02/06/2025

Wien und Rom, zwei europäische Hauptstädte im Vergleich, zwei unterschiedliche Realitäten, erzählt von einem dreiköpfigen Kurator:innenteam, das in beiden Städten ein konkretes Element der menschlichen Existenz untersucht: das Wohnen. Also die Stadt.

02/06/2025

Innenhof, Space of Negociation, Agency For Better Living, Österreich-Pavillon, Biennale Architettura 2025, Installationsansicht

©: Hertha Hurnaus

Agency For Better Living, Österreich-Pavillon, Biennale Architettura 2025, Installationsansicht – Wien

©: Hertha Hurnaus

Eröffnung der Agency For Better Living im Österreich-Pavillon der Biennale Architettura 2025

©: Clelia Cadamuro

Die Kurator:innen der Agency of Better Living im Österreichischen Pavillon der Biennale Architettura 2025, (v.l.) Lorenzo Romito, Sabine Pollak und Michael Obrist

©: art:phalanx

Reumannhof in Wien 5, Margaretengürtel 100-110, errichtet 1924/26 von Architekt Hubert Gessner als städtische Wohnhausanlage

©: Gili Merin

Der Helmut-Zilk-Park ist ein ca. 70.000 m² großer Park im Sonnwendviertel  in Wien 10 auf dem ehemaligen Gelände des Frachtenbahnhofs Wien gestaltet von den Landschaftsarchitekten Hager Partner AG aus Zürich, 2014-2017.

©: Paul Sebesta

Was ist die Stadt? Historisch gesehen ist sie eine 10.000 Jahre alte Erfindung. Und William Shakespeare zitierend könnte man sagen: Was ist sie anderes als ihre Menschen? Ist die Stadt also der Traum vom inklusiven Leben? Jenseits unserer intimen Wünsche ist die Stadt ein architektonisches Aggregat; dieses prägt ihr äußeres Erscheinungsbild so stark, dass es tiefgreifende Eingriffe in die Gewohnheiten und in den Lebensstil ihrer Bewohner:innen bewirkt. Und sie ist eine wirtschaftliche und administrative Struktur, die mit ökologischen und historischen Konditionierungen verknüpft ist. Anders gesagt, die Stadt ist die Bildung einer vielfältigen kollektiven, im Laufe der Zeit durch langsame materielle und institutionelle Veränderungen modellierte Identität. Aber plötzliche ökologische und soziale Veränderungen bringen unsere Lebensweise ins Wanken. Wie können wir etwa den drastischen Klimawandel, den unser Planet erlebt, bewältigen? Wie die Massenmigrationen anderer Kontinente nach Europa auffangen? Und wie auf gesundheitliche Notfälle globalen Ausmaßes, wie sie kürzlich bei Covid aufgetreten sind, reagieren? Wir leben ein Chaos, das durch immer bedrohlichere Wirtschaftskrisen noch verschärft wird, im Bewusstsein, dass wir auf die vielen Umbrüche, die derzeit stattfinden, dringend reagieren müssen.

Dies ist das Thema, das Carlo Ratti, Direktor dieser Architekturbiennale 2025, für eine umfassende allgemeine Reflexion vorlegt. Und er ergänzt, dass neue Denk- und Handlungsweisen unumgänglich geworden sind, bei denen die Architektur eine zentrale Rolle spielt. Der Titel, den Carlo Ratti der Biennale gegeben hat, stellt alle Fähigkeiten infrage, die Technologie, Wissenschaft, Forschung verschiedener Bereiche und soziale Disziplinen wie die Ethik zu entwickeln imstande sind. Ratti selbst schlägt die Koordinaten für das große venezianische Event vor und wählt hierzu ein scharfsinniges und ausgeklügeltes Leitvokabular: Intelligens. Natural. Artificial. Collective.

Christine Müller hat mit den Kurator:innen des Österreichischen Beitrags zur Architekturbiennale 2025 in Venedig, Sabine Pollak und Michael Obrist über den Ausstellungsbereich WIEN gesprochen. 

Agency for Better Living, das klingt auf den ersten Blick nach einem Unternehmenslogo. Würden Sie die Bedeutung des Titels und den Sinn des darin enthaltenen Versprechens erklären?
Sabine Pollak (SP) Wir begreifen uns nicht nur als Kurator:inennteam, sondern auch als Agentur und haben die Verantwortung für eine Art Mandat übernommen, etwas tun zu müssen. 
Michael Obrist (MO) Einer Agentur kommt eine wichtige Vermittlerrolle zu, eben weil sie Verantwortung übernimmt, in unserem Fall ist diese gesellschaftspolitisch.

Sie vergleichen Wien und Rom, zwei Städte mit unterschiedlicher Stadt- und Sozialpolitik. Worum geht es dabei?
MO: Wir widmen uns der globalen Grundfrage des Wohnens, welches in den Städten nicht mehr leistbar ist. Einerseits verzeichnen wir gigantische Kapitalströme, die in die Städte als Investitionskapital fließen, und gleichzeitig investiert der Mittelstand in Vorsorgewohnungen oder ist Teil des Airbnb-Prozesses zur Ökonomisierung der Städte. Es gibt also viele außerhalb der herkömmlichen Wohnungsfrage tätige Player, die Wohnungen zu kommerziellen Produkten machen und Menschen verdrängen, die normales Stadtleben ausmachen. Wir versuchen, ein Narrativ zu finden, das auch die Pionier:innen der Wiener Stadtentwicklung einbezieht. Wien ist eine der wenigen Städte weltweit, der es ausgehend vom Roten Wien der 1920er Jahre gelungen ist, die soziale Wohnungsfrage zu lösen. Dieses Phänomen stellen wir Rom gegenüber, wo die Zivilgesellschaft der bedürftigsten Gemeinschaften gegen die jahrzehntelange Vernachlässigung durch die öffentliche Hand zu extremen Lösungen greift: Sie besetzt leerstehende und ungenutzte Räume und schafft es sogar, diese sozial anregend zu gestalten. 
SP: Wien stellt seit über 100 Jahren Wohnraum zu einem sehr günstigen Preis zur Verfügung. Wir nehmen das als gegeben hin, aber auch in Wien sind viele Zukunftsfragen offen, wie die generelle Wohnungsproblematik.

Inwieweit betrifft diese Situation des Ungleichgewichts die Architektur? 
SP: Architekti:nnen können dieses Ungleichgewicht nicht ignorieren, sie sind aufgerufen, eine Haltung dazu einzunehmen, indem sie die Politik sensibilisieren und die Vergangenheit als Beispiel heranziehen.

Wie entstand und entwickelte sich Ihre Zusammenarbeit für diese Biennale?
SP: Wir sind alle drei Architekt:innen und in das Thema Wohnbau involviert, arbeiten aber doch zu verschiedenen Schwerpunkten. Michael und ich sind in der Wohnraumproduktion und Lehre tätig. Auch Lorenzo Romito – in diesem Gespräch nicht anwesend – lehrt und er ist in viele Prozesse eingebunden, die mit der Aktivierung besetzter Räume zu tun haben und damit, wie diverse Kulturen darin gemeinsam leben. Er kommt aus einem künstlerischen, theoretischen Kontext. So vielfältige Kompetenzen wie die unseren stellen generell ein interessantes Modell dar, um die konventionelle Architekturproduktion neuen und angemesseneren Lösungen zu öffnen. Es geht darum, anthropologische Phänomene zu untersuchen und zu erforschen. 

Grundlage der Ausstellung ist die Gegenüberstellung zweier Schlüsselkonzepte: „top-down“ und „bottom-up“, also „von oben nach unten“ und „von unten nach oben“. Das erste bezieht sich auf Wien, das zweite auf Rom. In welcher Beziehung stehen diese gegensätzlichen Paradigmen zueinander? 
SP: Diese Unterscheidung haben wir anfänglich als Basis unseres Konzepts herangezogen, doch dann festgestellt, dass die beiden Konnotationen in Wirklichkeit nicht so streng zu trennen sind, denn auch in Wien sind Prozesse der Bottom-up-Aneignung bzw. des Co-Housing keine Seltenheit. Dennoch ist Wien die Stadt, die sich um ihre Bewohnerinnen sorgt, die Wohnraum zur Verfügung stellt. Und selbst in Rom sind illegale Hausbesetzungen kein alltägliches Phänomen; zum anderen gibt es dort auch geförderten Wohnbau. Die Begriffe vermischen sich also.

Wie kann man sich, unter Berücksichtigung der Probleme der Vergangenheit, die Zukunft der Wiener Wohngebiete vorstellen, angesichts aktueller Situationen wie Klimawandel und Massenmigration sowie der Integration unterschiedlicher Kulturen?
SP: Dank der Bodenpolitik der Stadt Wien, die Eigentümerin großer Grundreserven ist und auch weiterhin Baugründe ankauft, steht immer noch genügend Bauland zur Verfügung, um ähnlich großzügige Projekte gemeinsam mit Genossenschaften und Bauvereinigungen umzusetzen wie einst zur Zeit des Roten Wien, und auch heute im Sozialwohnbau leistbare Mieten sicherzustellen. Wien hat im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Städten die Wohnbauproduktion nie aus der Hand gegeben und ermöglicht Einkommensschwachen ebenso wie Familien des Mittelstands den Zugang zu einer Wohnung. Großzügige Quartiere mit unterschiedlichen Wohnbautypologien, wie etwa das Sonnwendviertel oder das Nordbahnhofareal, sind durchaus als eine Fortführung der einstigen Superblocks zu begreifen. Durch klimatische Veränderungen bedingt werden viele Wohnungen im Sommer aber fast unbewohnbar, Leidtragende sind vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen, hier sind Maßnahmen zu treffen. Eine weitere wichtige Frage ist die Größe des Privatraums, wenn es eine Kompensation mit Commons gibt, die gemeinsam nutzbar sind.
MO: In Bezug auf die Integration von Kulturen diverser Ethnien ist es interessant festzustellen, dass die besten Städte wie Rom das schon seit Tausenden Jahren tun. Bevor man sich fragt, wie Städte aussehen, geht es um das grundsätzliche Problem, wem sie gehören und wie die Räume verwaltet werden. Es gilt, flexible Gebäude zu entwickeln, die unterschiedliche Lebensweisen ermöglichen und aufnehmen.

Können wir in der Hoffnung auf ein „Better Living“ einigermaßen optimistisch sein?
SP: Wien zeigt bereits, dass Better Living machbar ist, wenn eine Stadt früh genug dafür sorgt, dass Wohnen nicht in Händen der Spekulation landet. Insofern hat Wien eine Vorbildwirkung. Wir sehen, dass es in Rom andere Formen gibt, wie Leute miteinander leben, wie sie sich eigenständig so organisieren, dass auch ein gutes oder besseres Leben entsteht. 
MO: Wien ist ein Ausnahmezustand, 2023 waren es 77 Prozent der Menschen, die unabhängig von deren sozialer Identität hier zur Miete lebten, das gibt es sonst nirgends. 

Findet in diesem Konzept eines „Better Living“ neben mehrheitlich sozialen Aspekten auch der Schönheitsgedanke Berücksichtigung? Ein neues Modell der Schönheit?
MO: Architektur hat natürlich immer mit Schönheit zu tun, aber das sind kulturelle Verhandlungen. Jede Zeit hat ihre Schönheitsbegriffe und genau das macht Gesellschaft aus, diese Unterschiedlichkeit in der Wahrnehmung. Wir treten das erste Mal in ein Zeitalter ein, in dem nicht der Denkmalschutz definiert, was abzureißen oder zu erhalten ist, sondern die Klimafrage. Und plötzlich ist der Bestand graue Masse, die man beseitigt oder energetisch umrüstet.

„Besser Leben“ ist das Bestreben aller, in einer immer komplexeren und chaotischeren Welt. Die Ausstellung thematisiert problematische Aspekte der heutigen Gesellschaft. Welche Situation gilt es Ihrer Meinung nach am dringendsten zu lösen? 
MO: Die Städte sind unser Lebensraum, dieser steht ökonomisch und klimatisch unter Druck. Es ist wichtig, hierfür ein Bewusstsein zu schaffen. Wir versuchen in der Ausstellung in Kapiteln zu zeigen, dass viele Fragen wiederkehren. Auch vor 100 Jahren gab es eine enorme Krise, mit den gleichen Phänomenen. Im Roten Wien war es die Wohnbausteuer, die Neues ermöglicht hat. Heute könnte Kapital aus einer anderen Besteuerung von Airbnb für die Immobilienentwicklung zum Einsatz kommen. Da Wien über 50 Jahre geschrumpft ist und die Einwohner:innenzahl nun durch die starke Zuwanderung wieder wächst, ist es notwendig, diesem neuen Bevölkerungswachstum so schnell wie möglich und mit einem einheitlichen Prozess zu begegnen. Es gibt allerdings einige hinderliche Aspekte: zu wenig Wohnraum, zu wenig Geld und zu viel Immobilienspekulation. Wir möchten die angesprochenen Probleme an die Öffentlichkeit bringen und das Recht auf Wohnen als Beispiel heranziehen, indem wir die Erfahrungen aus Wien und Rom zusammenführen.

Lesen Sie auch den 2. Teil der Gespräche mit dem Kurator:innenteam des Österreich Pavillons Agency for Better Living >>>

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