wie dem Rösselmühl-Areal samt Postgarage böten sich seit Jahren Chancen, dieses Thema sichtbar zu machen, richtig gut läuft es dabei momentan allerdings nicht.
Weder Verwaltung noch Politik noch Stadtbewohner:innen zeigen ausreichendes Interesse, die Diskussion öffentlich und ergebnisoffen zu führen. Die Abwesenheit von Vertreter:innen der Stadtverwaltung, der Eigentümerin des Areals, politischer Mandatar:innen sowie eines unabhängigen Fachpublikums bei der Podiumsdiskussion "Der Entwicklungsweg von einer Fabrikhalle zum Kreativzentrum" am 23. Oktober ist Ausdruck dieser Sorglosigkeit. Trotzdem lohnt es, die Veranstaltung im Zusammenhang eines größeren Prozesses zu betrachten, der von Stadtregierung, Stadtplanungsamt, Eigentümer:innen, dem Komitee Rösselmühle, engagierten Zwischennutzer:innen und Studierenden getragen wird, sich aber bisher nur langsam entfalten will.
Aktueller Stand (Herbst 2025)
- Ein städtebaulicher Rahmenplan befindet sich in der Abstimmungsphase zwischen Stadtplanung, Eigentümerin und Fachbehörden.
- Eine Flächenwidmungsänderung (Industrie → Kernzone) ist bisher nicht beschlossen.
- Die Stadt strebt ein klimaorientiertes, gemischt genutztes Quartier an.
- Der Erhalt der historischen Mühlengebäude ist weiterhin umstritten und Teil laufender Verhandlungen.
- Das benachbarte Areal der Postgarage wurde an eine gemeinnützige Siedlungsgenossenschaft verkauft.
Im Jahr 2024 lautete die Zielsetzung, einen klimaorientierten städtebaulichen Rahmenplan zu erarbeiten, der öffentliche Parkflächen, einen Nutzungsmix der bebauten Gebiete und ein Verkehrskonzept beinhaltet. Mitte 2024 teilte die Stadt Graz mit, dass sie für das Areal Rösselmühle an der Postgarage im Bezirk Gries „erste Begleiter für die Entwicklung“ beauftragt habe. Das Team von Kleboth und Dollnig ging als Bestbieter aus der Ausschreibung hervor. Die Entwicklungsziele sollten bis Frühjahr 2025 in enger Abstimmung mit der Eigentümerin in einem städtebaulichen Rahmenplan festgelegt werden, der als Grundlage für eine Umwidmung des Industriegebiets dienen soll. Im Oktober liegt dieser Rahmenplan nun zwar vor, doch bleibt bislang unklar, was im Detail nach der einjährigen Entwicklung durch Stadt, Eigentümerin und Planer:innen tatsächlich dem Gemeinderat zur Genehmigung vorgelegt wird – öffentlich ist darüber bisher nichts bekannt.
Das Angebot des im Januar 2025 beendeten Beteiligungsprozesses entspricht damit nicht dem Gegenstand kontinuierlicher und kollektiver Stadtentwicklung und verursacht weiterhin Unmut darüber, dass Anrainerbedürfnisse und verschiedene Fachexpertisen nicht ausreichend nachvollziehbar in die Planung integriert wurden. Dies zeigt sich besonders dort, wo Meinungen und Ideen zwar abgefragt, aber keine Ergebnisse oder Schlussfolgerungen daraus kommuniziert werden. Der Entwurf des Rahmenplans wurde am 8. Januar 2025 vorgestellt (1). Eine anschließende Fragerunde zeigte, dass die mögliche Höhenentwicklung und Bebauungsdichte am Areal, das Verhältnis von Wohnnutzung zu Nicht-Wohnnutzungen, die Verkehrsauswirkungen von Tiefgaragenzufahrten auf die umliegenden Straßen sowie die Erwartungen der Grundeigentümerin kritisch gesehen wurden. Mehrfach betonten anwesende Grazer:innen, dass die Planung in ihrer vorliegenden Form zu Nutzungskonflikten führen werde. Mehrere Personen sahen auch die bisherigen Kultur- und Kunsträume durch den Rahmenplan gefährdet und kritisierten das Fehlen zusätzlicher Kulturräume. Explizit forderte das Publikum im Januar eine Bedarfsanalyse, die offenlegt, welche Nutzungen im Planungsgebiet und seinem Umfeld tatsächlich gebraucht werden. Positives Feedback gab es lediglich zum Erhalt der Postgarage, zu den geplanten Radwegen und zu neuen Freiräumen auf dem Areal.
Der aktuelle Rahmenplan für das Rösselmühle-Areal ist offiziell noch nicht beschlossen. Dies ist einerseits ein Gewinn für jene, die eine breitere öffentliche Diskussion einfordern, andererseits ein Zeichen dafür, dass bisher weder ein gemeinsames Ziel noch eine tragfähige Kommunikationskultur etabliert wurde. Die nun neuerliche Diskussion verdeutlicht, wie weit die Standpunkte auseinanderliegen. Eine Teilnehmerin forderte, „ausschließlich Dinge zu bauen, die tatsächlich gebraucht werden“. Zwar müsse man auf private Eigentümer:innen Rücksicht nehmen, da diese entscheiden, aber den begonnenen Prozess müsse man auch zu Ende bringen und die Ergebnisse offenlegen. Vertreter:innen des Rösselmühle-Komitees stellten die Frage, wie Investoren die Vorteile kommunaler Funktionen im Gegensatz zu reinen Wohnnutzungen übersehen können und warum die städtischen Beteiligten nicht stärker gängige Investorenperspektiven infrage stellen. „Wo ist das Problem, wenn der Planungsprozess länger dauert?“, lautete eine der zentralen Fragen, verbunden mit dem Hinweis, dass ein Rückzug bisheriger Eigentümer:innen und Investor:innen eine Kauf- und damit Entwicklungsoption für die Stadt Graz eröffnen könnte. Architektin Andrea Redi ergänzte: „Wohnbau oder Prozente sind keine Qualitätssicherung. Reines Gewerbe aber auch nicht. Was fehlt, ist die Festlegung der Qualitäten, die in diesem Stadtteil gebraucht und gewollt werden.“ Bisher, so kritisierte sie, gebe es im Rahmenplan beispielsweise keine Aussagen zu alternativen Wohnformen oder Baugruppen, die gemeinschaftliche Qualitäten einbringen könnten. Eigentümerin des Areals ist die RöMü GmbH, eine von über 20 gesellschaften der ÖSW. Für die Rösselmühle verantwortliche Geschäftsführerin Birgit Leinich formulierte schon im Sommer 2025, dass sie „keine guten wirtschaftlichen und stadtplanerischen Alternativen zu einem qualitativ hochwertigen Wohnbau" sehe. Außerhalb der Erdgeschoßzonen wäre es wegen drohender Leerstände falsch, Büroraum zu schaffen, zitiert sie Der Standard im Juni. (2)
Die Entwicklung des Griesviertels steht exemplarisch für eine Stadtentwicklung, die über Jahre hinweg zwar innerstädtische Nachverdichtung betrieb, deren Auswirkungen auf Infrastruktur und Zusammenleben jedoch vernachlässigte. Dass zum Leben mehr als eine Wohnung gehört, müsste auch Stadtregierung, Planungsämtern und Investor:innen klar sein. Gesellschaft entsteht nicht in privaten Räumen; der öffentliche Raum und kommunale Angebote entscheiden mit, ob Integration gelingt und ein gemeinsames Zukunftsbild eine Chance hat. Für das Komitee Rösselmühle bedeutet das, dass weit mehr als die derzeit vorgesehenen 40 % Nicht-Wohnnutzung angestrebt werden müssten. „Was kann einem Investor Besseres passieren, als einen stabilen Langzeitmieter wie die Albert Schweitzer Klinik oder das Johann-Joseph-Fux Konservatorium zu bekommen“, erläutert Elisabeth Kabelis-Lechner, Sprecherin des Komitees. Wirtschaftlich, so ihr Argument, wäre dies für die private Eigentümerin und die ÖSW positiv, da die Flächen nicht auf dem übersättigten Grazer Wohnungsmarkt angeboten werden müssten. Laut profil stehen „in der 300.000-Einwohner-Stadt derzeit rund 3780 Wohnungen zur Miete" allein auf dem freien Markt zur Verfügung.(3)
Mehrere Stimmen fordern an dem Abend vehement den baulichen Erhalt der Rösselmühle und den vollständigen Ausschluss von Wohnen auf dem Areal. Ein vergleichender Blick auf den neu etnwickelten Stadtteil Reininghaus zeigt, dass Erdgeschoßzonen durch mangelnde Varianz in Funktion und Flächenangebot an den Bedürfnissen der Bewohner:innen vorbeigehen können. Leerstand ist die Folge. Im Gries hingegen besteht der Vorteil, dass die Stadtteilbewohner:innen bereits vor Ort sind und involviert werden können.
Die aktuelle Debatte um die Rösselmühle braucht als Antwort mehr als eine rein architektonische Vision. Ein von der Stadt initiierter Architekturwettbewerb im Anschluss an den Rahmenplan und zur Vorbereitung auf einen Bebauungsplan würde keine adäquaten Programme hervorbringen. Das politische „Wir warten ab, was nach dem Rahmenplan passiert“ wurde an dem Abend heftig kritisiert. Ob die politische Vertreterin, Gemeinderätin Alexandra Würz-Stalder, die Vizebürgermeisterin Judith Schwenter vertrat, vom Publikum in ihrer Argumentation für die abwartende Haltung der schrittweise agierenden Stadt richtig verstanden wurde, blieb unklar. Teilnehmer:innen der Podiumsdiskussion betonten, „dass ohne klare Entwicklungsszenarien, programmatische Ziele und definierte städtebauliche Qualitäten keine tragfähige Perspektive entstehen könne.“ Begriffe wie „Rahmenplan“ oder „Architekturwettbewerb“ dürfen daher nicht rein technische Instrumente bleiben, sondern müssten mit sozialen, kulturellen und ökologischen Leitbildern verknüpft werden. Dass die Stadt Graz nicht Eigentümerin der Rösselmühle ist, so ist man sich im Publikum einig, darf kein Argument für Passivität sein. Öffentliche Verantwortung endet nicht an Grundstücksgrenzen. Auch in privaten Entwicklungsprozessen müsse die Stadt klare Positionen vertreten, die das öffentliche Interesse, soziale Durchmischung und den langfristigen Mehrwert für die Stadtgesellschaft sichern. Im Gegensatz dazu, so der Vorwurf in der Diskussion, würde in Graz die Verantwortung weitgehend an private Eigentümer:innen delegiert.
Einen eindrucksvollen Vergleich bot der Vortrag von Renata Zamida, Direktorin des ROG Center in Ljubljana. Das ROG, ehemals eine verfallene Fabrik, wurde durch einen über zehn Jahre geführten Prozess zu einem lebendigen Ort kultureller und sozialer Produktion. Zentral war dabei das Vertrauen in Partizipation und der politische Wille, diese mit samt ihren Ergebnissen umzusetzen. „Bei uns hat es auch deshalb funktioniert, weil wir durch ein EU-gefördertes Pilotprojekt starten konnten. So konnten wir kleinere Interventionen und Umbauten relativ schnell realisieren." Die Stadt Ljubljana übernahm Verantwortung, initiierte Begegnungen mit den verschiedenen Stakeholdern, stellte Personal und Budget bereit und verstand Stadtentwicklung als langfristige Aufgabe. Zamida betonte: „Man muss eine funktionale Lücke füllen, die in der Stadt real ist. Einfach eine weitere Galerie oder ein paar Räume für Künstler:innen hätten in Ljubiljana nicht funktioniert.“ Das ROG arbeitet heute mit rund 18 Festangestellten, 30 Mentor:innen und einem Jahresbudget von etwa 1,5 Millionen Euro, das über Eigenmittel und Förderungen gesichert wird. So entsteht ein niederschwelliger Zugang für über 3000 feste Mitglieder und weitere Nutzer:innen. Zamida dazu mehrfach: „Der Erfolg entstand nur durch Konsens. Radikale Positionen verlieren, wenn sie sich nicht für die Bedürfnisse der Gegenseite interessieren.“ Auch im ROG-Center habe es verhärtete Fronten gegeben, doch die Stadt habe den Prozess moderiert und auf ein breites Nutzungsszenario gesetzt.
Die zentralen Fragen des Abends lauteten daher auch, was schlimm daran wäre, wenn sich die Entwicklung verzögert, der Eigentümer verkauft und die Stadt Zeit gewinnt, um ein tragfähiges Programm zu erarbeiten? Zeit kann in solchen Prozessen ein Gewinn sein, wenn sie genutzt wird, um über Inhalte, Bedürfnisse und Qualitäten zu sprechen, so auch Renata Zamida. Die Fixierung auf rasche Bauprozesse oder Investorenlogik führt dagegen häufig zu Fehlentwicklungen. Stadtentwicklung brauche die Bereitschaft, gegen kurzfristige Interessen zu argumentieren, so die Direktorin des Center ROG. Im slowenischen Beispiel spielte zudem die Presse eine wichtige Rolle: Sie machte Zwischennutzer:innen sichtbar, dokumentierte Argumente und hielt das Thema präsent. So entstand öffentlicher Druck, das Gebäude ohne private Partner zu entwickeln, und zugleich eine Balance zwischen radikalen Positionen und öffentlichen Bedürfnissen.
Die Erfahrung aus Ljubljana zeigt, dass Beteiligung kein kurzfristiges Event ist. Öffentliche Förderprogramme wie das europäische „New European Bauhaus“ könnten auch in Graz helfen, wenn die Stadt aktiv solche Förderschienen nutzt und internationale Kooperationen eingeht. Dann besteht die Chance auf jene Form von Stadt, die nicht nur gebaut, sondern gemeinsam gestaltet und gelebt wird.
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1. Informationsdialog Areal Rösselmühle und Postgarage, Auswertung der 2. Beteiligungsveranstaltung am 8. Jänner 2025 (abgerufen 27.10.2025) https://www.graz.at/cms/dokumente/10436574_8033447/80995630/Informationsdialog%20R%C3%B6sselm%C3%BChle%208.1.2025.pdf
2. Projekt Rösselmühle Graz: Wenn Mühlen langsam mahlen, Eric Frey, (abgerufen 27.10.2025), https://www.derstandard.at/story/3000000273633/wenn-m252hlen-langsam-mahlen
3. Mieter gesucht: Wohnungen in Graz stehen leer, profil, 21.10.2025 (abgerufen 27.10.2025) https://www.profil.at/wirtschaft/graz-wohnungsmarkt-mieten-wohnungspolitik/403095069